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Von der Schande zur Wiedergeburt: Brasilien und die Folgen des 1:7

Jack Lang

Update 06/07/2018 um 13:50 GMT+2 Uhr

Brasilien steht bei der WM in Russland im Viertelfinale, doch das 1:7-Desaster gegen Deutschland im Halbfinale der Heim-WM vor vier Jahren ist noch nicht vergessen. Autor Jack Lang zeigt die Folgen des "sete a um" auf, spricht mit dem damaligen Trainer Luiz Felipe Scolari und analysiert, wie Brasilien seitdem erfolgreich daran arbeitet, das Trauma vergessen machen. Ein Drama in sieben Akten.

David Luiz

Fotocredit: Eurosport

1. Wann war das Spiel gelaufen?

Lange vor dem sechsten und siebten Tor von André Schürrle, der ganz offensichtlich auf der Toilette war, als die deutsche Mannschaft die "Lasst-uns-Brasilien-nicht-blamieren"-Konversation in der Halbzeitpause führte. Vielleicht war das Halbfinale aber auch schon nach dem fünften oder sogar vierten Treffer gelaufen. Die Kameras fingen jedenfalls schon erste tränenreiche Gesichter der Fans ein - verschmierte Gesichtsbemalungen liefen in die Krägen der Fan-Shirts. Kurzum: Ein nationales Trauma war vorprogrammiert.
Und was war mit dem zweiten und dritten Gegentor? Diese beiden Treffer durch Miroslav Klose und Toni Kroos machten einen schlechten Start der Seleção in die Partie zu einem desaströsen. Der Gastgeber spielte ein WM-Halbfinale - oder auch irgendwie nicht - und wurde überrollt von den endlosen Passstafetten über Kroos, Müller, Klose, Khedira. Oder nahm das Desaster schon vor dem Anpfiff seinen Lauf? Waren es zu viele Emotionen, zu viel Druck im eigenen Land? Brasiliens Fußball-Legende Zico brachte es auf den Punkt:
Es war so, als hätte Brasilien an den 'Hunger Games' teilgenommen.
Man muss an die Äußerungen von José Maria Marin denken, den leichenblassen Manager des brasilianischen Fußballverbandes. "Nur eine Katastrophe kann uns daran hindern zu gewinnen", sagte er am Vorabend des Spiels. "Wenn wir verlieren, fahren wir alle zur Hölle." Sportlich gesehen kam es genau so.
Die Tore beim 1:7
Der brasilianische TV-Journalist Galvão Bueno hatte von Beginn an Probleme mit den deutschen Spielernamen. Miller? Kross? "Sie kommen wieder", brüllt er ins Mikrofon, als Kroos das dritte Ding hinter Júlio César in die Maschen zimmert. "Brasilien hat die Kontrolle über das Spiel komplett verloren! Das hätte sich selbst der pessimistischste Fan nicht vorstellen können!" Die zahlreichen Ausrufezeichen sind nicht zu überhören.
Die Superlative gingen Bueno schnell aus. Immerhin: Der Mann strengte sich an, um immer neue Umschreibungen zu finden für die Tore vier ("Es wird zu einem Spaziergang!") und fünf ("Wie absurd. Es ist wie ein Trainingsspiel zwischen einer Nationalmannschaft und ein paar Kindern!") - zu Beginn der zweiten Halbzeit dominiert in seiner markigen Stimme längst die Resignation. Als Oscar in der letzten Minute den Anschlusstreffer erzielte, reduziert Galvão sein Markenzeichen "gooooooooooool" auf ein "gol" - die verbale weiße Flagge eines Mannes, dessen Fußball-Seele den Körper längst verlassen hatte.

