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Wie Rubens Barrichello eines der legendärsten Formel-1-Rennen aller Zeiten gewinnt

Johannes Mittermeier

Update 31/07/2015 um 13:20 GMT+2 Uhr

Am 30. Juli jährt sich eines der verrücktesten, kuriosesten und spannendsten Formel-1-Rennen der Geschichte zum 15. Mal. Der Große Preis von Deutschland 2000 sieht einen Sieger, der 123 Anläufe benötigt. Der "Fußgänger von Hockenheim" rächt sich an seinem Ex-Arbeitgeber Mercedes. Und Michael Schumacher kommt nur ein paar hundert Meter weit. Ein Blick in den Rückspiegel.

Rubens Barrichello wird von Mika Häkkinen (l.) und David Coulthard auf Schultern getrage

Fotocredit: Imago

In den Sekunden des Wahns japst TV-Kommentator Jacques Schulz nach Luft.
Das ist ein verrückter Fan! Das ist ja lebensgefährlich. Das gibt‘s ja nicht. Gelb dahinten. Der ist ja lebensgefährlich, da muss man etwas unternehmen jetzt. Ach, du lieber Gott! Da fahren die Piloten mit 350 Sachen vorbei und da steht ein Verrückter. Und das Safety Car wird kommen. Wegen des Fans. Safety-Car-Phase wegen eines Fans! Das glaube ich ja gar nicht, was ich sehe. Der... das... der läuft auch noch da drüber!
Willkommen zu den Schumacher-Festspielen
Im Jahr 2000 zirkuliert der Formel-1-Boom in Deutschland nahe seines Höhepunkts. Wobei es eigentlich kein Formel-1-Boom ist, der alle 14 Tage ein zweistelliges Millionen-Publikum in seinen Bann und vor die Bildschirme zieht, sondern Personenkult um einen damals 31-jährigen Rennfahrer aus Kerpen. Beim Grand Prix von Deutschland potenziert sich die Begeisterung in Hysterie, ein Meer aus Böllern, Fahnen und "Rotkäppchen" empfängt ihren Matador: Der Hockenheimring bittet zu den alljährlichen Schumi-Festspielen.
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Schumi-Mania: Das Motodrom feiert den PS-Helden

Fotocredit: Imago

Viermal hat es Michael Schumacher versucht, viermal hat es nicht gereicht. Im fünften Anlauf soll der ersehnte WM-Titel mit Ferrari her, es wäre sein dritter. Schumacher weiß nicht, dass das Jahresende die ultimative Erfüllung bereithalten wird, als er eine sommerliche Talsohle durchschreitet. Sein Vorsprung schmilzt. Bei den vorausgegangenen Rennen in Frankreich und Österreich kam er nicht ins Ziel, vor dem Auftritt in Hockenheim, dem elften Lauf der Saison 2000, weist Schumacher sechs Punkte Vorsprung auf McLaren-Mercedes-Pilot David Coulthard aus; dessen Teamkollegen Mika Häkkinen, dem amtierenden Weltmeister, fehlen zwei weitere Zähler.
Der Kurs in Baden-Württemberg ist noch diese High-Speed-Kathedrale mit dem Mythos der Windschattenschlachten, der sich aus den endlos scheinenden Vollgas-Passagen durch den Wald speist. Im Motodrom erwartet die Fahrer der Kontrast, eine Stimmung wie im Stadion, die die Einsamkeit der Geraden jäh beendet. Die Briten bezeichnen so etwas gern als "Anlage mit Charakter". Eineinhalb Jahre darauf rollen die Bagger an. Geld, Gier und Gigantismus begründen den Abstieg.
Im Motodrom setzt eine gespenstische Stille ein
Das letzte Juli-Wochenende des Jahres 2000 fällt ins Wasser. Sowohl im freitäglichen Training als auch im Qualifying am Samstag bittet Petrus zum Roulette. Coulthard krallt sich die Pole Position, Schumacher schiebt sich mit einer Chaosrunde auf Rang zwei, während Benetton-Mann Giancarlo Fisichella für die Überraschung sorgt: Dritter, vor Häkkinen. Dagegen hadert Rubens Barrichello im zweiten Ferrari mit der Technik - Platz 18, eine Position hinter Heinz-Harald Frentzen im Jordan, dem seine schnellste Zeit wegen Abkürzens einer Schikane gestrichen wird. Beide ahnen nicht, dass ihnen ein ereignisreicher Sonntag bevorsteht.
Sonnenstrahlen erwärmen die 100.000 Fans, als sich die 22 Monopostos mit wütendem Gebrüll in Bewegung setzen. Häkkinen erwischt einen Fabelstart und sprintet sogleich an die Spitze. Dahinter wird es eng. Und brisant. Noch am Vortag rügte Coulthard seinen ewigen Widersacher Schumacher wegen angeblich rücksichtslosen Fahrens - der Deutsche hatte Spurwechsel salonfähig gemacht. Als ob er mit barer Münze zurückzahlen will, zackt Coulthard prompt auf die Schumacher-Seite, um diesem den Weg abzuschneiden. Damit ist das Unheil programmiert - und Fisichella zur falschen Zeit an der falschen Stelle.
Als der Ferrari mit der Startnummer 3 in die Barriere rauscht, setzt im Motodrom eine gespenstische Stille ein. Ihr Idol ist draußen. Nach 400 Metern.
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Da ist es passiert: Michael Schumacher und Giancarlo Fisichella segeln ins Kiesbett

