Biathlon-WM 2019 | Interview mit Michael Greis: "Müssen uns auf den Lucky Punch ausrichten"

Andreas Morbach

Update 07/03/2019 um 15:23 GMT+1 Uhr

Der gebürtige Allgäuer Michael Greis, Dreifach-Olympiasieger von 2006, betreut seit zehn Monaten die amerikanischen Biathleten als Chefcoach. Vor der WM im schwedischen Östersund spricht der Eurosport-Experte, dessen Tätigkeit für den Sender seit dem Start in den neuen Job ruht, über das Leben in den USA, Ups und Downs bei der Arbeit – und einen ambitionierten Plan.

Michael Greis wird Cheftrainer der US-Männer

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Das Interview führte Andreas Morbach
Herr Greis, unter den deutschen Biathleten erwähnten Erik Lesser und Benedikt Doll in der Vergangenheit schon mal die nicht eben perfekte Hotelsituation oder das etwas lieblos zubereitete Essen bei den Weltcups in Östersund. Wie sind Ihre Erinnerungen an diesen Ort aus Ihrer aktiven Zeit?
Michael Greis: In Östersund findet normalerweise immer der Saisonauftakt statt. Daher war die Anspannung darüber, wie sich das vorangegangene Training ausgewirkt hat, dort immer größer. Was die Ergebnisse betrifft, habe ich gute Erinnerungen an Östersund: Bei der WM 2008 gewannen Sabrina Buchholz, Magdalena Neuner, Andreas Birnbacher und ich mit der deutschen Mixed-Staffel dort Gold.
Glauben Sie, dass der Norweger Johannes Thingnes Bö die Titelkämpfe ebenso dominieren wird wie im ganzen bisherigen Winter? Oder erwarten Sie das große Comeback des Franzosen Martin Fourcade, der die beiden Übersee-Weltcups im Februar zu Gunsten eines zusätzlichen Trainingsblocks ausgelassen hat? Und welche Chancen räumen Sie den DSV-Biathleten ein?
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Ricco Groß, Michael Rösch, Sven Fischer, Michael Greis

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Greis: Johannes Thingnes Bö ist sicherlich der Top-Favorit. Doch er wird auch einen anderen Druck verspüren, weil es bei der WM um Edelmetall geht. Ich gehe davon aus, dass sich Martin Fourcade läuferisch wieder besser präsentiert und annähernd in den Bereich von Bö kommt. Aus dem deutschen Team gehören Arnd Peiffer, Benedikt Doll und Erik Lesser ebenfalls zum Favoritenkreis, sie werden bei der Medaillenvergabe mit dabei sein.
Mitte Februar hatten die US-Skijäger den Heimweltcup in Soldier Hollow – dem Austragungsort der Winterspiele 2002, an dem Sie sich mit Ihrem Team offensichtlich auch in Zukunft immer mal aufhalten wollen.
Greis: Ja, das habe ich geplant. Noch ist dort nicht so viel passiert – aber die Leute sind gewillt, etwas zu anzuschieben. Die Rollerbahn in Soldier Hollow ist an sich ganz gut. Die Anlage liegt um die 1700 Meter hoch. Speziell Richtung Olympia 2022 ist das natürlich ein guter Stützpunkt. In Peking finden die Wettkämpfe, meine ich, auf einer Höhe von 1700 oder 1800 Meter statt. Da ist es gut, wenn man sich zwischendurch mal in der Höhe aufhält.
Die meisten der amerikanischen Top-Biathleten kommen aus dem Osten der USA, dort haben Sie in Lake Placid auch Ihren Hauptstützpunkt.
Greis: Lake Placid liegt eigentlich ganz schön, insgesamt ist es dort ungefähr so wie in Oberhof: Nicht ganz so groß, aber mit einem Gebäudekomplex, wo man wohnen kann, mit Kantine, großer Turnhalle, Kraftraum. Über das Jahr hinweg sind auch die Bob- und Skeletonfahrer dort, manchmal kommen die Athletinnen der Rhythmischen Sportgymnastik vorbei.
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Ex-Biathlet Greis schätzt deutsche WM-Hoffnungen ein