2. Die Reaktionen

Brasilianischer Fan
Die brasilianische Presse sparte nicht an Häme. "Peinlichkeit, Schande, Demütigung", war auf der Titelseite der Zeitung "O Globo" zu lesen, die das 7:1 "Mineiratzen" nannte - in Anlehnung an die düstere Erinnerung ans Maracanaço, der 1:2-Niederlage 64 Jahre zuvor im entscheidenden Spiel der WM-Finalrunde gegen Uruguay vor heimischen Publikum. "Gratulation an die zweiten Sieger von 1950, die immer beschuldigt wurden, die größte Schande über den brasilianischen Fußball gebracht zu haben", titelte "EXTRA" und ergänzte:
Gestern haben wir verstanden, was echte Schande bedeutet.
"Was wir im Mineirão gesehen haben, war kein Fußball, es war ein Massaker", schrieb Renato Maurício Prado von "O Globo", dessen Kollegen jedem brasilianischen Akteur in der Einzelkritik 0 von 10 Punkten gaben - inklusive eines vernichtenden Kurzurteils: "Júlio César: beerdigt. Maicon: gebrochen. Dante: verloren. David Luiz: verwirrt. Marcelo: ziellos. Luiz Gustavo: abgerissen. Fernandinho: vogelwild. Paulinho: deklassiert. Oscar: schwach. Hulk: chaotisch. Ramires: irrelevant. Bernard: irregeführt. Fred: tragisch. Willian: fade. Felipão: besiegt."
Die Kritik passte zur Leistung auf dem Platz. In "O Dia" wurde Luiz Felipe Scolari, mit dem Kopf in den Händen versunken, im Stadion von São Paulo mit insgesamt sieben Fingern abgebildet. "A Tarde" veränderte die Titelseite zu einem Grabstein. Die Sportzeitung "Lance!" ließ ihre erste Seite blank mit nur einer Textzeile: "Empörung, Entrüstung, Schmerz, Frustration, Wut, Schande, Mitleid, Enttäuschung... Sag', wie du dich fühlst und bestimme das Cover selbst."
Im Laufe der Zeit wurde das "sete a um", das 7:1, zur lyrisch wertvollsten Phrase des Landes. Dies war eine Geste der Selbstzerfleischung, die der Dramatiker Nelson Rodrigues "complexo de vira-lata" nannte - die verinnerlichte Minderwertigkeit, die Brasilien während der Weltmeisterschaft fühlte. Es war dieselbe Art und Weise, wie auch mit der Enttäuschung bei der WM 1950 umgegangen wurde ("Unser Hiroshima", wie es Rodrigues beschrieb). Das 7:1 wurde zum Synonym vernichtenden Scheiterns, ob im Fußball, in der Politik oder in anderen Bereichen.
Die Reaktionen der Presse
Im Internet machte sich Galgen-Humor breit. Auf der Website mit dem Namen "Brasil-Alemanha Eterno" wurde ein fieses Gedankenspiel gepflegt: "Was wäre, wenn das Spiel immer noch laufen würde?" Ein Jahr nach diesem Event hätte es Brasilien geschafft, 5.834 Treffer im Halbfinale zu erzielen. Das Problem: Deutschland hätte derweil 43.754 Tore auf dem Konto.