Fotocredit: AFP

"Er kann nicht einfach im gleichen Moment rüberfahren wie ich", echauffiert sich Schumacher über seinen Unfallgegner. "Aber vielleicht bin ich wieder der Schuldige. Das bürgert sich ja inzwischen ein." Fisichella bejaht: "Es war nicht mein Fehler. Er sollte aufhören, Zickzack zu fahren, dann wäre dieser Crash vielleicht nicht passiert..."
"Hast du den gesehen, den Streckenposten?"
Ohne den Team-Kapitän obliegt es Barrichello, die Ehre der Scuderia zu retten. Mit einer Zweistopp-Strategie und dementsprechend leichtem Wagen ins Rennen gegangen, kassiert der Brasilianer allein in der Startrunde acht Konkurrenten. In der Folge arbeitet er sich stetig nach vorne, vorbei etwa an Jacques Villeneuve (BAR), Jos Verstappen (Arrows) oder Eddie Irvine (Jaguar). Quasi im Parallelflug mit Frentzen - ebenfalls auf zwei Tankhalte ausgerichtet - schneidet der Ferrari durchs Feld, in Runde 17 ist er bereits Dritter, nach seinem Stopp bald Fünfter.
Das Rennen befindet sich in der 25. Runde. Gerade, als sich Barrichello auf der ersten Waldgeraden an den Arrows von Pedro de la Rosa ansaugt, registriert TV-Kommentator Schulz eine flüchtige Figur.
"Der steht da aber gefährlich", sagt Schulz und wendet sich an seinen Experten Marc Surer, einen ehemaligen Formel-1-Fahrer: "Hast du den gesehen, den Streckenposten?" Der Schweizer antwortet: "Vielleicht wollte er etwas aufheben. Kann sein, dass da etwas liegt, anders ist es nicht zu erklären, dass er da steht."
Das Fernsehbild schneidet um. In Großformat: ein Mann, gehüllt in ein weißes Regencape, das Aufschriften enthält. Schulz überreißt die Situation sofort. Und vor allem erkennt er, dass diese Gestalt alles ist, nur kein Streckenposten. Die Lage ist so ernst wie bizarr, und der TV-Mann fährt aus der Haut. Seine Tirade beschließt er mit den Worten: "Ich will nicht noch mehr schimpfen, aber das grenzt doch an... an... an... Irrsinn!"
Dem Verrückten gelingt sein Vorhaben
Es ist ein Skandal. Eine gehörige Portion Absurdität enthält er obendrein. "Das Hauptproblem war, dass ihn die Streckenposten wieder rausgelassen haben", zischt Niki Lauda hinterher. Tatsächlich war der Mann schon kurz vor dem Start auffällig geworden: Er hatte sich auf die Piste gelegt und musste von dannen geschleift werden. Wie er das Sicherheitspersonal ein zweites Mal überlisten konnte, wirft für den Veranstalter unangenehme Fragen auf.
Der "Fußgänger von Hockenheim" geht (im wahrsten Sinne) in die Formel-1-Geschichte ein. Es handelt sich um einen 47-jährigen Franzosen, der 20 Jahre bei Mercedes gearbeitet hatte, aus gesundheitlichen Gründen jedoch entlassen wurde. Der Protestmarsch sollte seinem Ex-Arbeitgeber schaden - ein Vorhaben, das vorzüglich gelingt.
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Im Dauereinsatz: Das Safety Car neutralisiert das Rennen

