Jan Ullrich: Doping-Geständnis als Befreiungsschlag beim Familientreffen - und Marco Pantani als Mahnung
Jan Ullrich hat die Präsentation der Dokumentation über sein Leben und seine Karriere zum lang erwarteten Doping-Geständnis genutzt. Doch der emotionalste Moment war ein anderer. Den Tour-Sieger von 1997 bewegt das tragische Schicksal seines Kontrahenten Marco Pantani bis heute tief, in die Dankbarkeit über seinen eigenen Neubeginn mischte sich in München immer wieder die Trauer um den Italiener.
Ullrich: "Radsport ist die beste Medizin für mich"
Quelle: SID
Vor dem Geständnis kam das Gedenken.
"Grande!", rief Tonina Belletti, als das Dunkel im Saal gewichen war und viele im Zuschauerraum noch einen Kloß im Hals hatten. Mit der Erinnerung an ihren toten Sohn Marco Pantani endete die exklusive Vorführung des dritten und vorletzten Teils der Dokumentation über Jan Ullrich. Der italienische Kletterkünstler war 2004 seiner Drogensucht zum Opfer gefallen und sichtlich bewegt dankte sein einstiger Rivale ihr für die Anwesenheit im Münchner Filmkino.
Schwer fielen ihm diese ersten Worte, viel schwerer als kurz darauf der Satz, auf den viele gewartet hatten: "Ja, ich habe gedopt" - und damit war es raus, 25 Jahre nach der Festina-Affäre. Dass es ausgerechnet am Buß- und Bettag zu jenen so lange umschifften wenigen Worten kam, war sicher keine geplante Absicht, passte aber auf seine Weise zum "sehr gläubigen" einstigen Radstar.
Damit war der Elefant verschwunden, der jahrelang jeden Raum, in dem Ullrich öffentlich auftrat, mit für sich beansprucht hatte. "Es fiel mir gar nicht leicht, ich musste lernen, nicht alles mit mir alleine auszumachen. Ich konnte lange keine Hilfe annehmen - ich war doch der Tour-Sieger", beschrieb Ullrich dann gelöst im Talk auf der Kinobühne den "langen, schweren Weg" hin zu jenem Geständnis, welches auszusprechen ihm nun wiederum nicht schwergefallen sei. "Jetzt weiß jeder Bescheid, ich habe keine Geheimnisse mehr", erklärte der 49-Jährige vor dem Publikum in den Plüschsesseln.
Wie nahe sein Schicksal aber zwischenzeitlich daran war, Pantanis zu folgen, machte Ullrich unmissverständlich klar. "Ich habe um Leben und Tod gekämpft", betonte er, jetzt sei er "gesund und clean - aber geheilt?", diese Antwort blieb im Raum stehen. "Der Rucksack ist leichter geworden", schilderte Ullrich den Effekt seinen "persönlichen Jakobswegs", den die vierteilige Dokumentation entlang Stationen seines Lebens und seiner Karriere nachzeichnet.
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Jan Ullrich und Marco Pantani bei der Tour de France 1998
Fotocredit: Getty Images
Klassentreffen im Kino: Stars an Ullrichs Seite
Die Vorführung zweier Episoden war dabei ein Familientreffen des Radsports besonderer Art. Über ein Dutzend früherer Teamkollegen und Wegbegleiter hatte sich auf den Weg gemacht, Jugendtrainer Peter Sager und Mentor Rudy Pevenage, Tour-Rivale Ivan Basso und Kindheitsidol Olaf Ludwig, frühe Sportkameraden wie Andre Korff und Ralf Grabsch, die Profikollegen Jens Heppner, Matthias Kessler und Danilo Hondo, aber auch der einstige Teamsprecher Christian Frommert, Ex-Frau Sara Steinhauser oder Investigativjournalist Hajo Seppelt.
Sie erlebten auf der Leinwand wie auch lebensecht einen bemerkenswert offenen und gelösten Ullrich, der schonungslos eingestand, "die Kraft und die Eier" nicht gehabt zu haben, schon früher reinen Tisch zu machen.
