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Lüttich-Bastogne-Lüttich: Die besten Geschichten zum ältesten Klassiker des Radsports mit Hinualt, Thurau, Winokurow

Andreas Schulz

Update 23/04/2023 um 11:55 GMT+2 Uhr

Über 120 Jahre ist Lüttich-Bastogne-Lüttich alt, damit hat sich der Ardennen-Klassiker den Ehrentitel "Doyenne" als ältestes Monument im Kalender mehr als verdient. Dass da an Anekdoten, Dramen und Kuriositäten kein Mangel herrscht, ist klar - hier unser "best of" mit Bernard Hinault, Didi Thurau, Frank Vandenbroucke, Eddy Merckx, Alexander Winokurow, Jacques Anquetil, Jean-Claude Leclercq & Co.!

Bernard Hinault, Lüttich-Bastogne-Lüttich 1980

Fotocredit: Eurosport

Epos bei Eiseskälte: Die Auflage 1980 ist sofort zur absoluten Referenz für unerträgliche Bedingungen und extreme Leidensbereitschaft geworden, getoppt nur noch von der Gavia-Etappe beim Giro 1988. Schon am Start in Lüttich ist es eiskalt, später setzt Schneefall ein.
Fahrer flüchten nach wenigen Kilometern in Bars und Kaffees, die Aufgaben kommen im Zehnerpack. Mit einer Hand am Lenker und der anderen als Schutz vor dem Gesicht fahren die verbleibenden Profis weiter.
Auch Bernhard Hinault (Bild oben) denkt über einen Ausstieg nach, doch ein Teamkollege treibt ihn bis zur Verpflegungszone. Danach fordert Cyrille Guimard aus dem Auto Hinault auf, die Regenjacke auszuziehen. Der gehorcht und kämpft gegen sein Frösteln dadurch an, dass er das Tempo erhöht. Fast ungewollt hängt er damit alle Fahrer ab und beginnt ein Solo durch die verschneiten Ardennen.
Ergebnis: Mit fast zehn Minuten Vorsprung gewinnt Hinault ein Rennen, das nur 21 Fahrer überhaupt beenden. Als Hennie Kuiper als Zweiter endlich ankommt, ist im Zielbereich schon fast keine Menschenseele mehr. Hinault aber kann noch heute die letzten Fingerglieder an zwei Fingern nicht mehr bewegen als Folge jenes Tages.
Der große Graben: Als ob "LBL" nicht schon schwer genug wäre, bauen die überforderten Organisatoren in die Auflage 1988 eine zusätzliche Schwierigkeit ein: Eine ungesicherte Baustelle, genauer einen Graben von einem Meter Breite und rund 30cm Tiefe, quer über die gesamte Straße. Die Streckenposten in Houffalize pennen und so rast das komplette Feld mit 60km/h ungewarnt auf die Gefahrenstelle zu.
Mit "bunny hops" versuchen die Fahrer, den Graben zu überspringen - aber das gelingt nicht jedem. Es endet in einem üblen Massensturz, Laurent Fignon verklagt danach die Veranstalter. Zwei Jahre später übernimmt die ASO die Organisation der "Doyenne".
"Sicherheitsglas" & "Porno-Brille": Rückblickend schwer zu sagen, was eigentlich übler aussah: Die ersten unförmigen Radhelme oder die als Sportbrillen verkauften 'Windschutzscheiben'. In jedem Fall aber ist Davis Phinney seinen Oakleys von 1988 noch immer dankbar. Denn den schwersten Sturz jenes Jahres verursacht nicht die ungesicherte Baustelle, sondern den liefert wenig später der US-Profi. Mit feiner Ironie schildert er die dramatischen Ereignisse in seiner Biographie:
Nach dem Massensturz jage ich mit Vollgas hinter dem Feld her, Kopf unten. Um mich herum hupen plötzlich wie wild die Motorräder - ich denke, sie wollen die Fahrzeuge warnen, dass ich heranfliege. Zu spät realisiere ich: Die wollen mich warnen! Denn da steht mitten auf der Straße ein Teamwagen, der einen Defekt bei einem seiner Profis behebt. Ich merke das erst, als ich mit dem Gesicht durch die Heckscheibe knalle. Dabei ist ein Sponsor jenes Teams doch ISO Glass (Sicherheitsglas)! Zum Glück trug ich diese überdimensionierte Oakley, sonst wäre ich mein Augenlicht los, als die Scheibe explodiert. Mein Teamkollege denkt, ich verblute.
Doch nach einer dreistündigen Operation mit 150 Stichen im Gesicht steht fest, dass der Vater von Taylor Phinney jede Menge Glück gehabt hat. Drei Monate später wird er bei der Tour schon wieder Zweiter im Kampf um das Grüne Trikot.
Der König ist noch nicht tot: Der Thron von Jacques Anquetil wackelt, als ein junger Italiener 1965 die Tour gewinnt und 1966 mit dem Sieg bei Paris-Roubaix nachlegt. Die Presse feiert Felice Gimondi und spricht von der Wachablösung. Das stinkt Anquetil gewaltig. Beim Klassiker in Lüttich, um den er sonst eher einen Bogen macht, kommt die Trotzreaktion. Mit über fünf Minuten Vorsprung erreicht er das Ziel im Velodrom von Roncourt nach einem grandiosen Solo.
Gimondi bleibt der 17. Rang, für Anquetil ist es der letzte ganz große Sieg. Als aber nach dem Rennen ein Kontrolleur den fünffachen Toursieger um eine Urinprobe für den Dopingtest bittet, wird er vom Normannen kalt abgefertigt: "Sie kommen zu spät! Sie können sich ja was vom Duschwasser nehmen, da ist alles drin." Anquetil wird disqualifiziert, aber später wieder als Sieger eingesetzt.
Sieg mit Ansage & Schlafmittel: Der Hype um Franck Vandenbroucke kennt vor der "Doyenne" 1999 kaum Grenzen. Der Belgier ist der große Favorit und macht keinerlei Hehl aus seinen Ambitionen. Im Gegenteil, er erzählt aller Welt schon im Vorfeld vollmundig, wo er am letzten Anstieg die entscheidende Attacke reiten wird. Und er setzt den Plan wortgetreu um - auf dem großen Kettenblatt lässt er bergan die Konkurrenz einfach stehen. Ekstatisch bejubeln die Fans ihren Helden. Doch Ekstase war eben auch ein Fachgebiet von "VDB".
Wie es im Cofidis-Team jener Jahre zuging, enthüllte später der damals noch unbedarfte David Millar. Mit einer riskanten Kombination aus Alkohol und Schlafmitteln amüsierten sich damals Teile der Mannschaft - und am Vorabend seines größten Sieges habe Vandenbroucke nach weit mehr als einer Handvoll Stilnox-Pillen kaum noch laufen können
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Franck Vandenbroucke 1999