Fotocredit: AFP

Aus Angst vor einem Selbstmörder entsendet die Rennleitung das Safety Car. Während Jacques Schulz seinen Pulsschlag nur langsam reduziert ("Wolfgang, hörst du mich? Soll ich den noch mehr verurteilen?") und sich der Irrläufer bereitwillig abführen lässt, ist McLarens Riesenvorsprung zunichte. Coulthard muss gar eine Extra-Runde hinter dem Sicherheitsfahrzeug einlegen, weil zunächst Häkkinen an der Box abgefertigt wird. Ferrari zieht Barrichellos Service vor, hinter Häkkinen und Jarno Trulli im Jordan ist der Brasilianer Dritter. Mit verlockenden Perspektiven: Aus 34 Sekunden Abstand wurde Blickkontakt (zumal sich Trulli seiner Chancen durch Überholen unter Gelb beraubt).
Frentzens unbelohnter Mut
Das Rennen ist kaum wieder freigegeben, als Prost-Pilot Jean Alesi vor der dritten Bremsschikane mit dem Sauber von Pedro Diniz kollidiert. Räder fliegen, Alesi kreiselt umher und schlägt so heftig in die Leitschienen ein, dass er noch Tage später über Unwohlsein klagt. Erneut diktiert das Safety Car das Tempo. Und von oben kündigt sich die nächste dramatische Wendung an...
Zwölf Runden vor Schluss beginnt es zu regnen. Prasselnd. Allerdings bloß im Motodrom, die Waldgeraden der fast sieben Kilometer langen Strecke bleiben trocken. Leader Häkkinen zögert nicht lange und fasst Regenreifen auf, Coulthard kämpft mit der feuchten Stadionsektion, dann schlägt er unangemeldet vor seiner Crew auf - und hat Glück, dass die Mechaniker hellwach sind.
Der Grand Prix ist an Turbulenzen schwer zu überbieten. Reihenweise aquaplanieren sich die Piloten in die pitschnassen Wiesen des Motodroms, Irvine dreht sich dreimal binnen vier Kurven, die BAR kommen sich in die Quere. Derweil harrt Frentzen auf Trockenpneus an. Der Mönchengladbacher, bekannt für seinen sensiblen Gasfuß, liefert sich Duelle mit beiden McLarens und liegt auf Rang drei, als der Renngott unbarmherzig richtet: Elektronikdefekt. Sechs Runden vor der Flagge.
"...dann gewinnst du!"
Neben Frentzen ist Barrichello der einzige Vertreter der Spitzengruppe, der das Risiko auf Slicks wagt. Nachdem Häkkinen (für Regenreifen) und Trulli (zur Stop-and-Go-Strafe) in der Boxenstraße entschwinden, übernimmt er die Führung. Zur Erinnerung: Losgefahren war er von Platz 18!
Trockenreifen im Regen. Es ist ein Balanceakt der Extreme, ein Vabanquespiel. Die Zeit, die Barrichello im Wald gewinnt, büßt er im Motodrom ein. Teilweise bis zu sieben Sekunden. Andererseits kann Häkkinen nicht bedingungslos pushen, ansonsten würde er seine Sohlen auf den trockenen Stücken ruinieren. Ferraris Technikdirektor Ross Brawn funkt Barrichello ins Cockpit: "Bleib draußen. Wenn du diese Pace halten kannst, gewinnst du."
Gewinnen - ganz neue Aussichten für den Ex-Steward-Piloten. 123 Mal war er zu einem Formel-1-Rennen angetreten, nie wurde er als Erster abgewunken. Die Last der Erwartung, die der Brasilianer nach Ayrton Sennas Tod zu verspüren glaubte, hatte mehr gehemmt als gefördert. Deutlich. Barrichello wollte es Senna, seinem Vorbild und Freund, endlich gleichtun, er wollte ihn stolz machen und alle Landsleute auch. Deshalb war er 2000 zu Ferrari gewechselt, ins Reich des Königs Michael Schumacher. Und er hatte einsehen müssen, dass es nicht leichter geworden war bei der Scuderia, wo Schumacher den uneingeschränkten Herrschaftsanspruch erhob. Nun aber, in Hockenheim, ist er, Barrichello, die Trumpfkarte Ferraris. Eine einmalige Gelegenheit. „Ich dachte nur: Das muss es jetzt sein!“
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Erstmals Erster: Rubens Barrichello siegt in Hockenheim 2000

