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John Degenkolb exklusiv: "Grünes Trikot keine Option für Marcel Kittel und mich"

Andreas Schulz

Update 12/06/2015 um 18:47 GMT+2 Uhr

Nach seinen beiden Klassiker-Triumphen im Frühjahr hat John Degenkolb auch für die Tour de France große Ziele. Das Grüne Trikot aber gehört nicht dazu. Die Gründe dafür erklärt er im Exklusiv-Interview, in dem er auch den besonderen Teamgeist bei Giant-Alpecin, die Arbeit am Idealgewicht und eine mögliche Ehrung als "Sportler des Jahres" spricht.

John Degenkolb (Giant-Alpecin)

Fotocredit: Imago

Mit etwas Abstand zu den Triumphen bei Mailand - Sanremo und Paris - Roubaix: Haben Sie die Tragweite dieser Erfolge inzwischen so richtig realisiert?
Degenkolb: Je länger es her ist, desto mehr realisiert man das, aber es fühlt sich ehrlich gesagt immer noch extrem komisch an. Man hat über Jahre hinweg versucht, einfach alles zu tun, um bei den ganz großen Rennen vorne mit dabei zu sein – und auf einmal schwuppdiwupp, von einem Jahr aufs andere, hat man zwei große Monumente gewonnen!
Klar war ich letztes Jahr in Roubaix auch schon vorn dabei und hatte das Gefühl: Du hast das Zeug dazu, aber die anderen müssen Dir in die Karten spielen. Das war letztes Jahr nicht der Fall, deshalb bin ich am Ende mit dem zweiten Platz abgespeist worden, was aber nicht dazu geführt hat, dass ich irgendwie enttäuscht gewesen wäre: Ich war wahnsinnig glücklich über diesen zweiten Platz.
Dieses Jahr habe ich einfach noch einmal den nächsten Schritt gemacht. Es kam alles zusammen, es war wie ein großes Puzzle, das sich zusammengefügt hat.
Ich will da auch unbedingt die Geburt meines Sohnes ansprechen: Das war der bewegendste Moment in meinem Leben und hat Kräfte in mir freigesetzt. Man sieht das Leben von einem ganz anderen Blickwinkel aus!
Dann gewinne ich Sanremo und das gibt einem so einen Motivationsschub. In Roubaix habe ich dann gespürt: Wenn Du jetzt nichts unternimmst, wird es wie letztes Jahr – also habe ich gesagt: Ok, ich probiere es und fahre los. Jetzt sagt jeder: Hat der Degenkolb ja so machen müssen! Aber so einfach ist es nicht, die Entscheidung zu treffen und auch die Beine dazu zu haben. Es hat alles zusammengepasst – unfassbar. Das nimmt mir niemand mehr, ich werde für immer der Sieger von Roubaix und Sanremo bleiben.
Gab es besondere Glückwünsche oder Gratulanten, die Sie überrascht haben?
Degenkolb: Ich war sehr beeindruckt, als ich auf dem Weg ins Morgenmagazin war und mich in Köln am Bahnhof von hinten jemand anspricht und anstupst und sagt "Glückwunsch zum Sieg in Sanremo" - und dann hat sich herausgestellt, dass das Matthias Steiner war, der Gewichtheber. Ein Olympiasieger, der wahnsinnig bekannt ist, verfolgt also auch den Radsport und fiebert am Fernseher mit – da war ich wirklich beeindruckt und das hat gutgetan.
Bei der Siegerehrung in Roubaix sind ihre Teamkollegen extra im Innenraum geblieben und nicht schon zum Mannschaftsbus weitergefahren – das war ein tolles Bild: Der Beweis für den wirklich besonderen Zusammenhalt des Teams?
Degenkolb: Das war wirklich ganz speziell. Wenn ich daran denke, kriege ich jetzt noch Gänsehaut. Ich fand es so schön, dass die Jungs da noch standen und die Siegerehrung mitverfolgt haben, einfach den Moment live sehen wollten, als ich den Stein bekommen habe. Deshalb war es mir auch so wichtig, dass sie alle nochmal aufs Podium hochkommen und wir ein gemeinsames Foto machen. Es war ein bisschen schade, dass die letzten zwei gefehlt haben, die waren da noch auf der Strecke, aber das Bild geht in die Geschichte ein.
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Paris-Roubaix 2015: Giant-Alpecin jubelt mit John Degenkolb

