Tour de France 2016: "Kleiner Ventoux" auf der heimlichen Königsetappe

Die Tour de France 2016 hat ihre Königsetappe diesmal wohl nicht in den Pyrenäen oder Alpen, sondern im Mittelgebirge - mit dem "kleinen Mont Ventoux" als schwerster Prüfung. Die 15. Etappe über den Grand Colombier nach Culoz kennt kein Pardon: Flachstücke sind fast komplett Fehlanzeige und obwohl die höchste Bergwertung auf nur 1501m liegt, summieren sich die Anstiege auf über 4000 Höhenmeter.

Feature Grand Colombier

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Sechs Bergwertungen auf 150 Kilometern, dazu noch ein paar unkategorisierte Anstiege - und am Ende der für manche Experten vielleicht schwerste Berg Frankreichs: die Organisatoren haben sich etwas dabei gedacht, diese Etappe auf die große Sonntags-Bühne zu bringen.
Die Achterbahnfahrt durchs Département Ain gönnte den Fahrern kaum Pausen, kann Stolperstein für Favoriten sein und wird für angeschlagene Profis zum Existenzkampf gegen die Karenzzeit.
Auf den meist sehr schmalen Straßen ist das Rennen schwierig zu kontrollieren und der Grand Colombier mit dem in Passagen bis zu 20% steilen Anstieg und seinen technisch anspruchsvollen Abfahrten bietet ideales Terrain für Attacken.
Viele der Top-Fahrer erinnern sich noch daran, wie bei der Dauphiné 2012 das BMC-Team um Cadel Evans an diesem Berg in die Offensive ging und der Australier mit drei Helfern Spitzenreiter Bradley Wiggins (und dessen Teamkollegen Chris Froome) eine Weile mächtig unter Druck setzte.
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15. Etappe (So., 17. Juli): Bourg-en-Bresse - Culoz (159 km)

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Mit in der Offensive waren damals auch Vincenzo Nibali und Tejay van Garderen, während ein junger Kolumbianer namens Nairo Quintana seine Kräfte für den Etappensieg einen Tag später aufsparte. Der Movistar-Kapitän war im Mai 2016 extra nochmals am Grand Colombier, um sich Anstiege wie Abfahrten ganz genau einzuprägen - Ortskenntnis, die er brauchen wird.
Denn mit drei Minuten Rückstand auf Froome im Gelben Trikot muss er sich aus der Deckung wagen und kann nicht allein auf die Alpenetappen setzen, wo sich die Sky-Phalanx in den oft langen Anfahrten durch die Bergtäler organisieren kann.
Der Grand Colombier weist etliche Ähnlichkeiten mit seinem weiter südlich liegenden Vetter, dem Mont Ventoux auf: Beide stehen als Solitäre in der Landschaft, weisen eine kahle Hochfläche auf und bieten verschiedene Anstiegsvarianten.
Die auf der 15. Etappe anstehenden 12,8 Kilometer mit knapp 7% Durchschnittssteigung werden durch ein Flachstück im Mittelteil "verwässert" - es warten Rampen im hohen zweistelligen Bereich, die zu Rhythmuswechseln zwingen und den Anstieg zum Gegenentwurf eines Rollerberges machen. Böiger Wind auf der Hochfläche (wenn auch nie so stark wie am Ventoux) und die Temperaturdifferenz zwischen der Ebene und dem rund 900 Höhenmeter weiter oben gelegenen Gipfel können ebenfalls je nach Wetterlage eine Rolle spielen.
"Für mich ist diese Etappe viel härter als die zum Ventoux", lässt Etixx-Profi Maxime Bouet keinen Zweifel am Schwierigkeitsgrad. Der Teamkollege von Marcel Kittel und Tony Martin ist der Lokalmatador des Tages. Zwar fehlt er im Tour-Aufgebot seines Rennstalls, doch seine Detailinfos wird sich Kletterer Daniel Martin auf jeden Fall vor dem Start in Bourg-en-Bresse in Erinnerung rufen.
Von der Tour-Etappe 2012, als die "grande boucle" dem Grand Colombier erstmals einen Besuch abstattete, darf man sich nicht täuschen lassen: Damals nahm das Feld zwar eine längere Variante des Anstiegs, doch war das Etappenprofil bis zum niedrigsten HC-Berg des Rennens deutlich einfacher als an diesem 17. Juli. Noch wichtiger aber: Diesmal geht es nach einer ersten Zieldurchfahrt in Culoz noch einmal über die Serpentine der "Lacets du Grand Colombier" hinauf.
"Das ist so, als ob man am Ventoux nochmals hoch zum Chalet-Reynard müsste" verdeutlicht Bouet. Deshalb kommt Frankreichs Landesmeister Arthur Vichot (FDJ) zu einem klaren Urteil.
Vichot kann hervorragend als Experte dienen - er gewann bei der Dauphiné 2012 die Etappe über den Grand Colombier als Ausreißer, so wie Wochen später Thomas Voeckler bei der Tour. Ein gutes Omen für die Franzosen, die bei ihrer Landesrundfahrt 2016 noch immer ohne Tageserfolg sind?
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2012 Tour de France: Voeckler und Scarponi am Grand Colombier

Fotocredit: Eurosport

Im Peloton wird jedenfalls niemand den "kleinen Ventoux" unterschätzen. So wie es noch Ende der 1970er Jahre der Fall war, als er bei der Tour de l'Avenir erstmals auf dem Programm stand: Über ein Dutzend Fahrer musste absteigen, weil sie keine passende Übersetzung montiert hatten und teilweise mit 45/19 auf verlorenem Posten kämpften.
Bei der Dauphiné 1988 wiederum soll sich Charly Mottet mit einem Dreifach-Kettenblatt den entscheidenden Vorteil verschafft und so die Etappe über den Grand Colombier gewonnen haben. Die kleine Rundfahrt Tour de l'Ain hat den Gipfel schon mehrfach zur Zielankunft genutzt, doch für die logistischen Dimensionen der Tour de France ist das nicht möglich.
Der letzte Sieger ganz oben, Thibaut Pinot (2011), fehlt im Feld, doch seine Landsleute Pierre Rolland, Romain Bardet, Warren Barguil oder Jérôme Coppel sind auch 2016 dabei - ebenso wie Froomes Edelhelfer Wout Poels (Niederlande). Auf Fahrer wie ihn wird es besonders ankommen, meint Vichot, der zu den Kandidaten auf den Tagessieg zählt:
Die Lacets du Grand Colombier in der Animation
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