Fotocredit: AFP

Die letzte Runde wird „zur längsten meines Lebens“. Tröten und Trompeten begleiten ihn bei seiner Schleichfahrt im Motodrom. Das Volk tobt, obwohl nicht Schumacher am Steuer des roten Autos sitzt. 7,4 Sekunden vor Häkkinen überquert Barrichello den Zielstrich, dann ist es um ihn geschehen. Ohnehin hochemotional veranlagt, schluchzt und weint und schreit er unter dem Helm. Das Cockpit wirkt plötzlich wie ein Käfig, der ihn einsperrt. Barrichello will hinaus, ausbrechen, er will seine Freude und Gefühle teilen, mit allen. Soweit es die Gurte erlauben, hebt er seinen Oberkörper aus der Kanzel, winkt in die Massen. Ausufernd, ergreifend, ehrlich. Der erste Sieg ist der schwerste, heißt es. Und er ist der schönste. Jedenfalls bei Rubens Barrichello.
Gedanken an den Vater - und den verkauften Fiat
Hinter Mika Häkkinen und David Coulthard komplettieren Williams-Pilot Jenson Button (als 20-Jähriger in seinem Debütjahr) sowie Mika Salo (Sauber) und Pedro de la Rosa die Punkteränge. Aber alle Augen sind auf „Rubinho“ gerichtet. Es gäbe wohl keinen, der ihm diesen Erfolg missgönnt hätte. Im Parc fermé gratuliert Schumacher, bei der Siegerehrung heben ihn Häkkinen und Coulthard auf ihre Schultern. Ein selten erlebtes Zeremoniell in einem Sport, der so sehr auf Egoismus beruht.
Es ist der erste Formel-1-Sieg eines Brasilianers seit November 1993 durch Senna. „Ich möchte ihn Ayrton widmen, denn er hat mein Leben verändert. Es ist ein guter Tag, um an ihn zu denken", stammelt Barrichello. Mit brasilianischer Flagge betritt er das Treppchen, und noch bevor die einleitenden Takte der Hymne erklingen, kullern wieder dicke Tränen über seine Wangen.
Während der Auslaufrunde habe ich mir die Augen ausgeheult und mir geschworen, dass ich genug geweint hatte. Aber als ich auf das Podium stieg und in den Himmel schaute, fiel mir mein Vater ein, der früher einmal seinen Fiat verkauft hatte, damit ich weiterhin Kartrennen fahren konnte. Aus irgendeinem Grund ging mir das durch den Kopf, und ich bedankte mich beim Himmel dafür. Das war ein purer, ein echter Moment.
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