Fotocredit: AFP

Die Rache des Einäugigen: Im Jahr 1977 gewinnt ein junger Bretone mit 22 Jahren Gent-Wevelgem und feiert damit seinen bis dato größten Sieg. Und das als Solist mit großem Vorsprung auf einem mit 17 Anstiegen gespickten Parcours. Doch die belgische Presse spricht vom Sieg des "Einäugigen unter den Blinden", weil die großen heimischen Stars auf den Start dort verzichtet hatten. Das lässt ein Bernard Hinault nicht auf sich sitzen. Bei Lüttich-Bastogne-Lüttich nimmt der "Dachs" Revanche und triumphiert gegen die versammelte Armada der belgischen Stars.
Hör' besser auf Deine Frau…: Wallonische Siege in Lüttich sind selten, umso mehr verzehrt sich Claude Criquielion als "local hero" nach dem Triumph beim Heimrennen. Doch Moreno Argentin erweist sich für ihn Mitte der 80er als unbezwingbar. Bis 1987 der Coup plötzlich greifbar nahe ist. Endlich kann er im Finale der Italiener abschütteln, nur noch begleitet von Stephen Roche fährt er in Lüttich ein. Dann beginnen die beiden zu pokern, verschleppen immer wieder das Tempo - blicken sich aber auch nach möglichen Verfolgern um. Lange ist nichts zu sehen, also spielen sie ihr Spielchen weiter.
Doch die Jäger sind näher, als sie denken. An der Strecke steht Criquielions Frau, die über das Radio hört, wie nahe Argentin und Co. dem Spitzenduo schon sind. "Criq" sieht seine Gattin zwar am Rande stehen, hört aber nicht so recht, was sie ihm zuruft. Doch als er sich das nächste Mal umdreht, sieht er das WM-Trikot heranrasen. Argentin fängt die beiden noch ab, die danach jahrelang nicht miteinander sprechen. Roche gewinnt zwar im selben Jahr noch Giro, Tour und WM - aber in seiner ganzen Karriere keinen großen Klassiker. Und Criquielion rennt bis zum Karriereende vergeblich dem Triumph in Lüttich nach. 1991, seinem letzten Profi-Jahr, wird er nochmals Zweiter - natürlich hinter Argentin.
Auf einem Bein: Sagt man ja manchmal so dahin, wenn's so richtig locker und leicht rollt. Aber locker und leicht sind Radrennen selten - und schon gar nicht 1892. Deshalb ist der Respekt vor Leon Houa, dem ersten Sieger des Rennens, umso höher, schließlich musste er die letzten zehn Kilometer seinerzeit nach einem Pedalbruch fast "einbeinig" absolvieren. Ok, er hatte im Ziel dennoch über zwanzig Minuten Vorsprung… Der Belgier siegte dann aber auch gleich noch in den nächsten beiden Jahren - und hätte es nicht erst 1908 die nächste Austragung gegeben, wäre er womöglich auch der einzige Fahrer geworden, der das Rennen vier Mal in Serie gewinnt.
Der Preis ist heiß: Hat er oder hat er nicht? Der zweite Sieg von Alexander Winokurow bei der "Doyenne" 2010 ist möglicherweise eines der Beispiele für gekaufte Triumphe. Bestätigungen über solche Deals sind allerdings noch weitaus seltener als Dopinggeständnisse. Doch der Bericht des angesehenen Schweizer Magazins "L'Illustré" vom Nikolaustag 2011 ist erschreckend & detailliert: Er zitiert aus Emails von Winokurow und seinem Fluchtgefährten Alexander Kolobnew, der in Lüttich nach langem gemeinsamem Ausreißversuch mit einigen Metern Rückstand Zweiter wurde. Kurz vor Mitternacht jenes Renntages schrieb der Russe seinem kasachischen Kollegen eine längere Email.
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Vinokourov Kolobnev

