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Der LIGAstheniker: Zwischen Thomas Müller und Kevin Großkreutz - die biedere Debattenkultur der Liga

Thilo Komma-Pöllath

Update 06/03/2017 um 16:52 GMT+1 Uhr

Für den LIGAstheniker ist die "Großkreutz-Debatte" noch nicht beendet. Für Thilo Komma-Pöllath sind die Vergehen des Weltmeisters dessen Privatsphäre zuzuordnen. Einen "Skandal" mag er in der Stuttgarter Partynacht nicht erkennen. Des Weiteren erklärt der Autor, warum Thomas Müller unter Carlo Ancelotti weit weniger in der Startelf berücksichtigt wird, als unter seinem Vorgänger Pep Guardiola.

Kevin Großkreutz und Thomas Müller

Fotocredit: Imago

Als der Bundesliga-Spieltag gerade zu Ende war, verschickte "Die Mannschaft", formerly known as "Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft" am Sonntagabend einen possierlichen Tweet. "Ach Mist", hieß es da. "Also wohl auch kein Einsatz beim Länderspiel gegen England in Dortmund. Komm schnell wieder auf die Beine." Versehen war der Tweet mit dem Hashtag "Woodyinho".
Der da so liebevoll Vermisste ist Marco Reus, gemeint sein Muskelfaserriss gegen Leverkusen. Ich erzähle das hier nur deshalb, um zu zeigen, wie man mit Sündern auch umgehen kann. So mitfühlend und so gar nicht gehässig. Wenn man nur will.
Bei Kevin Großkreutz wollte man nicht.

Assi und Supi!

Wenn man die Interpretationshoheit der wichtigeren Bundesliga-Themen aus den letzten zwei Wochen etwas holzschnittartig zusammenfassen wollte, dann würde sich ungefähr folgendes Bild ergeben:
Warum spielt der Müller nicht? Geht gar nicht, unverschämt, dieser total sympathische bayerische Lokalheld und Gaudibursch? Was erlauben Ancelotti!
Der Großkreutz, die Sau! Erst in eine Hotellobby pinkeln und jetzt lässt er sich auch noch vor einem Puff verprügeln. Der muss weg, dieser Assi!
Wir sind wieder wer im Reich der Mitte! Die Bundesliga, unter allen europäischen Ligen, die Nummer 1 im chinesischen Internet. Supi, jubelt die DFL.
Klingt irgendwie witzig, wo doch immer von Zensur die Rede ist beim bösen Chinesen. Aber witzig oder gar ironisch war das alles natürlich gar nicht gemeint.

Ligadiskurs, der weh tut

Es ist sogar so: Das Diskursniveau im deutschen Profifußball tut richtig weh. Nehmen wir nochmal Großkreutz und die Gründe, warum der VfB Stuttgart ihm die Vertragsauflösung nahegelegt hat. Der ziemlich bekannte Anwalt Ralf Höcker (Heidi Klum und so) hat das so zusammengefasst:
1. Großkreutz soll in seiner Freizeit angetrunken gewesen sein - arbeitsrechtlich unproblematisch, Freizeit ist privat; 2. Er soll in der Nähe des Rotlichtviertels unterwegs gewesen sein - ebenfalls unbedenklich, weil Privatsache, selbst wenn er IM Rotlichtviertel war; 3. Er hat minderjährige Jugendspieler auf eine Oberstufenparty begleitet - vorbildlich, oder hätte er als Erwachsener sie lieber alleine losziehen lassen sollen? Und 4. Er hat eine aufs Maul gekriegt und ein Selfie davon gemacht - das war dumm, sagt der Anwalt. Mehr aber auch nicht.
Höcker glaubt, dass man Großkreutz’ Vertrag gar nicht kündigen könne, wenn der nicht zustimme. BILD, kicker und FAZ sahen die Vorbildfunktion des Fußballs in Gefahr und echauffierten sich über den "Skandal", den ich einfach nicht zu erkennen vermag.

Großkreutz raus, Müller rein

Im gleichen Atemzug erregt sich die zornige Fußball-Journaille, dass es "nicht mehr müllert" (schon wieder die FAZ). Der Großkreutz soll nie mehr spielen, der Müller muss immer spielen, das ist der Tenor. Warum beides im selben Tonfall miteinander vermanscht wird, ist unklar. An der Grundregel, im Fußball stellt der Fußballtrainer eine Fußballmannschaft auf, daran hat sich auch in der Fußball-Bundesliga noch nichts geändert, richtig?
Die umfassende Antwort ist so kurz wie simpel: Der Müller müllert nicht mehr, weil der Trainer einen anderen für besser hält und er ihn deshalb nicht aufstellt. Man möchte es kaum glauben, aber vertraglich darf er das. Genau das (also das Vertragliche) ist eben der Unterschied zu Großkreutz. In beiden Fällen offenbart sich ein biederer Auswurf von Political Correctness, der sich - im Sinne der 50er Jahre - nach tugendhaften, charakterlich einwandfreien, lokal verorteten Sympathieträgern sehnt, die es im globalisierten Millionenspiel schon lange nicht mehr gibt.

Großkreutz raus, Ribéry rein

Vielleicht ist ja angesichts des sich ausbreitenden nihilistischen Tremolos viel interessanter, worüber die Liga sich gar nicht erst erregt, ja nicht einmal diskutiert? Und warum? Wie es denn sein kann, dass der erfolgreichste und wichtigste deutsche Fußballklub und damit DAS Aushängeschild der DFL für das Reich der Mitte und überall sonst, der FC Bayern, von zwei vorbestraften Steuerhinterziehern (Rummenigge, Hoeneß) geführt werden darf? Eine Diskussion darüber hat es nie gegeben, auch jüngst nicht, als Uli Hoeneß nach seiner Haftsstrafe wieder Präsident und Aufsichtsratsvorsitzender wurde, so als wäre nie etwas gewesen.
Also nochmal: Ein Steuerhinterzieher darf an vorderster Front den Aufseher geben, ein geprügelter Puffgänger auf dem Rasen aber nicht gegen den Ball treten? Als vor Jahren bekannt wurde, dass Bayerns Franck Ribéry mit einer minderjährigen Prosituierten Sex gehabt haben soll und in Frankreich der Staatsanwalt aktiv wurde, da bellte jener Uli Hoeneß die nachfragenden Journalisten zusammen, dass doch auch diese nicht nach dem Alter der Damen fragen würden, wenn sie selbst ins Puff gingen. Hat er diesen wirklich so unterstellt. Die Kollegen waren perplex, von Konsequenzen der Bayern gegen ihren französischen Star ist bis heute nichts bekannt. Warum also Großkreutz?

Verzichtbar!

"Ach, Mist aber auch!" Unser armer Woodyinho wird also fehlen gegen England. Nicht, weil er jahrelang ohne Führerschein und mit gefälschten Papieren unterwegs war und nur Gott weiß, wie gefährlich das für die anderen Verkehrsteilnehmer war. Bundes-Jogi hat damit kein Problem, von wegen Vorbild und so. Sein Punktekonto in Flensburg war auch schon mal notorisch belastet.
Warum also Großkreutz? Ganz einfach. Er ist nicht Hoeneß, nicht Reus, nicht Müller. Er ist verzichtbar. Deswegen Großkreutz.
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