"Ich hätte viele schöne Jahre gewonnen", ist er sich des hohen Preises für sein Verhalten bewusst, doch das abschreckende Beispiel Pantanis lässt ihn dankbar für den Neustart kurz vor seinem 50. Geburtstag sein. "Ich könnte weinen bei den alten Bildern von Marco", raunt er Basso beim Fototermin zu. Der Drogentod des "Piraten" am Valentinstag 2004 scheint jenen Abgrund zu symbolisieren, vor dem Ullrichs eigene Talfahrt gerade noch rechtzeitig zum Stehen kam.
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Peter Sager, Christian Frommert, Jan Ullrich und Jens Heppner
Fotocredit: Getty Images
Nein, Popcorn-Kino sind die 90 Minuten nicht, mehr eine mal bunte, mal beklemmende Zeitreise von den Anfängen in Rostock und Ostberlin ("bin der DDR sehr dankbar") über die Besuche bei den ergrauten Gegnern Lance Armstrong und Richard Virenque bis hin zu den Tiefpunkten auf Mallorca.
Die Suche nach dem Kick und die so lange umkurvte Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung sind nun Vergangenheit. "Ich kenne ganz oben und ganz unten - und mir gefällt jetzt die Mitte ganz gut", brachte es Ullrich auf den Punkt. Dabei lasse er den Alkohol weg, schalte auf dem Rad "nicht mehr automatisch in den Wettkampfmodus" und hoffe auf den "Heilungseffekt" seiner neuen Offenheit.
Ullrich: Werde kein Doping-Kronzeuge
Zum Kronzeugen rund um das Doping in seinen Rennställen bzw. der Freiburger Sportmedizin sieht sich der Rostocker allerdings nicht berufen. So wie er damals durch sein Doping keinen anderen Fahrer betrügen wollte, so wolle er auch heute "niemanden reinziehen".
"Das ist nicht meine Aufgabe. Jeder weiß, was damals gelaufen ist. Ich kann nur für mich reden und ich habe alles gesagt, was mich angeht. Ich weiß viel mehr, aber das werde ich nicht sagen, das ist eine auch Charakterfrage", erläutert er seinen Standpunkt.
Gerade weil es in den Dopingaffären nicht allein um ihn gegangen sei, habe er so lange geschwiegen: "Wenn es nur mein Fehler gewesen wäre, hätte ich gleich dazu gestanden, wie 2002", als er positiv getestet worden war. Später, "als ich dann hätte rauskommen können nach den Geständnissen der anderen oder spätestens dem von Lance, hatte ich die Kraft nicht mehr, das muss ich ehrlich zugeben. Da war es gerade schön ruhig", beschrieb er in der Presserunde im Kinofoyer.
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Ullrich legt Doping-Geständnis ab: "1996 ging es los"
Quelle: SID
"Angekommen, nicht mehr gejagt" wie noch im Titel der Dokumentation fühle er sich jetzt, er könne "allen in seinem Umfeld nur danken, denn aus eigener Kraft hätte er es nicht geschafft".
Auch deshalb wolle er nun, so sein Versprechen an die Freunde im Publikum, "Freundschaften besser pflegen" und seine sozialen Kontakte wieder stärker aktivieren.
Ullrich hofft auf Rückkehr in Radsport
Auch der Profiradsport soll zukünftig wieder stärker eine Rolle in seinem Leben spielen, wenn der Wirbel um Dopinggeständnis und Dokumentation vorbei ist. "Irgendwann soll man das dann auch mal ad acta legen, es ist so lange her! Ich würde gerne wieder was im Radsport machen, ich habe so viel Erfahrung und würde gerne etwas zurückgeben", so Ullrichs Wunsch für die Zukunft.
Auf die Eurosport-Nachfrage, ob er sich eher am TV-Mikrofon, im Team-Begleitwagen oder bei einem Verband sehe, ließ er die Pläne noch offen: "Ich muss mal in mich reinhorchen, was es werden kann", aber eines sei klar: "Der Radsport, das ist einfach mein Metier."
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"Er wollte es allen recht machen": Experten-Talk zu Jan Ullrich
Quelle: Eurosport
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