3. Die Fallengelassenen

Brasilien - Deutschland
"Von den 23 Spielern werden mindestens 14 oder 15 im Kader für 2018 stehen", nahm der damalige Nationalcoach Scolari seine Spieler in Schutz. Fakt ist: Nur sechs Spieler aus dem WM-Kader von 2014 (mit dem verletzten Dani Alves wären es sieben gewesen) wurden für Russland nominiert. Das Schicksal derer, die aus dem Blickfeld verschwunden sind, zeigt, dass es eine trügerische Vorstellung war, die Elf von 2014 wäre eine solide Grundlage, auf der sein Nachfolger hätte aufbauen können. Mit Júlio César, Victor, Dante, Maxwell, Henrique, Ramires, Hernanes, Bernard, Jô und Fred haben zehn Akteure seit der Heim-WM nicht eine einzige Minute mehr für Brasilien gespielt. Maicon, der noch bis zum nächsten Freundschaftsspiel bei der Nationalmannschaft verweilen durfte, kann dieser Liste ebenfalls hinzugefügt werden. Für Oscar, David Luiz, Hulk und Luiz Gustavo, die das legendäre Trikot der Seleção seit 2016 nicht mehr tragen durften und zu keiner Zeit für die WM 2018 im Gespräch waren, bleibt ein düsteres Bild.
Während Marcelo, Fernandinho, Paulinho und Willian - sowie Thiago Silva und Neymar, die gegen Deutschland fehlten - die Chance haben, die Geschichte in diesem Sommer neu zu schreiben, bleibt dem Rest die bittere Erkenntnis, dass dieses Spiel ihre Karriere in der brasilianischen Nationalmannschaft für immer definieren wird. Die Schmach von 1950 wurde immerhin nicht von tausend Fernsehkameras eingefangen und war auch nicht dazu bestimmt, über Jahrzehnte hinweg in mikroskopischen Details zu überdauern. Für den Flop von 2014 gibt es kein Versteck, keinen mystischen Schleier, um die Würde der Spieler auf irgendeine Art und Weise zu wahren.
"Als das Spiel vorbei war, wollte ich in ein Loch krabbeln und nie wieder herauskommen", sagte Fred, dessen gleichgültiges Auftreten während des Turniers ihm die Rolle des Sündenbocks bescherte. Er wusste sofort, dass er sein Land nie wieder repräsentieren würde:
Ich wurde ausgebuht im Mineirão, in meinem Zuhause. Nach der Weltmeisterschaft war ich psychisch in einer schlechten Verfassung.
Dante durchlief ebenfalls eine harte Zeit. Es half ihm nicht, dass er nach Deutschland zurückkehrte, oder dass einige seiner Mannschaftskollegen vom FC Bayern, vor allem Thomas Müller, sich dazu berufen fühlten, ihn immer wieder an die Weltmeisterschaft zu erinnern. "Diese Niederlage war sehr, sehr schmerzhaft", beschrieb er bei "CNN". "Es war hart, darüber hinwegzukommen. Leute verlieren schnell den Respekt und vergessen alles, was du geleistet hast."
Gestern und heute: Die brasilianische Mannschaft des 1:7
Fragwürdige Witze sind das eine, doch der Innenverteidiger gab zu, dass das 1:7 ein Gefühl der Isolation hervorgerufen habe. "Du befindest dich in einer komplizierten Situation und es gibt nur wenige Leute, die dich aufheitern können", so Dante. "Du bist allein. Du hast zwei oder drei Freunde, die dir helfen, mehr nicht. Du triffst Leute, die dich bei jeder Möglichkeit versuchen zu verletzen, indem sie dich an dieses Event erinnern. Es war sehr auffällig und hart."
Eines der herzzerreißendsten Interviews im Nachlauf der Partie gab Júlio César. Ein zweiter Frühling bei Benfica in Portugal half dem Torhüter weitestgehend aus dem Tief, doch er kämpft noch immer mit dem Debakel gegen Deutschland. "Es ist eine große Last, die ich mit mir herumtrage", sagte er nach seinem Rücktritt im April. "Noch heute ist es unvermeidbar darüber nachzudenken. Ich male mir aus, wie es ist, wenn ich eines Tages sterben werde und sie meinen Tod verkünden: 'Júlio César, der Torwart des 7:1, ist verstorben.'"

