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Tour-Bilanz: Die Froome-Falle ist eine doppelte Gefahr für den Radsport

Andreas Schulz

Update 11/06/2016 um 23:07 GMT+2 Uhr

Der Fokus auf Chris Froome, sein Team Sky und die Fragwürdigkeit der Leistungen des Briten bei der Tour de France 2015 hat zwei ganz wichtige Punkte bei der Tour völlig überdeckt – ein gefährliches Risiko. Denn Dopingfragen muss sich längst nicht nur das Gelbe Trikot stellen, während im Schatten durchaus Hoffnung keimt.

Chris Froome feiert seinen Tour-Sieg in Paris 2015

Fotocredit: Eurosport

Ende gut, alles gut? Aber nein doch – schon gar nicht im Radsport. Denn jetzt wird es erst richtig spannend. Sky und Chris Froome haben nun Zeit, ihre angekündigte Transparenz endlich zu beweisen.
Die Ruhe nach dem Sturm sollte aber auch den Blick öffnen auf zwei gefährliche Entwicklungen, die in den vergangenen Wochen arg in den Hintergrund gedrängt wurden. Viel zu viele Fans und Fachleute sind in die „Froome-Falle“ gegangen. Doch aus dieser muss sich der Radsport schnell befreien, sonst droht ein böses Erwachen.
Unter dem Radar
Volle Attacke auf Froome! Das war nicht nur das Motto von Movistar in den Alpen, sondern auch der Schlachtruf der kritischen Begleiter des Radsports. Richtig so, denn seine Auftritte fordern Antworten (dazu unten mehr). Aber es ist schon kurios, wie sehr die anderen Top-Teams und Stars der Szene fast völlig unbehelligt von Kritik unter dem Radar fahren durften.
Dabei gab und gibt es jede Menge Ansatzpunkte für bohrende Nachfragen abseits des Gelben Trikots. Manche Teamchefs konnten wahrscheinlich wochenlang ihr Glück kaum fassen, so unbehelligt quer durch Frankreich zu touren.
War da was? Dass Astana vor dem Start in Utrecht den Fall der Kortisonwerte von Lars Boom gewohnt fragwürdig abwickelte, ist lang vergessen. Dass der Rennstall erst vor Wochen den Giro in schier unglaublicher Weise aufmischte, vor Monaten erst unter Auflagen und berechtigtem Kopfschütteln überhaupt die Lizenz behielt – wie aus einem anderen Erdzeitalter.
Wer ist das? Dass bei Movistar ein Alejandro Valverde mit 35 Jahren auf jenes Podium klettert, das er als überführter Blutdoper nie erreichte – höchstens Fußnote. Dass Nairo Quintana die Rekorde an den Anstiegen zum Croix de Fer und nach La Toussuire verbessert – egal, endlich wurde das Rennen spannend! Dass Teamchef Eusebio Unzue schon Delgado und Indurain zu Tour-Siegern machte (mit allen Fragen, die das mit sich bringt) – egal, Hauptsache er schickt seine Fahrer in die Offensive.
Von wem reden sie? Dass bei Tinkoff nicht nur der sehr mutige Versuch des Doubles gewagt wurde, sondern mit Roman Kreuziger ein Edelhelfer im Einsatz war, dessen Blutpass die Experten endlos beschäftigte – geschenkt. Die eindrucksvollen Duracell-Auftritte von Peter Sagan wären sicher viel kritischer beäugt worden, wenn er sie im Sky-Trikot abgeliefert hätte. So wird seine Klasse mit Recht gelobt, aber sie ist auch zu hinterfragen. Schließlich will gar niemand mehr so recht wissen, dass Bjarne Riis noch vor wenigen Monaten das Team führte – und ihm vor der Tour bescheinigt wurde, er habe Doping in früheren Jahren auch in seinem Rennstall gefördert.
Wer wurde getestet? Den positiven Kokain-Befund bei Katusha-Oldie Luca Paolini möchte ich mir gar nicht bei einem Sky-Profi vorstellen: Jeder Artikel über Froome hätte ihn wohl angeführt. So aber ist die noch ungeklärte Angelegenheit vergessen, das russische Team darf von Armstrong-Intimus Ekimov geleitet eine ungestörte zweite Hälfte der „grande boucle“ absolvieren. Leider nicht im Aufgebot: Jene beiden Profis, die Froome in diesem Jahr bei der Tour de Romandie hinter sich lassen konnten.
Das Festbeißen in den Fall Froome hat also viele ebenso drängende Fragen an andere Teams und Fahrer verhindert und damit das Bild arg verzerrt. Denn egal ob der Tour-Sieger sauber ist oder nicht: Dunkle Flecken und verdächtige Vorgänge gibt es auch an vielen anderen Stellen im Peloton, nicht nur beim Spitzenreiter, in den Top Ten oder bei großen Rennställen. Doping bleibt ein Problem, das an einem Fahrer oder Team zwar exemplarisch durchexerziert werden kann, tatsächlich aber viel weiter verbreitet ist.
Im toten Winkel
Doch die eben geschilderten Fakten und Verdachtsmomente sind noch eine ganz andere Gefahr. Sie bedrohen jenen Teil der Tour, der sowieso nicht selten unter den Tisch zu fallen droht.