Fotocredit: Imago

Darin erinnert er "Wino" daran, welche grandiose Gelegenheit sich ihm da eigentlich heute geboten hätte und dass er sich nicht sicher sei, ob er richtig gehandelt habe. "Jetzt kann ich nur hoffen, dass ich das nicht vergeblich getan habe", so Kolobnew, der dann seine Bankverbindung in Locarno anfügt und warnt: "Lösch' diese Mail, sonst schneiden sie mir vielleicht die Eier ab!" Aus Monaco, dem Wohnsitz Winokurows, wurde im Anschluss tatsächlich Geld auf Kolobnews Konto überwiesen, es soll sich um nicht weniger als 100.000 Euro gehandelt haben. Beide Fahrer bestreiten den Deal öffentlich, das Magazin steht zu seiner Geschichte und der Echtheit der vorliegenden Emails.
Im Jahr 2019 spricht ein Lütticher Gericht die beiden Fahrer aus Mangel an Beweisen vom Bestechungsvorwurf frei - ein seltsamer Geschmack bleibt zurück.
Ein Pfiff mit Folgen: Eddy Merckx ist, wer sonst, der Rekordsieger der "Doyenne". Um ihn zu schlagen, greift die Konkurrenz zu fast jedem Mittel. Im Jahr 1970 kommt ein Sextett zum Velodrom, wo damals das Ziel liegt. Darunter auch das Brüderpaar Roger und Eric de Vlaeminck. Es geht durch einen kleinen Tunnel zur Rennbahn - und dort, abseits aller Blicke, kommt die Kriegslist zum Einsatz. Roger liegt an der Spitze, sein Bruder reiht sich hinter ihm ein. Mit einem Pfiff gibt Eric das Signal zur Attacke - und während Roger antritt, sperrt er im Nadelöhr die Verfolger. Merckx schäumt vor Wut.
Der verletzliche Kannibale: Ein Jahr später will er solch einem Hinterhalt aus dem Weg gehen. Früh attackiert er, erarbeitet sich einen enormen Vorsprung, sieht wie der sichere Sieger aus. Doch dann kommt Verfolger Georges Pintens immer näher, holt Minute um Minute auf. Als Duo kommen sie aufs Velodrom, wo Merckx mit einer Energieleistung doch noch siegt. Aber danach ist selbst der teils als "Übermensch" gefeierte Seriensieger so kaputt, dass er auf einem Stuhl sitzend duschen muss. "Das war mein härtestes Rennen", gesteht Merckx.
Strafrunde im Schneeregen: Wie hart Merckx für seine zahllosen Erfolge trainierte, zeigt exemplarisch die Episode, die sein Landsmann Patrick Sercu verriet: Der machte sich einst am Tag vor dem Rennen von Brüssel aus auf den Weg nach Lüttich. In jenem Jahr hatte Merckx zu seiner eigenen Enttäuschung den Flèche Wallone nicht gewonnen. Es ist Sauwetter, als Sercu und sein Vater im Schneeregen einen einsamen Radfahrer auf der verlassenen Straße entdecken. Es ist Merckx, der sich 100 Kilometer "Strafarbeit" auferlegt hat. Am Folgetag triumphiert er trotz oder wegen dieser Zusatzanstrengung in Lüttich.
Andere Länder, andere Sitten: Ganz übles Wetter bestimmt die Auflage 1957. Die Organisatoren bitten die Bewohner der Orte an der Strecke, die Kaffeemaschinen anzuwerfen und die Fahrer mit warmen Getränken zu versorgen. Diese pinkeln sich derweil unterwegs auf die Hände, um ein wenig Wärme in die Finger zu bekommen. Im Ziel kommen nur 15 von 107 Fahrern an, aber ausgerechnet der als Hitze-Spezialist bekannt Germain Derijcke feiert einen Solo-Sieg.
Doch sein belgischer Rivale Frans Schoubben will seinen zweiten Rang nicht akzeptieren und protestiert: Derijcke habe mit weiteren Fahrern an einem geschlossenen Bahnübergang nicht gewartet, sondern sei über die Schranke geklettert. Das war damals allerdings in Frankreich und Italien in Rennen erlaubt, in Belgien aber verboten. Es kommt zur Deklassierung des Siegers. Einige Tage später aber wird der Protest auf Anraten des Bosses von Schoubben zurückgezogen. Dessen salomonischer Lösungsvorschlag, beide als Sieger zu führen, wird übernommen.
Der Tankwart ist mein bester Freund: Diese Tankstelle vergisst Eric van Lancker nie. Noch heute, Jahrzehnte nach seinem Sieg 1990, zeigt er sie Fans und Fahrern. Die Zapfsäulen stehen in Sprimont, "und hier habe ich damals angegriffen", erinnert sich der Belgier wie heute. "Noch immer denke ich jedes Mal, wenn ich eine Tankstelle der Marke "Q8" sehe "Attacke!", verrät er - so tief ist die entscheidende Situation zu seinem Solo-Sieg in ihm verankert.
Was unser Eurosport-Experte Jean-Claude Leclercq in solchen Augenblicken denkt, kann man nur vermuten - er wurde damals nach über sieben Stunden in Lüttich Zweiter hinter van Lancker.
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Schachmann stürmt in Lüttich 2019 aufs Podium

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