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Carlo Ancelotti vom FC Bayern München mit bemerkenswertem Interview über Guardiola, Taktik & Müller

Florian Bogner

Update 27/01/2017 um 11:17 GMT+1 Uhr

Carlo Ancelotti hat als Trainer des FC Bayern München schon viele Interviews gegeben - kaum eins jedoch klärt so viel wie das jüngste mit "espnfc.com". In wohltuend offenen Worten grenzt der Bayern-Coach dort seinen Spielstil gegenüber dem seines Vorgängers Pep Guardiola ab, erklärt, wie er selbst spielen lassen will und warum er Thomas Müller schätzt, ihn als Stürmer aber absolut atypisch findet.

Carlo Ancelotti (FC Bayern München)

Fotocredit: AFP

Carlo Ancelottis öffentlicher Output als Trainer des FC Bayern München ist deutlich höher als der seines Vorgängers.
Von Pep Guardiola als designierten Bayern-Trainer war als erstes bekannt, dass er ein ganz guter Coach ist. Als zweites, dass er keine Interviews gibt.
Ancelotti ist da anders. Viele Interviews hat er bereits gegeben, seit er im Sommer den FC Bayern übernommen hat. Ancelotti hier, Ancelotti da. Manch einem war's fast schon zu viel (wenn auch nicht so viel wie bei Uli Hoeneß).

Carlo Ancelotti überrascht mit Interview

Bei "espnfc.com" ist am Mittwoch das jüngste Ancelotti-Interview erschienen. Und es ist, mit Verlaub, das aussagekräftigste der Saison. Geführt Anfang Januar auf der sonnigen Terrasse des Fünf-Sterne-Hotels in Doha, Katar, als die Bayern dort zum Trainingslager weilten.
Doch auch: zeitlos, weil Ancelotti viel Grundsätzliches sagt und damit an manchen Stellen überrascht.

Ancelotti zieht Grenze zwischen sich und Pep Guardiola

So äußert er sich zum Beispiel frank und frei wie selten zuvor über seinen Vorgänger, eben jenen interviewscheuen Guardiola, und vor allem die Unterschiede beider Spielphilosophien.
Ancelotti sagt in diesem langen Gespräch mit seinem Landsmann Gabriele Marcotti mehr oder weniger klar, warum er mit der Spielidee des Spaniers nicht übereinstimmen kann.
Ancelotti über das Angriffspressing:
Sehen Sie, es ist eine tolle Art zu verteidigen, aber nichts, was man 90 Minuten durchziehen kann.
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Pep Guardiola

Fotocredit: SID

Ancelotti kritisch über Guardiolas Essenz

Ancelotti sagt damit quasi, dass die Essenz von Guardiolas Spielphilosophie am Ende wohl nicht ausreicht, um die großen Titel zu gewinnen. So wie er es ihm 2014 im Champions-League-Halbfinale mit Real Madrid gegen den FC Bayern aufgezeigt hat (1:0 und 4:0).
Ancelotti weiter:
Für mich ist es (das Angriffspressing, d. Red.) nur lohnenswert, wenn du in der richtigen Position dafür bist, sonst bist du hinten zu offen und deine Verteidiger sind falsch positioniert.

Guardiola bei ManCity: Das läuft noch nicht

Ancelotti vermeidet es freilich, Guardiola direkt zu kritisieren oder anzuprangern. Dafür schätzt er seinen Kollegen viel zu sehr. Dafür ist er zu nett. Dennoch kommt durch, dass er, ganz sachlich und faktisch gesehen, anderer Meinung ist, eine andere Spielphilosophie hat.
Überraschend auch, was Ancelotti über Guardiolas Start bei Manchester City sagt. Dass Pep in England noch so seine Schwierigkeiten habe, läge daran, dass er "jetzt andere Spieler hat" und "Leute das manchmal unterschätzen".
Was wohl auch für Guardiola selbst gilt, der ManCity mitunter zu radikal, zu vorwärtsgerichtet einstellte und dadurch schon mehrere Niederlagen kassierte.
"Welche Probleme er auch haben mag, ich denke sie rühren daher, dass er mit diesen Leuten noch nie gearbeitet hat, dass sie sich erst an seine Art gewöhnen müssen und er sie erst an den Punkt bringen muss, an dem sie wirklich voll von seinem Ansatz profitieren können. Das braucht Zeit", sagt Ancelotti.
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Pep Guardiola mit Kevin De Bruyne bei Manchester City

Fotocredit: Imago

FC Bayern: Ancelotti kritisiert Konter-Gegentore

Um voll von Guardiola profitieren zu können, müssen sich die City-Spieler ihm anpassen, so der Bayern-Coach. Nicht umgekehrt, wie es Guardiola oft öffentlich sagt. Ancelotti:
Das ist dasselbe für mich hier bei Bayern. Die Spieler müssen sich an mich gewöhnen und das kommt uns manchmal noch teuer zu stehen. Wenn ich dran denke, was für Tore wir nach Kontern kassiert haben… Das kann einen verrückt machen.
Der aktuelle Bayern-Trainer hebt jedoch auch einen Punkt hervor, in dem er Guardiolas Stil bewundert: im Angriffsdrittel. "Keine Frage: Guardiola gibt seinen Spielern im Angriffsdrittel viele Freiheiten, das ist etwas, was ich versuche, ebenso zu pflegen. Wo ich ein bisschen anders denke, ist, wenn wir nicht in Ballbesitz sind oder im Spielaufbau."
Den Bayern-Spieler versuche er diese Saison Folgendes zu vermitteln:
Die große Änderung ist, dass wir stoßweise mehr pressen und versuchen, direkter zu spielen, vertikaler. Es dauert ein bisschen, aber die Reaktion der Spieler ist ermutigend.
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Carlo Ancelotti glaubt an den Erfolg von Pep Guardiola