4. Der Trainer

Luiz Felipe Scolari
"Dies ist der schlimmste Tag meines Lebens", verriet Scolari vor dem Versuch, das Unerklärliche zu erklären. Er nannte es "apagão" - einen Blackout - und gab zu, dass er und seine Spieler dem deutschen Angriff hilflos ausgeliefert waren:
Ich konnte nichts ändern. Es folgte ein Tor nach dem anderen. Es war nichts zu machen.
Am 14. Juli 2014, sechs Tage nach seinem Waterloo, war seine Zeit als brasilianischer Nationaltrainer vorüber. Sein Ansehen war zerfetzt, der Ruhm von 2002 war vergessen, du bist nur so gut wie deine letzte Weltmeisterschaft.
"Ich brauche eine Umarmung", sagte er zu dieser Zeit. Es sah auch so aus, als bräuchte er Urlaub. Dennoch war Scolari zwei Wochen später bereits wieder im Geschäft. Grêmio rief nach einem Coach und Scolari, der sieben Trophäen in zwei vorangegangenen Amtsperioden gewann, war verfügbar. Motiviert war er auch, obwohl der Job eine Verschiebung seiner geplanten Phase der persönlichen Reflektion bedeutete. "Ich wollte mir etwas Zeit nehmen, um mit der Situation klarzukommen", erklärte Scolari gegenüber Eurosport. "Ich habe nur so schnell wieder mit der Arbeit begonnen, weil es sich um Grêmio handelte. Ich identifiziere mich mit diesem Klub und dem Präsidenten, Dr. Fábio Koff (der im Mai verstarb, A.d.R.), aufgrund unserer gemeinsamen Arbeit zuvor. Er war wie ein Vater zu mir und öffnete mir die Türen zu meiner Karriere. Ich befand mich in einer misslichen Situation, die ich überwinden musste, und kehrte mit viel Enthusiasmus an die Arbeit zurück. Es war ein schwieriges Projekt, die Mannschaft zu erneuern. Doch ich nahm das Angebot und die Herausforderung an."
Das Geschehene geriet nach einem vielversprechenden Start in den Hintergrund, der tägliche Stress von Trainingseinheiten, Pressekonferenzen und Spielen verdrängte die Gedanken an Belo Horizonte. Und während Scolaris nächster Schritt nach China, um Fabio Cannavaro als Trainer von Guangzhou Evergrande zu ersetzen, dazu führte, dass einige Experten Augenbrauen hochzogen, fand er dort sein Gewinner-Händchen wieder: Die Tiger gewannen unter der Leitung von Scolari dreimal in Folge die chinesische Super League und einmal die asiatische Champions League. Die Weltmeisterschaft 2018 in Russland verfolgt er als Fan. Zeit, noch einmal zurückzublicken:
Du musst ständig beweisen, dass du befähigt bist, ein Top-Trainer zu sein. Du musst dir den Respekt der Mannschaften erarbeiten, die du trainierst. Du hast immer etwas zu beweisen. Immer, immer, immer. Ich musste also noch einmal beweisen, dass ich ein guter Trainer war, dass ich wieder Titel gewinnen konnte.
Das habe er in China "mit der Hilfe meines Stabs und besonders meiner Spieler geschafft, die alles dafür getan haben, um diese Titel zu gewinnen. Als Trainer weißt du, dass irgendwann ein harter Moment kommen wird, den du überstehen musst." Die Niederlage gegen Deutschland sei "nun einmal passiert und sie war nicht normal. Aber sie bringt dich dazu, darüber nachzudenken, wie man sich verändert, wie man die Dinge anders macht."
Trotz der kämpferischen Worte gibt Scolari zu, dass ihn das 7:1 für immer kennzeichnen wird - wie auch alle anderen, die daran beteiligt waren. Die Wunden heilen, doch die Narben bleiben. "Ich habe verarbeitet, was passiert ist, immer und immer wieder", ergänzte er. "Aber vergessen? Das können wir nicht. Wir haben diese Situation durchlebt und werden uns immer daran erinnern. Unsere Gedanken werden immer wieder darauf zurückkommen."
Gott, die deutsche Mannschaft ist gut. Sie ist wie ein aufgeladenes Flamengo-Team gekleidet - was für ein Moment, um dieses Trikot zum ersten Mal in diesem Sommer zu tragen! Sie sind einfach... unerbittlich. Jedes Mal, wenn du schaust, wenden sie eine neue Art von Druck an. Und weißt du was? Sie sind auch nett. An den Stränden schüttelten sie Hände und hielten an den Flughäfen an, um Fotos zu machen. Lukas Podolski bewirbt sich wahrscheinlich sofort um die brasilianische Staatsbürgerschaft. Und ja, in der Halbzeitpause, tief in den Katakomben der Arena, stimmen sie darin überein, dass es besser wäre, ihre Gastgeber nicht zu demütigen. Die Deutschen sind wahre Gentlemen.