Denn der Radsport hat nicht allein für Rechercheure, sondern weiter auch für Romantiker seinen Reiz. Nur weil viele Auftritte tatsächlich nur mit gerunzelter Stirn verfolgt werden können, ist nicht jede herausragende Leistung zu schön um wahr zu sein.
Im Gegenteil. Die Chance war noch nie so hoch wie in den letzten Jahren, saubere Siege zu erleben – auch bei der Tour. Ob in Sprints oder Spitzengruppen, inzwischen sind ungedopte Profis längst nicht mehr nur für Streichresultate gut. Das hat mir Dopingjäger Antoine Vayer, dessen kritische Begleitung von Froome & Co bei dieser Tour wieder viel Aufmerksamkeit erfährt, nachdrücklich versichert. „Etappensiege sind ohne Frage möglich und es gab schon viele davon in den letzten Jahren. Anders sieht es mit Spitzenplätzen in der Gesamtwertung aus, da wird die saubere Luft schnell sehr viel dünner“, bringt er die Zweiklassengesellschaft auf den Punkt.
Deshalb ist es so schade, wenn wir uns nur mit gebremstem Schaum mit einem Simon Geschke nach seinem Solo oder über Thibaut Pinot bei seinem Coup in Alpe d’Huez freuen. Wir bringen uns um jene großen, emotionalen Momente, die den Sport und seine Faszination ausmachen. Sicher bleibt auch da immer ein ‚Restrisiko‘, aber nur der Zyniker, der an rein gar nichts mehr glaubt, kann nicht mehr enttäuscht werden. Und für eine solch‘ freudlose Betrachtung besteht kein Anlass, trotz aller Brennpunkte.
Der Radsport besteht nicht nur aus seltsamen Subjekten, auch wenn manchmal just dieser Eindruck vermittelt wird. „Es werden ja nicht unter allen 14-Jährigen jene für den Radsport gecastet, die besonders fragwürdig wirken – und der Rest geht in andere Sportarten“, formulierte Sky-Profi Bernhard Eisel treffend.
Auf der Suche nach Beweisen
Bei der großen Frage, wie ein Fahrer seine Sauberkeit beweisen kann und soll, treffen dann wieder beide Gruppen aufeinander: Die von viel Verdacht begleiteten Rundfahrt-Asse und die eher im Schatten kurbelnden Kollegen. Einen absoluten Beweis für Sauberkeit, der auch vom härtesten Gegner sofort und klaglos akzeptiert würde, gibt es nicht.
Während also Anklage und Verteidigung ihre Experten, Indizien und Schlussfolgerungen ausbreiten, blickt die Laien-Jury mehr oder minder ratlos auf die Beweislage. Der Kopf dreht sich angesichts des Watt-Wahnsinns wie bei einer Stakkato-Attacke von Froome, die Presseschauen und Publikationen aus Fachjournals stapeln sich in Galibier-Höhe, die Interviews mit Ärzten, Trainern, Ex-Profis werden fast zur Endlosschleife.
Wann und ob man wieder zu einem Grundvertrauen in den Radsport oder zumindest einzelne Mannschaften und Fahrer findet, bleibt eine Glaubensfrage, die jeder für sich selbst entscheiden und gegebenenfalls revidieren muss. Dass sich dabei die Waagschale abhängig von jeder neuen Information unterschiedlich neigen kann, ist sicher frustrierend, aber leider die Realität.
Chris Froome und sein Team sollten die Wochen bis zur Vuelta nutzen, um die berechtigten Zweifel zumindest zu verringern – wenn sie es denn können und wollen. Dazu müssen in großem Stil Werte auf den Tisch, auch wenn das kein Allheilmittel ist. Aber schon als Zeichen, dass man die Kritik ernst nimmt und an einer Entkräftung des Generalverdachts interessiert ist, ist dieser Schritt nötig.
Leistungsdaten von Topfahrern sind schließlich inzwischen kein Staatsgeheimnis mehr, sondern vielfach publiziert oder sogar öffentlich einsehbar. Heikel ist Herrschaftswissen wie Trainings- und Ernährungspläne, mit denen die Grundlage für die Erzielung der Leistung geschaffen wird. Dass dies nicht der Konkurrenz zur Einsicht gegeben werden soll, ist nachvollziehbar.
Am Ende der Tour hat sich der Vorwurf gegen Froome schließlich vom klassischen Doping zunehmend Richtung Technik-Trickserei verschoben. Das hat einen großen Vorteil: Diesem Motor-Doping auf die Schliche zu kommen, ist bei entsprechendem Willen des Weltverbandes weitaus einfacher, als direkt oder indirekt Blutmanipulationen oder den Gebrauch von verbotenen Substanzen aufzudecken. Die Rad-Kontrollen bei der Tour waren fraglos zu sporadisch und anscheinend auch nicht immer umfassend genug – das kann und muss die UCI ändern.
Froome hat auf den Champs Elysées in seiner Siegeransprache versichert, er „kenne die Geschichte des Trikots und er werde es niemals entehren“. Man muss ihm das nicht glauben – aber nur weil exakt zehn Jahre zuvor Lance Armstrong an selber Stelle seine Kritiker abwatschte, muss nicht auch der Brite ein Lügner und Betrüger sein.
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