6:17 Minuten Vorsprung auf Rang zwei, 9:18 Minuten auf Rang drei: Die Dominanz, mit der Tadej Pogacar die Tour de France über seine
sechs Tagessiege gewonnen hat, drückt sich in den nackten Zahlen wohl am besten aus.
Die großen Abstände sind das Produkt davon, dass der Slowene in diesem Juli in allen Bereichen der Beste war, während sich die Vor- und Nachteile in den letzten Jahren noch gleichmäßig verteilten.
Abseits vom Kampf um Gelb zeigte sich das Sprinter-Feld recht ausgeglichen und verspricht Spannung für die nächsten Jahre – und bei Red Bull-Bora-hansgrohe muss nach einem vom befürchteten Sturzpech herbeigeführten Debakel einiges auf den Prüfstand.
Drei Dinge, die bei der Tour de France 2024 auffielen:
1. Pogacar in allen Kategorien die Nr. 1
"Es gab ehrlich gesagt keinen Moment, in dem die anderen wirklich dran waren", bilanzierte Eurosport-Experte Jens Voigt im Velo Club nach dem Giro-Tour-Double von Tadej Pogacar. Der Slowene war über die gesamten drei Wochen die klare Nummer 1 und hat das mit seinem Zeitfahrsieg zum Abschluss final noch einmal unterstrichen.
An kürzeren, steilen Rampen und in der Beschleunigung bei harten Attacken oder Sprints zum Zielstrich galt Pogacar auch vor der Tour 2024 als der Beste unter den Favoriten. Doch in Einzelzeitfahren und an den langen Anstiegen in besonders großer Höhe sowie bei Hitze wähnte man die Chance der Konkurrenz. Auch Pogacars UAE-Team war in den vergangenen Jahren noch ein Schwachpunkt im Vergleich mit Jonas Vingegaard und seinem damals noch Jumbo-Visma heißenden Team.
Pogacar schafft das historische Giro-Tour-Double auf Ansage
Quelle: Eurosport
Bei der Tour 2024 aber hat Pogacar all diese Theorien ins Gegenteil gewendet: Sein Team war, gerade am Berg, das mit Abstand stärkste dieser Tour und auch alle anderen Fragezeichen hat der 25-Jährige ausgelöscht: Hochgebirge? Der Stärkste. Zeitfahren? In Nizza auch ganz deutlich. Und selbst die Hitze schien dem Slowenen diesmal keine Probleme zu bereiten.
"Die langen Berge liegen mir dieses Jahr besser", hatte Pogacar schon zu Beginn der zweiten Tour-Woche angekündigt, als er im Zentralmassiv seine einzige Zentimeter-Niederlage gegen Vingegaard einstecken musste. Den Beweis, dass er sich im Training wohl genau auf die großen Pässe so gut vorbereitet hatte wie nie, erbrachte er dann in den Pyrenäen prompt mit zwei Siegen in Folge.
Pogacar gesteht bei Siegerehrung: "Hatte Angst vor diesem Moment"
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Genau dort kippte aber auch die Stimmung etwas gegen den sonst wegen seines offensiven Fahrstils so gefeierten Slowenen. Pogacar wurde den Zusehenden unheimlich, seine Dominanz nun auch noch auf Vingegaard-Terrain ließ die üblichen Fragen aufpoppen, denen sich überlegene Tour-Sieger in den 2000er Jahren immer stellen müssen.
Das Krude daran: Eine befriedigende Antwort kann niemals jemand geben. Sicher ist nur, dass Vergleiche mit Auffahrtzeiten aus der EPO-Ära an den berühmten Tour-Pässen mehr als hinken.
"Auch ein Mark Cavendish wäre mit der Zeit, mit der er in diesem Jahr knapp im Zeitlimit blieb, damals in die Top 50 gefahren am Berg. Der Radsport hat sich extrem weiterentwickelt", erklärte Eurosport-Experte Bernhard Eisel.
Pogacar-Dominanz glaubwürdig? "Man kann eigentlich vertrauen"
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Auch wenn das Mindestgewicht von 6,8 Kilogramm für die Rennmaschinen schon damals stand und die Rennräder heute daher nicht leichter sind, so sind sie trotzdem schneller geworden. Dazu kommen wissenschaftlich ausgearbeitete Ernährungspläne sowohl im Training als auch vor, im und nach den Rennen sowie viel fundiertere Trainingspläne. Die Vergleichsmasse ist wachsweich.
"Ich verstehe, dass man nachfragt, aber wenn man tiefer in der Materie ist und auch sieht, wie die Teams arbeiten und was auch andere in bester Verfassung leisten können, dann weiß man: Man kann eigentlich vertrauen", meinte Eisel.
Vingegaard bleibt ein Champion: "Er wird wieder auf Augenhöhe sein"
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Vergessen werden darf bei aller Überlegenheit von Pogacar in diesem Jahr nicht, dass sein seit Jahren größter Kontrahent Vingegaard nach schwersten Verletzungen im April lange pausieren musste und seine Tour-Vorbereitung alles andere als perfekt war, während Pogacar ein Traum-Jahr erwischte. "Wir werden ihn nächstes Jahr wieder auf Augenhöhe sehen", glaubt Voigt an einen wieder näher heranrückenden Vingegaard in 2025.