5. Die Familien

Fernandinho beim 1:7 gegen Deutschland
Der aktuelle brasilianische Nationaltrainer Tite war damals nicht im Mineirão, doch die Emotionen dieses Ereignisses rissen auch ihn mit. "Als Deutschland den Treffer zum 4:0 erzielte, brach meine Frau in Tränen aus", schrieb er kürzlich. "Ich fragte sie, ob es ihr gut geht und sie sagte, dass sie nicht helfen und einfach nur weinen kann, weil sie sich in die Situation der Frau des Trainers versetzte. Sie wusste was es bedeutete, nicht nur für die Spieler und den Trainerstab, sondern auch für ihre Familien."
Die Familie von Fernandinho erinnerte sich an die Verzweiflung in einem Ausschnitt von "Globos Jornal Nacional". "Es war so hart", erklärte Maria Gabrielli Machado, die jüngere Schwester des Mittelfeldspielers. "Du weißt nicht mal mehr, was du tun kannst, um ihn zu schützen." Seine Mutter, Ane Machado, konnte kaum zusehen. "Ich fühlte mich verzweifelt, sah seine Tränen und konnte nichts tun", erzählte sie.
Immerhin konnten sie die Geschehnisse rationalisieren, die Dinge perspektivisch sehen. Sophia und Diogo, die Kinder von Dante, taten sich verständlicherweise schwerer, das Geschehene zu verdauen. "Ich habe danach meine Frau gefragt, wie die Kinder reagiert haben", erzählte der Innenverteidiger bei "UOL". Sie waren auf der Tribüne und haben viele Tränen vergossen. "Mein Sohn war sehr traurig. Ich musste mit ihm reden. Ich erzählte ihm, dass sein Vater weiter hart arbeiten und ihm Gründe geben würde, glücklicher zu sein."
Eine der Werbetafeln im Mineirão trägt den McDonalds-Werbeslogan "Amo Muito Tudo Isso" - ich liebe es. Aber sie lieben nichts, nicht heute Nacht. Sie raufen sich die Haare, schluchzen, halten sich die Augen zu und wünschen die Realität zu vergessen. Nicht nur die Fans sind geschockt. Der gesperrte Thiago Silva schaut von hoch oben auf der Tribüne hinab - er hat über das gesamte Turnier hinweg viele Tränen vergossen. Jetzt sieht man nur noch Leere in seinem Gesicht. Neymar windet sich mehr als 600 Kilometer entfernt in seinem Strandhaus. Irgendwann wird er vielleicht seinen gebrochenen Wirbel als einen kleinen Preis betrachten, den er dafür zahlen musste, nicht am Massaker gegen Deutschland beteiligt gewesen zu sein. Nach einem der Tore zoomt die Kamera auf Fred, zutiefst erschüttert im Mittelkreis. "Caralho", sagt er mit einem Kopfschütteln: F**k.

