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Doping: Werner Franke prangert "Scheinheiligkeit und Ignoranz" an

VonSID

Update 22/06/2017 um 12:14 GMT+2 Uhr

Mehrere Studien haben das Thema Doping in Westdeutschland wieder in den Mittelpunkt gerückt. Anti-Doping-Kämpfer Werner Franke hat die betreffende Epoche von Beginn an hautnah begleitet - und schüttelt den Kopf über die jüngsten Veröffentlichungen.

Prof. Werner Franke

Fotocredit: Imago

Werner Franke hat zuviel erlebt und zuviel gekämpft, als dass ihn die jüngsten Studien über Doping in Westdeutschland noch irgendwie beeindrucken könnten. "Ich wundere mich höchstens", sagt der Molekularbiologe aus Heidelberg. Schließlich sei alles, was in der vergangenen Woche ans Tageslicht kam, "bis auf Kleinigkeiten" seit langem bekannt. Entsprechend kann er nicht anders, als die jetzigen Diskussionen mit "Scheinheiligkeit und Ignoranz" in Verbindung zu bringen.
Franke selbst hat gemeinsam mit seiner Frau Brigitte Berendonk die Aufklärung über Doping in Deutschland, West wie Ost, weiter vorangetrieben als irgendjemand sonst. Seine erschütternden Berichte und Schlussfolgerungen werfen noch heute auch auf die neuesten Studien ein ganz eigenes Licht.
An der zuletzt viel zitierten Arbeit des Krefelder Pharmazeuten Simon Krivec über 31 mit Anabolika gedopte BRD-Leichtathleten fiel Franke zuerst ein vermeintlich abseitiger Fakt auf: "dass sich die Studie nur um Athleten dreht, nicht aber um Athletinnen." Der Grund?
Das Doping, das damals an Frauen vollführt wurde, so dermaßen pervers war, dass es zu weh tut, darüber zu sprechen. Bis heute.

Krebs-Tote als Doping-Folge

Frankes Stimme wird eindringlich, wenn er über das spricht, was auch an der Dopingfront West nachweislich praktiziert wurde. "Die Verabreichung androgener Steroide führte zur Verilisierung, zur Vermännlichung junger Mädchen und Frauen. Das ist mehr als Doping, es ist die Veränderung der Person, physisch wie psychisch", sagt Franke. Verjährt seien die Fälle nach fünf Jahren, "gestorben wird meist später".
Franke nennt als Beispiel 400-m-Läuferin Helga Arendt, die im 'Hammer System' beim EC Eintracht Hamm mit Stromba durchgedopt wurde. "Sie war nicht mal 50, als sie nach jahrelangem Brustkrebsleiden qualvoll starb." Eine Doping-Spätfolge, da ist sich der international hoch angesehene Krebsforscher Franke sicher.
Und alles lag offen dar, nur interessierte es kaum jemanden, weil Politik und Sport schützend ihre Hände über die Skandale legten. Franke ist Sünder wie Wegschauer immer und immer wieder frontal angegangen. Er und seine Frau haben über die Jahrzehnte annähernd 100 Prozesse geführt - und kaum einen verloren. Viel zu wenig ist seitdem geschehen. Was er über die Jahrzehnte in westdeutscher Politik und westdeutschem Sport immer wieder beobachtete, nennt er selbst "ostentative Abweisung".

BRD-Doping? Wie bei Pontius Pilatus

Franke liebt es, auf Beispiele zu verweisen, die Bände sprechen. Nur zu gerne berichtet er heute noch über die in Insiderkreisen längst legendäre Bundestagsausschusssitzung im Jahr 1977, geleitet vom damaligen sportpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion: Wolfgang Schäuble. "Nach der Mittagspause" habe der heutige Finanzminister sinngemäß den Einsatz von Dopingmitteln empfohlen, wenn sie denn im Leistungssport unverzichtbar seien. "Das ist ihm heute peinlich, aber er hat's gesagt", sagt Franke: "Der westdeutsche Staat stand voll hinter allem. Das ist verbrieft."
Er verweist auch gerne auf den 21. Oktober 1976. Damals sprach Gerhard Groß, Ministerialrat von Innenminister Werner Maihofer, bei einer Einweihungsfeier an der Uni Freiburg in Richtung des "lieben Herrn Professor Keul": "Wenn keine Gefährdung oder Schädigung der Gesundheit der Athleten herbeigeführt wird, halten Sie leistungsfördernde Mittel für vertretbar. Der Bundesminister des Inneren teilt Ihre Auffassung."
Das Dopingsystem West nenne er "Pontius Pilatus", sagt der Träger des Bundesverdienstkreuzes Franke. Weil man allenthalben so tat, als ob man gegen Doping war, aber nichts tat, um das Treiben zu unterbinden. "In der Bibel steht da bei Pontius Pilatus: 'Und er ging hinaus und wusch seine Hände in Unschuld'. Das ist auch ein Kernunterschied zwischen Doping West und Doping Ost: Wegschauen von höchster Stelle auf der einen, durchorganisieren von höchster Stelle auf der anderen Seite", sagt Franke.

Doping-Dilemma besteht weiter

Die mangelnde Aufarbeitung von Sport und Politik erbost ihn noch immer: "Da ist nichts! Im Gegenteil, da ist immer noch Verhinderung. Bis heute will niemand was wissen, niemand will es wahrhaben." Und niemand lernt dazu. Franke verweist auf die Spitzensportreform von Innenministerium und DOSB, die sich künftig noch mehr an Leistung orientieren wollen. "Natürlich" stünden die Athleten damit vor dem alten Dilemma, dopen zu müssen, um liefern zu können. "Insofern hat sich zu damals nichts verändert", sagt Franke.
Als einzigen Weg aus "all dem Schmutz" sieht Franke ein weltweites, vollkommen unabhängiges Anti-Doping-System. Eine Umsetzung dessen sei freilich "unrealistisch". Deshalb malt Franke das düstere Bild eines "grotesken" Weltsports: "Wenn ich mir allein die lustige Zusammenstreichung der olympischen Ergebnislisten anschaue, kann ich nur sagen: Game's over!"
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