Ob das bedeutet, dass bei der Tour 2024 alles mit rechten Dingen zuging? Das weiß niemand. Das weiß man im Sport aber leider eben nie.
2. Red Bull muss sich für 2025 etwas überlegen
Das deutsche Team Red Bull-Bora-hansgrohe hat in diesem Jahr ganz bewusst alles auf eine Karte gesetzt. Nach der Verpflichtung von Primoz Roglic im Winter war schnell klar: Bei der Tour fährt die ganze Mannschaft für den Slowenen, um ihm den Traum vom Gelben Trikot zu ermöglichen – oder Teamchef Ralph Denk zumindest den vom Podium.
Von Anfang an war dabei klar, dass das ein großes Risiko darstellte. Roglic kommt mit der Last des Späteinsteigers und fehlender Fahrtechnik. Mehrmals schon endeten seine Grand Tours nach Stürzen. Und so setzten die Raublinger auf ein Team, das den Slowenen vor allem auch aus Gefahrensituationen heraushalten sollte – ganz speziell auf der Schotteretappe von Troyes, vor der, das gab man auch beim Red-Bull-Launch drei Tage vor dem Tour-Start noch ganz offen zu, man sehr großen Respekt – oder in anderen Worten: Angst – hatte.
Wie geht's bei Red Bull-Bora weiter? Voigt rät nach Debakel zu Zweigleisigkeit
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Auf dem "Gravel" ging für Roglic dann mehr oder weniger alles gut – auch wenn das Positionieren trotz des gerade dafür zusammengestellten Teams zu Etappenbeginn vor dem zweiten Schottersektor schon gehörig in die Hose ging und man früh eine Aufholjagd starten musste. Einige Tage später dann stürzte Roglic aber auf zwei Etappen in Folge und schied einmal mehr aus der Tour aus.
Schon auf der 2. Etappe in Bologna hatte Roglic Positionierungsprobleme gehabt. Kurzum: Aus seiner Sicht ging bei dieser Tour fast alles schief – und damit auch für den deutschen Rennstall. Der nämlich konnte sich nach dem Aus von Roglic und dem zweiten starken Kletterer Aleksandr Vlasov kaum mehr zeigen. Das lag sicher einerseits an den Ausfällen, andererseits aber auch an der strikten Fokussierung.
Für 2025 muss man sich bei Team-Manager Denk und Performance Director Rolf Aldag daher nun sehr gut überlegen, wie die Frankreich-Rundfahrt angegangen werden soll. "Wenn Primoz wieder alleiniger Kapitän für die Gesamtwertung sein sollte, würde ich zweigleisig fahren und noch Etappenjäger mitnehmen", meinte Eurosport-Experte Jens Voigt.
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Denn das Ziel Tour-Sieg, das hat 2024 gezeigt, wird gegen Pogacar und Vingegaard sowie einen noch stärker werdenden Evenepoel schwer. Das weiß man auch in Raubling. Nicht umsonst wurde beim Red-Bull-Einstieg immer wieder betont, dass man auf Talentsuche und Nachwuchsförderung setzt, um den Traum von Gelb langfristig anzugehen.
3. Girmay verdient in Grün, aber kein Sprinter überlegen
So sprinterfreundlich wie bei ihrer 111. Austragung war die Frankreich-Rundfahrt seit Jahren nicht. Ganze acht Etappen endeten mit einer Massenankunft. Je drei Mal triumphierten dabei Biniam Girmay und Jasper Philipsen, je einmal Mark Cavendish und Dylan Groenewegen.
Eine Dominanz wie durch Philipsen im Vorjahr gab es nicht, aber es wurde trotzdem deutlich: Mit perfektem Leadout war der Belgier der Schnellste, ohne selbiges konnte er nicht gewinnen. Girmay dagegen war der Konstanteste und dadurch am Ende auch der verdiente Gewinner des Grünen Trikots.
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Der Eritreer hat schon mit seinem ersten Tagessieg in Turin auf der 3. Etappe Radsport-Geschichte geschrieben und tat das mit dem Gewinn der Punktewertung am Schlusstag in Nizza erneut – als erstem Afrikaner aus einem anderen Land als Südafrika, dem das gelang.
Aufgefallen ist bei der Tour aber auch, dass es eben genau diese acht Massenankünfte brauchte, um mit Girmay und Philipsen die beiden besten Sprinter wirklich klar herauszuarbeiten. Nach den ersten vier Sprints nämlich gab es vier Sieger und das Feld der schnellen Männer schien eng wie selten.
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Doch eine Rolle spielte auch: Die zwei aktuell wohl schnellsten Männer der Welt, Jonathan Milan und Tim Merlier, standen gar nicht am Start der Tour. Ihre Teams Lidl-Trek und Soudal-Quick-Step setzten mit dem früh gestürzten Mads Pedersen beziehungsweise Remco Evenepoel auf andere Kapitäne.
Für die Tour 2025 aber ergeben sich aus den Erkenntnissen von diesem Jahr sehr interessante Vorzeichen: Dort könnte der Kampf um die Sprintsiege wirklich so offen werden wie noch nie. Ausschlaggebend, das zeigte das Beispiel Philipsen, dürfte dann mehr und mehr sein, wer den besten Leadout mit zum Grand Depart in Lille bringt.
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