Serie: Bundesliga-Vorschau, Hannover 96 - Graue Maus bleibt graue Maus

Der Großauftrag von Hannovers Vereinsboss Martin Kind hat es in sich. So eine Zittersaison wie beim Fast-Abstieg 2014/2015 darf diese Spielzeit nicht werden, forderte der Unternehmer. "Retter“ Michael Frontzeck ist als Reformer gefragt, der mit attraktivem Fußball Emotionen wecken und 96 zu einer nationalen Marke aufbauen soll. Die Niedersachsen stockten sogar die Personalkosten auf 40 Millionen Euro auf, um endlich das Graue-Maus-Image abzulegen.

Der Aderlass in der Offensive ist beachtlich. Kapitän Lars Stindl (Gladbach) weg, der Brasilianer Joselu (Stoke City) weg und Jimmy Briand (noch ohen Verein) auch weg. Allein diese drei Offensivkräfte haben zusammen 21 von Hannovers 40-Liga-Toren erzielt. Auch Leonardo Bittencourt (Köln), Didier Ya Konan (Fortuna Düsseldorf) und Ex-Nationalspieler Jan Schlaudraff (noch ohne Verein) wurden ausgemustert.

Die Generalüberholung der Offensive birgt ein großes Risiko. Frontzeck muss die neu verpflichteten Mevlüt Erdinc (St.Etienne), Felix Klaus (SC Freiburg), Dänemarks U21-Nationalspieler Uffe Bech (Nordsjaelland) und Charlison Benshop (Fortuna Düsseldorf) schnellstmöglich integrieren, aber ob diese radikale Frischzellenkur gut geht? Rechtsverteidiger Oliver Sorg vom SC Freiburg soll die Defensive verstärken.

Der große Mutmacher waren die Testspiele nicht - und das, obwohl 96 von bisher acht Begegnungen nur eine Partie verloren hat. Auf die vielversprechenden Siege kurz nach dem Trainingsauftakt - 1:0 gegen den AS Monaco und 5:3 nach Elfmeterschießen gegen den polnischen Erstligisten Lechia Danzig - folgten einige Enttäuschungen: 0:0 gegen den Drittligisten Preußen Münster, 1:1 gegen den spanischen Zweitligisten RCD Mallorca und eine weitere Nullnummer gegen den englischen Zweitligisten Hull City. Auch das 2:1 gegen den Oberligisten 1. FC Wunstorf, das 4:0 gegen eine Leinebergland-Auswahl und das 3:0 gegen den Landesligisten SV Ramlingen-Ehlershausen waren keine Offenbarung. Gegen Caykur Rizespor setzte es zuletzt eine 0:2-Niederlage.

Vor dem Pokalspiel am 9. August bei Hessen Kassel testen die Niedersachsen nur noch am 1. August gegen den Premier League-Klub AFC Sunderland.

"So einen Stress möchte ich nicht nochmal erleben“, erklärte 96-Boss Martin Kind. "Europa ist für uns aktuell kein Thema. Ziel ist ein Platz im sicheren Mittelfeld.“ Und das wird schwer genug. Auch Coach Frontzeck macht auf Bescheidenheit: "Das Team wird ein neues Gesicht bekommen.“ Bleibt die Frage: Wer wird DAS neue Gesicht seiner Mannschaft? Durch den Verkauf von Lars Stindl fehlt eine echte Leitfigur. Christian Schulz wurde zu Stindls Nachfolger als Kapitän gewählt und soll jetzt im Verbund mit Keeper Ron-Robert Zieler und Leon Andreasen die Lücke schließen.

Die Defensive mit der erfahrenen und eingespielten Achse Zieler, Schulz und Marcelo ist das große Plus der Niedersachsen. Neuzugang Sorg passt perfekt hinten rechts in die Viererkette. Frontzeck ist ein Freund des 4-2-3-1, das defensive Stabilität garantieren soll. Als Abräumer sind die routinierten Salif Sané und Manuel Schmiedebach vorgesehen, aber wie harmoniert Spielmacher und Standard-Spezialist Hiroshi Kiyotake mit dem designierten Sturmsolisten Mevlüt Erdinc? Und wie flügellahm wird 96 sein?

Die Niedersachsen müssen sich in der Offensive fast komplett neu erfinden und auch deutlich gefährlicher werden. In der vergangenen Saison machte Hannover nur aus 38% seiner Großchancen Tore - der zweitschwächste Wert der gesamten Liga. Zudem muss ein Nachfolger für Stindl gefunden werden – als Anführer, Vorbereiter und Vollstrecker.

Ein spielender Stürmer soll Mevlüt Erdinc sein, für den 96 3,3 Millionen Euro Ablöse an den französischen Erstligisten St. Etienne bezahlte. Der 28-Jährige ist in Frankreich aufgewachsen und hat 33 Länderspiele für die Türkei bestritten. Seine Schnelligkeit, Technik und Erfahrung sind ein Plus, seine Abschlusssouveränität ist die große Unbekannte. In der französischen Ligue 1 gelangen ihm in der vergangenen Saison nur acht Treffer, in der Europa League ging er leer aus. Ist das wirklich der Mann, der die Torflaute der "Roten“ beenden kann?

Frontzeck gilt nicht als der große Entwicklungshelfer einer Mannschaft - weder taktisch, noch mental. Eine stabile Saison in sicheren Tabellenregionen soll es werden - es droht eher eine weitere Spielzeit in der Gefahrenzone. Daran ändert auch die homogene Defensive wenig. Sein Graue-Maus-Image wird Hannover 96 jedenfalls nicht ablegen. Nicht mit diesem Trainer.