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FC Bayern: Der Tod kommt leise

Michael Wollny

Publiziert 28/05/2015 um 16:03 GMT+2 Uhr

Es ist ein Drama. Schon lange. Jüngst wurde es zu einer Tragödie, die sich nun scheinbar in ihrem letzten Akt befindet: Der Überlebenskampf der Münchner Südkurve.

Eurosport

Fotocredit: Eurosport

Man muss sich in der Vergangenheit nicht intensiv mit Fankultur beschäftigt haben, um zu erkennen, dass man sich an der Isar Schritt für Schritt einer roten Linie genähert hat. Man muss Fankultur allerdings schon mit vollkommener Ignoranz und Gleichgültigkeit begegnen, um nun fröhlich über diese rote Linie hinweg zu latschen.
Was gerade in München passiert, ist ein beispielloser Eingriff in autark gewachsene Fanstrukturen. Es ist eine Operation am offenen Herzen, ohne Patientenverfügung und Vollnarkose. In chirurgischer Nüchternheit wird das Herz kurzerhand entfernt. Ein paar tiefe Einschnitte, dann ist Ruhe. Grabesstille.
Wo kein Herz, da kein Leben, keine Lebendigkeit. Operation gelungen, Patient tot! Sekt-Stößchen auf der Teppichetage.
Ausverkauft. Passt schon.
Dass als Folge nur noch Gästefans in der heimischen Touristenattraktion den Ton angeben – geschenkt! Die Hütte ist voll. Alles zahlende Kunden, alles richtig gemacht.
Das Aufsprengen des Stimmungsblocks in der Allianz-Arena durch die neue Drehkreuz-Selektierung und Kartenkontingentierung ist nicht die Konsequenz einer Nacht-und-Nebel-Aktion. Diese finale Eskalation hatte sich angekündigt, steht sie doch am Ende eines langjährigen und zermürbenden Grabenkampfes zwischen Vereinsführung und aktiver Fanszene.
Der Grund ist simpel. Moderne Fanarbeit ist komplex, anstrengend und bisweilen ermüdend, da sie sich nahezu ausnahmslos über dialogische Kompromissbereitschaft vorwärts bewegt. Nicht immer passt die subkulturelle Renitenz der Ultras in den renditeorientierten Business Plan der kickenden Wirtschaftsunternehmen.
Allerdings hat man in der Bundesliga mittlerweile tatsächlich erkannt, dass gerade die aktiven Fans für einen der wichtigsten "unique selling points" im europäischen Vergleich sorgen: die authentische Stadionatmosphäre auf den Stehrängen.
Die Erkenntnis kam spät und etablierte sich nicht ohne Konflikte, aber sie ist de facto real. Und so funktioniert in den meisten Klubs der konstruktive Austausch zwischen Klubführung und Fanbasis mit fachkompetenten Fanbetreuern. Es ist ein Wechselspiel zwischen Zuckerbrot und Peitsche, ein Spiel mit klaren Regeln und Sanktionen. Aber es ist akzeptiert und funktioniert.
Fragwürdiges Signal
Nicht so in München. Ein Fanbetreuer existiert bestenfalls auf dem Papier. Als Vermittler haben die Bayern mit Wolfgang Salewski lieber mal einen Terrorexperten engagiert. Als handle es sich bei der Südkurve um ein Rollfeld in Mogadischu. Unmissverständlicher und verstörender kann Symbolik kaum sein.
Beim FC Bayern scheint es per se an einem Mindestmaß an Grundwissen über eine gewandelte Fanlandschaft zu mangeln. Ob Ultra oder nur engagierter Fan, ob Familienvater oder Stadiontourist – es fehlt an Differenzierung bei der Frage, wer denn da überhaupt für diese "außergewöhnliche Atmosphäre" (Werbetext für Business-Seats in der Allianz-Arena) bei einem Fußballspiel Verantwortung übernimmt.
Das Stadion ist chronisch ausverkauft. Also ist alles in Butter. Zum Singen könne man ja niemanden zwingen, erklärt Karl-Heinz Rummenigge in achselzuckender Polemik. Dabei kennen sie sich mit Zwang als fanpolitisches Stilmittel in München eigentlich recht gut aus. Dass sich Gesang als Grundlage einer beeindruckenden Stadionatmosphäre traditionell aus freiwilliger Leidenschaft heraus entwickelt und sich eben diese Leidenschaft nun komplett aus der Arena verabschiedet, scheint niemanden nachdenklich zu stimmen.
Im Gegenteil. Zufriedenheit macht sich breit, denn alles läuft nach Plan. Den akustischen Terror aus lautstarken Gesängen und rhythmischen Klatscheinlagen hat Terrorexperte Salewski erfolgreich bekämpft, die "Taliban der Fans" (Maischberger) werden zerschlagen. Zündler, Pyro-Gegner aus dem Ultrà-Lager, aktive Allesfahrer - Differenzierung erscheint zu mühsam.
You only sing, when you're winning?
Da der Rest des Stadions traditionell nur jene Stimmung konsumiert, die die Südkurve erst kreiert, ist jetzt also endgültig Ruhe im Karton.
Für Salewski geht das ok und ist auch "keine Überraschung". Der "Fanexperte" des FC Bayern versucht erst gar nicht, die offiziell avisierte Zerschlagung des Münchner Stimmungsblocks zu Gunsten einer neuen Südkurve zu leugnen. Das gehe aber nicht von jetzt auf sofort: "Wir brauchen eine Übergangszeit, um den gesamten Block neu zu organisieren."
Dankbarkeit für jahrelange Treue und aufopferungsvolle Unterstützung quer über den Globus, für fantastische Choreografien im In- und Ausland? – Fehlanzeige. Im Gegenteil. Zur Krönung verlieren genau diese treuen Allesfahrer und Dauerkartenbesitzer im Kollektiv nun auch das Vorkaufsrecht für Auswärtsspiele in Pokal und Champions League.
Für Salewski und den FC Bayern ist die Gleichung zur Perforierung der aktiven Fanszene ebenso simpel wie erschreckend naiv: "Neue Leute, neue Lieder, dann baut sich da wieder was auf."
Herz raus, Klatschpappe rein: fertig ist Fan-Frankenstein!
Man muss kein Prophet sein, um zu erahnen, dass diese radikale Zäsur nicht ohne Echo bleiben wird. Die aktive Fanszene in Deutschland wird über die Gräben der Rivalität springen und sich mit den Münchner Exilanten solidarisieren.
Die Profis des FC Bayern werden somit die Konsequenzen dieses grotesken "Coups" im eigenen Stadion am lautesten zu spüren bekommen und ergo ausbaden müssen. Nicht nur durch übellaunige Gästefans, die den Ton angeben, sondern eventuell auch durch eine neue Südkurve.
Schließlich werden Zeiten kommen, in denen der Ball auf dem Rasen nicht mehr richtig rund laufen will und die zahlenden Kunden ihren für München berüchtigten Unmut zum Ausdruck bringen: über die Lippen durchs Fingerglied auf die eigene Mannschaft.
Und dann ist da plötzlich niemand mehr, der aus dem Süden lautstark gegen die Pfiffe ansingen mag...
Michael Wollny
Folgt dem Autor auf Twitter: @Michael_Wollny
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