Opinion
RadsportStürze zeigen Systemversagen: Ein Kommentar von Sigi Heinrich
Update 19/08/2020 um 18:13 GMT+2 Uhr
Nach den schweren Stürzen im Radsport und der Schock-Szene beim MotoGP-Rennen fordert Sigi Heinrich die Sportler zu mehr Mut in eigener Sache auf. Nur immer nach einem dramatischen Ereignis kurzzeitig Konsequenzen zu fordern, sei zu wenig - es fehle an Athletenvertretern, die mit Nachdruck die Interessen der Profis durchsetzen könnten und an geschlossenen, wirksamen Protestaktionen.
Ein Kommentar von Sigi Heinrich
Auch Legenden sind nur aus Fleisch und Blut. Wie Valentino Rossi, der seit 20 Jahren fest im Sattel seiner Motorräder sitzt und dabei neun Mal Weltmeister wurde. Und man denkt sich: Diesen Helden auf zwei Rädern kann nichts mehr erschüttern. Doch nach den Rennen in Spielberg sah man ihn leichenblass und in Schockstarre. Rossi kam nur durch eine gütige Fügung des Schicksals mit dem Leben davon. "Jeder von uns sollte heute Abend ein Gebet sprechen, egal zu wem", sagte er, nachdem er im Ziel die Bilder der Beinahe-Katastrophe gesehen hatte.
Und er mahnte: Man müsse wieder mehr Respekt voreinander haben. Zudem kritisierte er, wie andere Kollegen auch, die Strecke in Spielberg, die nicht mehr zeitgemäß sei. Die Kritik kam hinterher, nachdem er so langsam wieder Farbe ins Gesicht bekommen hatte. Hinterher.
Ähnlich waren die Reaktionen der Kollegen, die ohne Motor nur dank ihrer Muskelkraft und Ausdauer auf zwei Rädern unterwegs sind. Auch im Radsport ist der Ärger groß nach den Sturzorgien bei der Polen-Rundfahrt, der Lombardei-Rundfahrt und beim Etappenrennen Critérium du Dauphiné. Schwere Stürze am Fließband bedeuten für viele das Ende dieser Saison, ehe sie so richtig begonnen hat. Und auch hier sind die Reaktionen ähnlich wie in der Motorradszene. Die Streckenführungen seien unzumutbar, heißt es. Dazu würden sich gravierende Sicherheitsmängel gesellen, was die Absperrungen betrifft. Hinterher. Auch hier alle Kommentare hinterher.
Athletenvertreter als Feigenblatt
Die Protagonisten ihrer Sportarten, die Hauptdarsteller, die Athleten, mutieren zum willfährigen Spielball wirtschaftlicher Interessen und sind zumeist ohne Stimme. Manche Verbände (wie FIS und IBU im Wintersport) schmücken sich mit Athletenvertretern, die indes nicht mehr als ein Feigenblatt sind - nach dem Motto: Aber wir hören euch doch zu. Einmal im Jahr bei irgendeinem Kongress vielleicht. Recht viel intensiver ist die Zusammenarbeit in den seltensten Fällen.
Aber jetzt den schwarzen Peter einseitig nur auf die Organisatoren und auf die internationalen Verbände zu schieben, wäre zu einfach. Mit mehr Eigenverantwortung hätten es alle Sportler selbst mit in der Hand, egal ob Sommer oder Winter, nicht nur einen Finger in die vielen Wunden zu legen.
Natürlich ist leichter, eine Skiabfahrt zu sichern als eine Radstrecke über hunderte Kilometer. Und logischerweise kann kein Radprofi vorher jeden Meter inspizieren, um mögliche Schwachstellen aufzudecken. Aber die Fahrer müssten, wie im Skisport etwa schon seit vielen Jahren gängige Praxis, wenigstens einen eigenen Renndirektor fordern. Einen, der ihre Interessen vertritt. Einen, der grünes Licht geben oder die Ampel eben auch auf Rot stellen kann. Mutig und mit allen Kompetenzen ausgestattet.
Eben auch mal gegen die Rennställe, die Fernsehpräsenz benötigen und gegen die Sponsoren, die manchmal nur nach außen hin so tun, als würden sie die Athleten schützen wollen. Die sollen gefälligst fahren, dafür werden sie bezahlt. Natürlich argumentiert man so nur hinter vorgehaltener Hand.
Egoismus vor Gemeinwohl
Aber letztlich, das ist die traurige Erkenntnis, siegt meist der Egoismus - auch bei den Aktiven - über das sportliche Gemeinwohl. Es gibt so gut wie nie in strittigen Fällen eine echte Solidarität oder gar geschlossene, wirksame Protestaktionen. Jeder ist sich sehr schnell selbst der Nächste. Und dabei kann in vielen Fällen das wichtigste Gut auf dem Spiel stehen: Die Gesundheit und mithin der Fortbestand der Karriere, die zudem einer zeitlichen Begrenzung unterliegt.
Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich mir denke, man müsste die Sportler mal an der Schulter packen und sie durchschütteln, um ihnen zu sagen, dass sie im Grunde an den Schalthebeln der Macht sitzen. Macht was draus. Vorher. Es geht um Euch. Es ist euer Leben.
Hinterher lamentieren ist keine Lösung, denn hinterher ist es meist oder fast immer zu spät.
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Zur Person Sigi Heinrich:
Der renommierte Sportjournalist, Buchautor und vielfach ausgezeichnete Eurosport-Kommentator Sigi Heinrich widmet sind in seinen Blogs der gesamten Vielfalt des Sports inklusive der komplizierten Mechanismen der Sportpolitik. Mal sehr ernsthaft, mal mit einem verschmitzten Augenzwinkern und manchmal auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle was dabei sein.
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