6. Der Fehlstart

Dunga übernimmt das Team
In den Tagen nach dem Spiel verwandelte sich der Schock in Wut. Wie konnte es sein, dass der brasilianische Fußball, ehemals von der ganzen Welt bewundert, so tief gefallen war? Probleme, die über Jahrzehnte hinweg gereift waren, wurden unter dem schonungslosen, aber gerechten Licht der Prüfung freigelegt - das 7:1 nicht nur als grandiose Erschütterung, sondern auch als die Endstation einer jahrzehntelangen Reise hin zur Mittelmäßigkeit. Man könnte ganze Bücher schreiben über die Defizite in Brasilien, aber jede Aufzählung enthielte idiotische Klubbesitzer, extreme Kurzsichtigkeit, Gewalt unter Fans, überfüllte Spielpläne, niedrige Zuschauerzahlen, Korruption, obskure Taktiken, lächerliche Schiedsrichter und Finanzen, die frei heraus als beschissen beschrieben werden müssen. Und über alledem steht der Fußball-Verband CBF, eine Ansammlung von habgierigen alten weißen Männern, die den Verband aussehen lassen wie eine Pfadfindergruppe.
"Unser geliebter Sport steckt in der Krise", wütete Romário. "Glauben Sie, das Problem wären allein die Spieler oder Scolari? Auf keinen Fall. Unser Fußball wird seit Jahren schlechter, er wird ausgetrocknet von Funktionären, die ihr Handwerk nicht verstehen." Tostão, Weltmeister von 1970 und jetzt angesehener Kolumnist, sieht das genauso. "Dies ist ein Moment für neue Ideen", schrieb er. "Brasilien muss den Aufbau verändern. Wir sind in einigen Bereichen abgehängt worden."
Der brasilianische Fußball hätte eine tiefgründige Untersuchung gebraucht: ernst, fair und unabhängig. Was er bekam, war ein verächtliches Schulterzucken von den Verantwortlichen: Nur acht Tage nach Scolaris Rücktritt wurde ein neuer Trainer ernannt. Aber nicht einer mit frischen Ambitionen, sondern ein Anhänger der alten Schule. Carlos Dunga.
Ein Mann, der insgesamt zehn Monate sein Amt ausführen durfte, nachdem er vier Jahre zuvor als brasilianischer Nationaltrainer entlassen wurde. Ein Mann, der so anfällig für die Kritik der Medien war, dass er auf die Frage eines Freundes nach der Wiederaufnahme seines Amtes antwortete: "Und du glaubst, Globo wird das zulassen?" Ein Mann, dessen Hauptqualifikation in seiner Nähe zu Gilmar Rinaldi zu bestehen schien, dem neuen Koordinator des Nationalteams und politischen Verbündeten des künftigen CBF-Präsidenten Marco Polo del Nero. Die Zeitschrift "Época" beschrieb die neue Situation in der Seleção mit den Worten:
Dunga: das achte Tor für Deutschland.
Wer sich etwas anderes als "business as usual" erhofft hatte, wurde schwer enttäuscht. "Alles bleibt, wie es ist", seufzte Tostão. "Es gab kein Bestreben etwas zu verbessern, nicht mal Zeit, um zu trauern. Wir haben die Chance zu reflektieren nicht wahrgenommen. Was der brasilianische Fußball wirklich braucht, sind fähige, unabhängige Fachkräfte, die nach ihrem Können ausgesucht werden. Der Austausch von Gefälligkeiten ist eine landesweite Plage."
Im Juni 2015 flog Brasilien gegen Paraguay aus der Copa América. Dunga suchte die Schuld bei einem Virus und schaffte es irgendwie Trainer zu bleiben. Im darauffolgenden Sommer überstand die Seleção bei der hundertjährigen Ausgabe desselben Turniers nicht einmal die Gruppenphase. Das 7:1 hätte der Katalysator für Veränderung sein sollen. Stattdessen waren zwei weitere wertvolle Jahre die Toilette hinuntergespült worden.