Fotocredit: Imago

Ancelotti über Freiheit im Angriffsdrittel

In Defensive und Mittelfeld, so Ancelotti, könne man durchaus "schematisch" arbeiten, auf taktische und automatisierte Dinge zurückgreifen, Trainingsmuster, "weil du in diesen Bereichen des Feldes normalerweise Überzahl hast".
Im Angriffsdrittel jedoch komme es auf andere Dinge an. "Dort ändert sich alles." Ancelotti:
Dort brauchst du Kreativität und Freiheit, weil du sonst nur sterilen Ballbesitz hast. Besonders, wenn dein Gegner defensiv gut organisiert ist und gut aufpasst.
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Carlo Ancelotti und Xabi Alonso (r.) vom FC Bayern München

Fotocredit: Imago

Die Sache mit Roberto Baggio...

Ancelotti gibt zu, im Laufe der Jahre einiges dazugelernt zu haben. "Ich denke, ich bin heute deutlich pragmatischer und flexibler", sagt er und gesteht:
Früher war ich auf eine bestimmte Philosophie fixiert. Ich war von Sacchi (Arrigo Sacchi, früherer Milan-Coach, Taktik-Guru und Ancelotti-Lehrmeister, Anm. d. Red.) geprägt und dachte, sein 4-4-2 sei die Erfolgsformel.
Das ging sogar soweit, dass es Ancelotti 1997 als Trainer des AC Parma ablehnte, Roberto Baggio trotz bereits erfolgreicher Verhandlungen mit dem Spielmacher zu verpflichten, weil er glaubte, Baggio passe nicht in sein System.
Heute wäre das anders:
Heute habe ich begriffen, dass es so etwas wie die eine Erfolgsformel nicht gibt. Es gibt viele. Wenn mein Klub heute einen wie Roberto Baggio kaufen würde, glauben Sie mir, ich würde einen Platz in meinem System für ihn finden.
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Robert Baggio

Fotocredit: Imago

Ancelotti erklärt Thomas Müller

Was gut zum Thema Thomas Müller passt - jenem Spieler, für den es in Ancelottis Bayern-Team derzeit so schwer zu sein scheint, eine Rolle zu finden. Über Müller wird Ancelotti im Interview mit "ESPN" richtig schwärmerisch, drückt ihm gar seine höchste Wertschätzung aus.
Müller sei in seinen Augen ein "atypischer" Angreifer, weil er "total unorthodoxe Fähigkeiten" habe. So weit, so bekannt. Ancelotti weiter:
Wir erwarten von guten Stürmern, dass sie herausragend in Bezug auf Athletik, Technik und Kreativität sind. Das sind nicht seine Stärken, denn seine Stärke ist taktisch. Er liest das Spiel; er hat die Fähigkeit, den richtigen Raum im richtigen Zeitpunkt einzunehmen.
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Carlo Ancelotti mit Arturo Vidal, Thiago, Kimmich und Thomas Müller

Fotocredit: Eurosport

Müller eher ein Abwehr- oder Mittelfeldspieler?

Diese Art "taktischer Intelligenz", wie es Ancelotti nennt, sei etwas, das man auf diesem hohen Niveau normalerweise nicht von einem Angreifer erwarte, sondern eher von einem Abwehr- oder Mittelfeldspieler. "Für einen Stürmer ist das höchst selten."
Ancelotti geht sogar so weit zu sagen:
Wenn ein Trainer merkt, dass ein junger Spieler diese Art Spielintelligenz hat, stellt er ihn normalerweise in die Abwehrreihe oder ins Mittelfeld, weil dort das taktische Verständnis eine größere Rolle spielt. Mit Müller ist das wohl nie passiert. Er spielte vorne und blieb vorne.
Und so setzt ihn der Bayern-Coach auch ein: flexibel. "Ich weiß, es ist ein Klischee, aber Müller kann überall spielen."
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Thomas Müller

Fotocredit: SID

Ancelotti: "Ich bin nicht blöd"

Witzig fand er indes, von deutschen Medien dafür kritisiert worden zu sein, Müller auf dem rechten Flügel aufgestellt zu haben (was übrigens auch Joachim Löw im deutschen Nationalteam bei jedem großen Turnier tat und Pep Guardiola hier und da ebenfalls).
Die Presse sagte: 'Aber er ist doch kein Flügelspieler!' Ach, wirklich? Ich bin nicht blöd. Ich kann sehen, dass er auf Außen nicht so spielen wird wie Arjen Robben oder Douglas Costa. Und ich werde auch nicht von ihm verlangen, dass er Robben oder Costa imitiert. Was er tun kann, ist, seine Intelligenz zu nutzen, die richtigen Räume auf dem Platz zur richtigen Zeit zu finden, wenn er vom Flügel kommt. Das schafft ein Ungleichgewicht, das uns hilft.
Sorgen um Müller, der bislang erst vier Tore in 23 Pflichtspielen erzielt hat, macht sich Ancelotti deshalb nicht:
Da habe ich keinerlei Bedenken. Er ist mental sehr stark. Er ist ein Gewinnertyp, er ist niemals deprimiert, er ist höchst positiv und hat großes Selbstvertrauen. Und er kann auch über sich selbst lachen.
Da sind sich Müller und Ancelotti nicht unähnlich.
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