Fotocredit: AFP

Es war wahnsinnig emotional und toll zusehen, dass die Mannschaft nicht nur in der Vorbereitung und im Rennen hinter einem steht, sondern auch in dem Moment dabei sein will, in dem der Lorbeer verteilt wird und ich den Stein überreicht bekomme. Das zeigt auch den Charakter dieser Mannschaft und ist etwas ganz besonderes.
Stichwort Tour: Etliche Teilstücke scheinen fast maßgeschneidert für Sie, nicht nur die Pavé-Etappe, sondern auch jene zur Mur de Bretagne…
Degenkolb: Ja, aber wenn die Strecke so wäre wie bei der Ankunft vor einigen Jahren (2011), wäre es schöner. Die Anfahrt ist jetzt anders: Damals kam man mit relativ viel Speed an den Anstieg, jetzt geht es aber vorher noch einmal um die Kurve. Mein Teamkollege Warren Barguil wohnt dort und sagt, es könnte tricky werden. Ich bin aber als Rennfahrer stärker und erfahrener geworden und sehe da schon eine Chance und schreibe die Etappe nicht ab.
Insgesamt gibt es wesentlich mehr Chancen für mich als in den anderen Jahren. Als echte Massensprints stechen einem bei dieser Tour nur drei Etappen sofort ins Auge, auch wenn an anderen Tagen auch eine große Gruppe ankommen kann. Doch fünf, sechs, sieben Massensprints wie sonst – das ist dieses Jahr nicht der Fall. Das spielt mir definitiv in die Karten.
Thema Grünes Trikot: Im neuen Reglement gibt es noch mehr Punkte für Etappensiege und größere Punktabstände zu den Nächstplatzierten: So wie Sie die Etappen auch schon durchgezählt haben, wäre da doch für Sie viel möglich: Ist das ein großes Ziel oder soll erst der Bann bei den Etappensiegen gebrochen werden?
Degenkolb: Ich glaube auch, dass ich mich erst einmal darauf konzentrieren sollte. Die Tour ist ein anderes Level, nochmals eine andere Ebene. Ich wünsche mir, dass ich diesen Sprung dieses Jahr schaffe. Das würde auch für meinen Bekanntheitsgrad in Deutschland noch einmal einen wahnsinnigen Schub bedeuten. International sind die beiden Rennen, die ich gewonnen habe, viel höher als so ein Etappensieg angesiedelt. Aber bei uns ist die Tour de France einfach das Nonplusultra. Das kann leider auch ich nicht ändern, aber deshalb ist der Etappensieg auch so ein großes Ziel.
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John Degenkolb im Grünen Trikot bei der Vuelta 2014

Fotocredit: AFP

Grün spielt in dem Sinne dieses Jahr noch keine Rolle, weil einfach auch Marcel Kittel mit dabei ist. Das ist ein Thema, das ich nicht verschweigen möchte und wir sind uns da auch einig: Wenn wir zusammen am Start sind, dann spielt es für keinen eine Rolle. Es ist einfach so: Man kann im Kampf um Grün keinen einzigen Punkt verschenken und wenn ich für Marcel fahre, dann kann ich nicht auf eigene Punkte fahren, das geht einfach nicht.
Heißt das, Ihr Team wird sich wie in den letzten Jahren auch gar nicht in die Zwischensprints einschalten, bei denen es ja sehr viele Punkte zu holen gibt, und für das Grüne Trikot nur Zähler bei den Etappenankünften sammeln?
Degenkolb: Ich denke, dass es einfach keine Option ist - weder für Marcel noch für mich dieses Jahr. Wenn wir zu zweit bei der Tour am Start sind, dann wird es nicht so sein, dass einer von uns beiden auf Grün fährt.
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Marcel Kittel & John Degenkolb