7. Die Wiedergeburt

Brasilien startet in die Zukunft
Willst du ernsthaft auf demselben Fernseher schauen, auf dem du das 7:1 geschaut hast?
Man durchschaut den ironischen Opportunismus in der aktuellen WM-Werbung der Einzelhandelskette "Magazine Luiza" in São Paulo natürlich sofort. Trotzdem können solche Gedanken einen erstaunlichen Reiz ausüben. In Brasilien, einem Land, das den Aberglauben als Vollzeitberufung betrachtet. Während sich die Seleção auf die WM 2018 in Russland vorbereitet, bleibt 2014 als warnendes Beispiel und Quelle bösen Voodoos. Das Gute ist, dass künftige Zuschauer höchstwahrscheinlich nicht auch noch in ein neues Sofa investieren müssen, um sich dahinter verstecken zu können. Nur 24 Monate nach Dungas Abgang hat die brasilianische Elf ein wenig des alten Ruhms wiederhergestellt, sowohl auf dem Platz als auch in den Führungsetagen.
Die Mannschaft, verstärkt durch die Jungstars Marquinhos und Gabriel Jesus sowie Casemiro und Philippe Coutinho, erscheint in sich so stimmig wie seit Jahren nicht mehr. Die Neymar-Dependência, die Abhängigkeit der Mannschaft von ihrem Superstar, ist weniger geworden. Die Stimmung im Team könnte kaum besser sein und es besteht eine wachsende, wenngleich noch zaghafte Überzeugung, dass der Hexacampeonato - Brasiliens begehrter sechster WM-Titel - am Horizont sichtbar wird. Für diese Trendwende verantwortlich ist Adenor Leonardo Bachi, besser bekannt unter seinem Spitznamen "Tite". Optimistisch, gebildet und versiert im Umgang mit Medien, verkörpert der 57-Jährige alles, was sein Vorgänger vermissen ließ. Seine kollaborative Herangehensweise kommt sowohl bei den Spielern als auch den Machern im Hintergrund gut an.
Brasilien schwächelte als Sechster in der Südamerika-Qualifikation, startete aber nach Tites Ankunft prompt einen Siegeszug über acht Spiele und war am Ende als Tabellenerster, abgesehen von den Gastgebern, das erste Team, das sich für Russland 2018 qualifizieren konnte. Insgesamt verzeichnete Brasilien unter Tite 17 Siege (davon 16 ohne Gegentor) in 21 Spielen. Die einzige Niederlage kassierte die Seleção in einem Freundschaftsspiel gegen Argentinien (0:1), das beinah im Zeitlupentempo ablief, nachdem sich beide Mannschaften nach Melbourne geschleppt hatten. Dieser Dämpfer wurde allerdings prompt mit einem 1:0-Sieg über Deutschland im März korrigiert. Während der Sieg über Deutschland im Finale der Olympischen Spiele 2016 in Rio der Durchbruch für Neymar, Renato Augusto, Marquinhos und Gabriel Jesus war, kam der Testspielsieg wenige Monate vor der WM in Russland zu einem willkommenen Zeitpunkt.
Dennoch bleibt das Bekenntnis, dass das 7:1 weiterhin ein wichtiger Faktor bleibt. Tite drückte es Anfang des Jahres so aus:
Wir tragen dieses kleine Gespenst jeden Tag mit uns herum. Es ist immer da.
Die Herausforderung ist es nun, den nachklingenden Herzschmerz richtig zu nutzen - als Antrieb und nicht als Anlass zur Sorge. Die Zeichen dafür stehen gut. "Diese Niederlage war wirklich ein großer Schlag für alle Brasilianer, aber die Spieler verstehen, dass das brasilianische Trikot noch immer das wichtigste der Welt ist", sagte Roberto Firmino Reportern im letzten Jahr. "Wir machen uns klar, dass das, was passiert ist, dann nicht mehr relevant ist. Was zählt, ist, was wir von jetzt an tun. Keine Frage, es war eine Lektion und die nutzen wir als extra Motivation, um auf dem Platz unser Bestes zu geben und die ruhmreichen Jahre zurück nach Brasilien zu bringen."
