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Heinrich-Blog: Die Folgen der annullierten Weltrekorde durch den Leichtathletik-Weltverband

Sigi Heinrich

Update 09/05/2017 um 19:38 GMT+2 Uhr

Eurosport-Experte Sigi Heinrich bloggt über die Idee des Leichtathletik-Weltverbandes, alle Rekorde ab kommendem Jahr auf Null zu setzen. Das ist rechtlich und moralisch fragwürdig. Beginnt jetzt die gute Gegenwart und die noch bessere Zukunft liefert uns neue Rekorde mit blitzsauberen Athleten? Wirksamer als die Überlegungen neuer Rekordlisten wäre ein schlagkräftiges Antidopingprogramm.

Florence Griffith Joyner

Fotocredit: Getty Images

Jetzt wollen sie es also tatsächlich wirklich wissen. Ernsthaft. Ohne Zaudern. Der europäische Leichtathletik-Verband (EAA) und deren neuer, sehr agiler Präsident Svein Arne Hansen aus Norwegen, wollen einen Neustart wagen und dopingverdächtige Rekorde löschen.
Der Präsident des Leichtathletik-Weltverbandes (IAAF), Lord Sebastian Coe, will dann auch gleich auf den Zug aufspringen. Hört sich gut an. Eine Entrümpelungsaktion sozusagen. Wie ein Frühjahrsputz. Kein Stein soll diesmal auf dem anderen bleiben.

Boomerang für saubere Athleten?

Natürlich finden wir das gut, weil es ja zeigt, dass man im Kampf gegen Doping jetzt ein neues, scharfes Schwert schmiedet.
Es stellt sich indes die Frage, um welche Rekorde es geht. Am liebsten wäre allen ein totaler Neubeginn. An irgendeinem Datum. Der 1. Januar 2018 wurde etwa von Clemens Prokop, dem Präsidenten des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, in Spiel gebracht. Und dann?
Nehmen wir ein aktuelles Beispiel: Der Weltrekord im Speerwurf der Männer mit dem aktuellen Wurfgerät steht bei 98,48 Meter, geworfen am 25. Mai 1996 in Jena.
Streicht man diesen Rekord, würde das im Umkehrschluss ja heißen, dass man damit den Tschechen Jan Zelezny automatisch bezichtigen würde, diese Marke mit unlauteren Mitteln erzielt zu haben.

Müssen Rekorde angezweifelt werden?

Zweimal früher (1993) warf er schon über 95 Meter. Und nun schleuderte vor ein paar Tagen erst Thomas Röhler (aus Jena, welch ein Zufall), beim Diamond-League-Meeting in Doha den Speer auf 93.90 Meter. Deutscher Rekord, zweitbeste Weite jemals hinter Zelezny.
Müssten wir da jetzt plötzlich auch Zweifel anmelden? Kann man so weit werfen ohne zusätzliche Unterstützung?
Plötzlich würde - weil man auch an Zelezny zweifeln müsste bei einer Aberkennung seines Rekordes - ein über alle Zweifel erhabener Weltklasseathlet wie Röhler in Misskredit gebracht werden, nur weil er es geschafft hat, sein großes Ziel zu verwirklichen, was die Weite angeht: den deutschen Rekord von Raymond Hecht zu knacken.

Die Fabelzeiten der Florence Griffith-Joyner

Olympiasieger ist er ja schon. Ach ja Hecht: ehemals DDR. Die haben damals ja alle… Deshalb die Weite von Hecht aus dem Jahre 1995… Alle Rekorde also weg?
Im Westen hat man übrigens auch nicht nur zugeschaut. Florence Griffith-Joyners Fabelzeiten über 100 und 200 Meter. Klar fragwürdig. Beweise freilich hat es nie gegeben. Mike Powells 8,95 Meter im Weitsprung? Und was ist eigentlich mit Sebastian Baiers Halleneuroparekord von 8,71 Meter, den er vor acht Jahren in Turin sprang?
Alles wäre weg, gestrichen, getilgt. Ein Muster ohne Wert. Böse Vergangenheit. Jetzt beginnt angeblich die gute Gegenwart, und die noch bessere Zukunft liefert uns neue Rekorde mit blitzsauberen Athleten.

Athleten fühlen sich bestohlen

Geht eigentlich gar nicht. Powell regte sich schon zu Recht auf. Baier hat auch bereits sein Missfallen zum Ausdruck gebracht. Beide würden sich fühlen, als würde man sie Jahre später plötzlich um den größten Erfolg ihrer Karriere bringen. Man würde sie bestehlen.
Es ist rechtlich und moralisch fragwürdig bei vielen Rekorden, weil vielfach ja der Beweis eines Dopingvergehens nicht einmal im Ansatz vorhanden ist.
Und was wären die Folgen einer rigorosen "Stunde Null"? Es würde eine neue Rekordjagd geben, und viele würden alle zur Verfügung stehenden Mittel dafür ausschöpfen, um sich an die Spitze zu laufen, zu springen oder zu werfen. Dass neue Kriterien die Anerkennung neuer Rekorde begleiten würden, klingt gut, ist aber ein naiver Ansatz.

Aktionismus wegen Hilflosigkeit

Wirksamer als die Überlegungen neuer Rekordlisten wäre ein schlagkräftiges Antidopingprogramm. Eine nationenübergreifende und völlig unabhängige Antidopingagentur, die auch und sofort drastische Strafen aussprechen dürfte.
Die sich nicht beugen ließe und die weltweit von allen Sportverbänden autorisiert wäre, auch vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC).
Solange aber dopingverdächtige Clenbuterol-Nachtests nicht ernsthaft verfolgt werden, solange ehemalige Dopingsünder fröhlich weiter bei Meetings horrende Startgelder erhalten und ausgesprochene Sperren vom Internationalen Sportgerichtshof (CAS) verkürzt werden, ist und bleibt eine neue Rekordliste nur ein riesengroßes Feigenblatt.
Es ist purer Aktionismus, ausgelöst vor dem Hintergrund einer weiterhin vorhandenen Hilflosigkeit im Kampf gegen Doping. Das vermeintlich scharfe Schwert ist eine stumpfe Waffe.
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Fliiiiieg! Röhlers Rekord-Wurf in den Speerwurf-Olymp

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