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Was haben Sie aus Ihrer bisherigen Zeit in den USA mitgenommen?
Greis: In einer gewissen Weise läuft dort alles nicht so hektisch, nicht so stressig ab, wie es teilweise in Deutschland der Fall ist. Von meinem Eindruck her ist in den USA alles einfach ein bisschen entspannter.
Sie haben einen Vertrag für vier Jahre, mit beidseitiger Option auf einen Ausstieg nach einem Jahr.
Greis: Richtig. Unser Sportdirektor, Bernd Eisenbichler, ist Deutscher, ihn kenne ich seit vielen Jahren. Das Angebot aus den USA kam per Zufall – ich dachte mir: Das hört sich spannend an, das versuch' ich mal mit meiner Flexibilität. Wenn alles optimal läuft, mache ich das bis Peking – oder bis zur WM 2023 in Oberhof. Der Umgang mit Bernd Eisenbichler ist unproblematisch. Wir haben ein kleines, feines Team, die Wege sind relativ kurz. Das Ganze wird von beiden Seiten fair gehandhabt. Und es ist ja auch verständlich, dass man fragt: Hat das Sinn?
Könnte es also passieren, dass Sie nach dieser ersten Saison sagen: Lassen wir das Ganze doch lieber sein?
Greis: Es gibt immer die klassischen Ups und Downs. Aber momentan ist das Fazit positiv. Ich muss eben immer ein bisschen mit dem Wissen dealen: Hey, in einem deutschen Team hat man schon einen etwas anderen Anspruch. Und eine andere Konkurrenz innerhalb der Mannschaft. Die ist im amerikanischen Team eben nicht so groß. Für einen Trainer ist das manchmal ein bisschen schwierig zu handeln. Denn wenn nur acht Athleten da sind, läuft es für jeden auf internationaler Ebene ja irgendwie.
Könnte es für Sie eine Zwischenlösung geben – sozusagen ein zweites Probejahr, anstatt sich direkt bis zu den Spielen 2022 festzulegen?
Greis: Da muss man flexibel sein, hundertprozentig. Speziell mit Sean Doherty, dem Besten in meinem Team, der im Gesamtweltcup momentan auf Platz 30 liegt, müssen wir eine Strategie finden, damit er sich gut entwickelt und Richtung Peking in Topform ist. Ihn bis Olympia 2022 womöglich so zu formen, dass dort etwas herausspringen könnte – das macht natürlich Spaß.
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Michael Greis, Olympia 2006 in Turin

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Das klingt, als wäre Doherty im US-Team allein auf weiter Flur.
Greis: Ich habe schon ein paar, die ganz gut sein könnten. Leif Nordgren hatte auch schon mal ein Top-15-Ergebnis, aber dafür muss einfach alles passen. Es ist schwierig für ihn, er ist auch schon 29. Wenn man nicht in einem brutal starken Team aufwächst und immer gefordert wird, muss man schon unheimlich viel Motivation mitbringen. Ich denke aber, dass Potenzial vorhanden ist. Aber bis sich hier etwas entwickelt – das wird relativ lang dauern. Dann bin ich wahrscheinlich nicht mehr Trainer in den USA.
Wie finden Sie denn das Trainerdasein an sich? Sie haben ja auch schon eineinhalb Jahre als Nachwuchscoach in der Schweiz gearbeitet. Würden Sie sagen: Das ist genau mein Ding, in dieser Aufgabe gehe ich richtig auf?
Greis: Das ist eine gute Frage. Der Status quo ist gegeben – und wenn man gemeinsam etwas erreichen kann oder sieht, dass die Leute sich weiterentwickeln, macht es natürlich Spaß. Klar, wenn man im Weltcup auf die Besten der Besten trifft, ein Bö oder ein Fourcade vorneweg laufen, ist das für die etwas Schwächeren natürlich enorm hart – weil man da einfach nicht mithalten kann. Aber das muss man akzeptieren und sich realistische Ziele setzen.
Sie betonen die spezielle Rolle von Doherty in Ihrem Team. Was könnte er Ihrer Meinung nach im Optimalfall bei den Spielen in Peking erreichen?
Greis: Der Optimalfall ist, dass er eine Medaille holt. Die USA haben bei Olympischen Spielen noch nie eine Medaille im Biathlon gewonnen. Das ist das Ziel schlechthin, klar. Das muss es sein. Sean Doherty hat schon vier Titel bei Juniorenweltmeisterschaften gewonnen. Aber auch wenn es, sollte er eine olympische Medaille holen, ein Lucky Punch sein wird: Auf den müssen wir uns ausrichten.
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