Sollten die Spieler Inspiration suchen, wären sie gut beraten, im Geschichtsbuch der Seleção das Kapitel von 2002 aufzuschlagen. Damals wie heute versuchte Brasilien über eine ärgerliche WM-Niederlage hinwegzukommen. Damals wie heute tritt der Superstar der Mannschaft in einem fragwürdigen Fitnesszustand ins Turnier ein. Aber die Zweifel lösten sich in Luft auf, als das Team damit begann, an einem Strang zu ziehen und bis zum Finale schrittweise dafür sorgte, dass Ronaldo seine persönliche Erlösergeschichte vollenden konnte. Man muss in Deutschland nicht daran erinnern, wer Brasiliens Opfer in dieser Nacht in Yokohama war.
"Was für mich bei der WM wirklich wichtig war, waren der Zusammenhalt und die Mentalität", erklärte Innenverteidiger Roque Júnior gegenüber Eurosport. "Wir haben während der Qualifikationsspiele so manchen schwierigen Moment überstanden und wir hatten Spieler im Team, die sich 1998 gegen Frankreich geschlagen geben mussten. Die wollten wirklich gewinnen. Rivaldo beispielsweise. Jeden Tag sprach er über nichts anderes als seinen Wunsch die WM zu gewinnen. Vor und nach jedem Spiel sprach er lautstark darüber: 'Hey, lasst uns das gewinnen. Wir müssen gewinnen, wir müssen gewinnen.'" Er hatte 1998 erlebt wie es ist, ein Finale zu verlieren und anschließend nach Brasilien zu all den fordernden Fans zurückkehren zu müssen.
Tite gibt die Richtung vor
"Wir wollten als Champions zurückkehren. Wir hatten Spieler, die in ihrer Bestform waren und auch den nötigen Willen hatten. Davon habe ich gezehrt. Ronaldo war für Jahre raus - er hatte mehr als zwei Jahre nicht gespielt - aber Felipão hat ihm trotzdem eine Chance gegeben. Er wollte es wirklich, das konnte man sehen. Er hat das auf dem Platz demonstriert und genauso war es auch bei Cafu und Roberto Carlos. Das ist Überzeugung: bei einem Turnier anzukommen und zu wissen, dass man hier ist, um zu gewinnen. Wir haben in jeder Trainingseinheit, bei jedem gemeinsamen Mittag- und Abendessen nur an den Pokal gedacht."
Das ist ein Rezept, dem Tites Männer diesen Sommer folgen können, die Mineirão-Überlebenden das Team führen zu lassen, sagt Scolari. "Das wird einen positiven Effekt haben", beharrt er. "Es war uns allen eine Lehre - eine Zeit, von der wir alle etwas gelernt haben. Die Spieler, die dieses Spiel gespielt haben, werden daran denken, was an diesem Tag passiert ist und wegen dieser Erfahrung sichergehen, dass diese Situation nicht noch einmal eintritt."
Den WM-Pokal zu gewinnen ist eine schwierigere Herausforderung, aber Brasilien hat das Talent, den Weg ins Finale zu gehen. Aber nur, wenn die Mannschaft tatsächlich in der Lage ist, das "Kleine Gespenst" in Schach zu halten. "Schauen Sie sich als Beispiel Rivaldo an, der an einer großen Niederlage beteiligt war und es danach geschafft hat zu gewinnen", fährt Roque Júnior fort. "Manchmal ist das im Leben so: es wird einem etwas genommen, aber wenn man hartnäckig bleibt und nicht aufgibt, wird man irgendwann dafür belohnt. Man muss dranbleiben."
Diejenigen, die beim Halbfinale gespielt haben, bekommen eine neue Chance bei der WM zu spielen. Wenn ich diese Möglichkeit hätte, würde ich alles geben, was ich habe, um Champion zu werden.
  • Artwork: Allegra Lockstadt
  • Infografiken: Chloe Livesey
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