Fotocredit: Imago

Bei Giant-Alpecin ist die Ausgangssituation in diesem Sommer ja nicht nur eine Doppelspitze wie sonst bei der Tour, sondern mit Tom Dumoulin und Warren Barguil fordern zwei weitere Top-Fahrer ihr Recht ein. Was können wir vom Niederländer und Franzosen erwarten?
Degenkolb: Für Tom ist der Auftakt in Utrecht ein perfektes Heimspiel – ich traue ihm dort im Zeitfahren extrem viel zu. Die Distanz ist super für ihn und er könnte da durchaus auch den Sieg holen. Warren wiederum hat bei der Vuelta schon gezeigt, was er in den Bergen kann und ist extrem heiß auf seine Tour-Premiere. Dabei sollte er sich aber nicht mit Blick auf die Gesamtwertung verrückt machen lassen, sondern eher seine Chance auf Etappensiege suchen.
Nach der Tour ist die WM noch das große Ziel, der Kurs in den USA sollte ihnen liegen. Wie wird da der Fahrplan aussehen?
Degenkolb: Tendenz ist, wie auch im letzten Jahr, die Vuelta zu fahren, aber endgültig entschieden ist das noch nicht. Mir persönlich tut es gut, nach der Tour noch einmal eine Pause zu haben und mich dann über die Spanien-Rundfahrt auf die WM vorzubereiten. Man wird sehen, ob ich die ganze Vuelta fahren würde oder schon früher nach Richmond fliege. Die Zeitverschiebung ist nicht allzu extrem mit „nur“ sechs Stunden, deshalb muss man nicht unbedingt schon zwei Wochen vorher dort sein.
Manche Experten trauen Ihnen auch Siege bei noch schwereren Klassikern, wie etwa in Lüttich, zu – ist das realistisch?
Degenkolb: Ich weiß es nicht. Man muss sehen, ich bin 26 Jahre alt und ich denke durchaus, dass da auch noch eine Änderung im Rennfahrertyp bevorstehen kann. Realistisch gesehen bleiben die Rennen, die ich jetzt auf höchstem Level bestreite, mit auf dem Plan. Ich könnte mir aber durchaus vorstellen, beim Amstel Gold Race mal auf Sieg zu fahren. Wir sind nicht an dem Punkt angelangt wo wir uns sagen – oh, was sollen wir uns noch für Ziele setzen? Es gibt die Tour mit ihren Etappen und dem Grünen Trikot, es gibt die WM, es gibt die Flandern-Rundfahrt… Und ein zweites Mal Sanremo oder Roubaix zu gewinnen ist auch nicht schlecht! Das Wichtigste ist, so weiterzumachen wie bisher, denn das hat uns hierhergebracht und daran sollten wir festhalten.
Welche Reaktionen erleben Sie jetzt im Alltag? Jahrelang haben die Profis erzählt, wie sie bei Trainingsfahrten aus vorbeifahrenden Autos heraus als Doper beschimpft wurden – welche Erfahrungen machen Sie?
Degenkolb: Ich muss echt sagen, dass ich so positiv überrascht war! Schon direkt am Tag nach Roubaix haben mir mehrere wildfremde Leute auf der Straße gratuliert – das gab es so vorher nicht in dem Maße. Und wenn ich im Training unterwegs bin, halten die Leute am Straßenrand und wollen ein Selfie. Das ist schon beeindruckend, was sich da auch getan hat. Da wird einem erst bewusst, was das für Auswirkungen auf die Zukunft haben wird. Es war ein wahnsinnig großer Schritt.
Wird da auch belohnt, dass Sie sich schon seit Jahren auch bei den von manchen Profis noch immer nicht gern gehörten Fragen zum Thema Doping klar positionieren?
Degenkolb: Mir ist einfach wichtig, den Leuten zu zeigen, dass man diese Radsport-Monumente gewinnen kann, ohne sich mit irgendwas vollzupumpen. Wir haben immer gesagt, dass wir Verantwortung übernehmen und dem Ganzen ein Gesicht geben wollen. Und anders wären wir auch nicht vorangekommen.
Gleichzeitig ist aber auch diese Saison von Affären, Zweifeln und positiven Tests begleitet…
Degenkolb: Es wird, um mal diesen Vergleich zu ziehen, auch immer Leute geben, die zu schnell auf der Autobahn fahren, die Steuern hinterziehen oder sogar eine Bank ausrauben. Das ist leider so. Ich kann nur für mich sagen, dass man in der heutigen Zeit sauberen Radsport betreiben und auch erfolgreich sein kann.
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John Degenkolb am Eurosport-Mikrofon

Fotocredit: Eurosport

Ihr schwedischer Trainer Mattias Reck sagt, dass ihn mehr noch als alle physischen Qualitäten ihre mentale Stärke am meisten beeindruckt. Ist das auch aus Ihrer Sicht der Punkt, der Sie als Fahrer besonders heraushebt aus dem Kreis vieler sehr guter Profis?
Degenkolb: Ich glaube, dass zu einem gewissen Grad Ehrgeiz, Talent und Trainingsfleiß eine große Rolle spielen, aber die wichtigen Momente entscheidet der Kopf. Mein ehemaliger Bundestrainer Patrick Moster hat mal gesagt, meine größte Stärke sei, dass ich nicht verlieren kann. Das ist Fakt, ich bin nun mal ein sehr ehrgeiziger Mensch. Wenn ich eine Startnummer auf dem Rücken habe, dann geht’s bei mir rund, dann geht’s zur Sache und dann bin ich einfach gierig nach diesem Gefühl, das Rennen zu gewinnen.
Sie sind in der Lage, weit über die Schmerzgrenze zu gehen, wie etwa bei Ihrem Giro-Etappensieg 2014 oder im Frühjahr beim Erfolg in Dubai: Danach lagen sie beide Male völlig fertig am Boden – wie schaffen Sie es, sich derart zu verausgaben?
Degenkolb: Es ist ein Prozess, seine Grenzen so auszuloten, zu verschieben und auch darüber hinaus zu gehen, das entwickelt sich über Jahre. Oft heißt es in solchen Situationen einfach "Alles oder Nichts" – bei der Giro-Etappe musste ich fahren, auch in Dubai: Da gibt es nichts mehr zu verlieren. Und in Roubaix war das ähnlich.
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John Degenkolb im Ziel am Ende seiner Kräfte - aber siegreich

Fotocredit: Eurosport

Reck hat dargelegt, wie er mit Ihnen auch am Gewicht arbeitet – wie schwer fällt das, wie sieht das konkret im Alltag aus?
Degenkolb: Es geht einfach viel übers Gewicht, das ist schon so. Man darf aber auch nicht außer Acht lassen, dass Gewichtsverlust bei niedrigem Körperfettanteil irgendwann nur noch über Muskelverlust geht. Dann ist man nicht mehr so spritzig und sprintstark und das wäre kontraproduktiv – deshalb muss man da maßvoll herangehen. Aber wenn man da mit einem guten Ernährungsberater arbeitet, kann man schon noch Dinge umstellen und da habe ich nach wie vor noch Potenzial. Das ist gut zu sehen und dieses Jahr habe ich einen guten Schritt gemacht, bin mit ein, zwei Kilo weniger in die Saison gegangen und das hat ja offensichtlich gut angeschlagen.
Welcher Verzicht fällt besonders schwer?
Degenkolb: Wenn ich richtig in die Vorbereitung gehe, esse ich wirklich kaum noch Süßigkeiten. Alkohol gibt’s eigentlich sowieso nicht. Das ist einfach etwas für die Zeit danach. Der Verzicht gibt einem in dem Moment, in dem man die Leistung abrufen will, noch mehr Power und Motivation, weil man weiß, was man alles dafür getan hat, um jetzt in 100% Topform am Start zu stehen. Und man will ja nicht umsonst verzichtet haben.
Das Jahr ist noch nicht einmal zur Hälfte vorbei, aber in einer Saison ohne Olympische Spiele kann ich mir aktuell kaum vorstellen, wer im Dezember 2015 außer Ihnen als "Sportler des Jahres" ausgezeichnet werden könnte…
Degenkolb: Ich würde mich wahnsinnig darüber freuen. Das Double Sanremo und Roubaix hat in über 100 Jahren nie ein Deutscher erreicht und auch international nur überhaupt zwei Rennfahrer. Das spricht schon dafür, wie außergewöhnlich das ist und wie das zu werten wäre. Aber ob das bei der Wahl eine Rolle spielt, weiß ich nicht. Ich hoffe natürlich, dass das auch so wahrgenommen wird. Ich stelle zumindest fest, dass es bislang in der Medienlandschaft definitiv gewürdigt wird.
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