EM 2024: Julian Nagelsmann hat den Kader so früh wie nie zusammen - es gibt fröhliche Gewinner und betrübte Verlierer
Publiziert 27/03/2024 um 11:46 GMT+1 Uhr
Die Stadionregie des Frankfurter Deutsche Bank Park hatte ein gutes Händchen am Dienstagabend - oder um es in einem Atemzug mit dem 2:1-Erfolg der deutschen Nationalelf gegen die Niederlande zu sagen: Läuft! Direkt nach dem Abpfiff dröhnte passenderweise "Don't stop me now" von Queen über die Lautsprecher. Mit diesem Song und ganz viel Schwung ging das DFB-Team auf die Ehrenrunde.
Nagelsmann-Ansage: "Werden keine fünf Spieler mehr austauschen"
Quelle: Perform
Bei der Heim-EM wollen die deutschen Fans auch im Sommer "a good time" haben, eine gute Zeit. Dass vor und nach dem ersten DFB-Treffer der Wunsch vieler Anhänger erhört wurde, die per Online-Petition "Major Tom" von Peter Schilling als Torhymne gefordert hatten, passte ins stimmige Gesamtbild.
In nur einem Länderspielfenster konnte mit zwei Erfolgen binnen vier Tagen gegen zwei europäische Großkaliber die Stimmung im Lande komplett gedreht, Vorfreude und Euphorie erzeugt werden.
Gerade noch rechtzeitig wurde der Flow entfacht, auf dieser Welle muss es nun weitergehen bis zum Sommer. Das Frühlingserwachen durch das 2:0 in Frankreich und das 2:1 gegen die Niederlande machen nach dem trüben November mit den Pleiten gegen die Türkei (2:3) und in Österreich (0:2) eine Menge Hoffnung.
Der viermalige Weltmeister war zuletzt in der FIFA-Weltrangliste bis auf Rang 16 abgerutscht. Ein weiterer Beleg des Aufschwungs: Dass man letztmals zwei Siege in einer Länderspielmaßnahme hintereinander feiern konnte, geht auf den November 2021 zurück. Damals bezwang man die Underdogs Liechtenstein und Armenien.
Kroos: "Vor ein paar Monaten wären wir halb zusammengebrochen"
"Ich bin stolz auf die Mannschaft. Ich weiß, dass sie aus einer sehr, sehr schweren Zeit kommt", sagte Rückkehrer Toni Kroos bei "RTL". Der 34-Jährige, der in seiner knapp dreijährigen Pause nicht viel verpasst hat, ist das Sinnbild der frisch geweckten Aufbruchstimmung. Nach dem 0:1-Rückstand wurde es laut Kroos "ein super Test".
Der Mittelfeld-Chef weiter: "Vor ein paar Monaten wären wir wahrscheinlich nach dem 0:1 halb zusammengebrochen, jetzt ist das aber nicht passiert."
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Nagelsmann: "Haben deutsche Tugenden verkörpert"
Quelle: Perform
Maximilian Mittelstädt erzielte den Ausgleich per Traumtor, der eingewechselte Niclas Füllkrug mit der Schulter das späte Siegtor. Fazit Kroos, der mit all seiner Routine die Dinge auf den Punkt bringen kann: "Es ist in der letzten Woche etwas entstanden, das vorher nicht da war. Ich hoffe, dass wir das mit zum Turnier nehmen. Dann können wir ein gutes Turnier spielen."
Nagelsmanns Linie: Verdienste sind was fürs Museum
In einer Mannschaft voll von Gewinnern, die sich entweder einen Stammplatz oder ein Ticket für den EM-Kader gesichert haben, ist Bundestrainer Julian Nagelsmann der größte Sieger. Durch seine mutigen Entscheidungen hat er eine klare Linie und eine neue Hierarchie ins Team gebracht. Jeder weiß, woran er ist. Jeder kennt seine Aufgabe und seine Rolle.
"Wir haben ein gutes Fundament für die EM gelegt", sagte Jonathan Tah, während Füllkrug betonte: "Die Rollenverteilung im Team ist nun klar." Nagelsmann hat seine Lehren aus den Lehrgängen im Oktober und November gezogen und nur noch nach Momentum nominiert. Dabei ist, wer im Flow ist. Drin ist, wer in ist - im Verein. Und nicht, wer das früher mal war und vielleicht wieder werden könnte. Es gilt das Leistungsprinzip - ohne Wenn und Aber. Verdienste sind was fürs Museum.
Klare Rollenverteilung, klare Hierarchie
"Wir haben eine Idee im Kopf, wir sehen klare Rollen für die Spieler vor", sagte Nagelsmann nach der Partie. "Wir versuchen, eine erste Elf einspielen zu lassen. Das heißt aber nicht, dass nicht noch Wechsel passieren können." Allerdings nur wenige.
Auf der Pressekonferenz konkretisierte der 36-Jährige: "Wer jetzt nicht dabei war, muss Vollgas geben - und besser sein als diejenigen, die dabei sind. Wir werden auf jeden Fall nicht zehn oder fünf Spieler tauschen im Sommer, das steht außer Frage. Vielleicht einen oder zwei, wenn sich niemand verletzt."
Eine deutliche Ansage an die diesmal nicht nominierten Leon Goretzka, Serge Gnabry sowie - bis auf Füllkrug - nahezu alle Dortmunder Profis mit DFB-Erfahrung. Oder besser gesagt: DFB-Vergangenheit. Denn: Nagelsmanns EM-Kader steht im Grunde: So früh wie nie vor einem Turnier.
Torhüter:
Manuel Neuer musste letzte Woche wegen eines Muskelfaserrisses nach zwei Trainingstagen am DFB-Campus abreisen. Damit platzten sein Comeback und die ersten Einsätze seit der verpatzten WM in Katar. Doch Nagelsmann hat sich auf den 38-Jährigen als neue, alte Nummer eins festgelegt.
Als er diese Entscheidung der Nummer zwei, Marc-André ter Stegen (31) vom FC Barcelona, mitteilte, habe dieser "sehr professionell und sehr erwachsen" reagiert, "aber natürlich auch enttäuscht und traurig", so Nagelsmann. Der Ersatztorhüter bewies in beiden Länderspielen seine Klasse, es gibt weltweit kaum eine bessere Nummer zwei. Was er jetzt braucht: Geduld. Als Nummer drei wird entweder Bernd Leno oder Oliver Baumann dabei sein, der diesmal nicht nominierte Kevin Trapp scheint außen vor zu sein.
Abwehr:
Im Zentrum der Viererkette haben sich Abwehrchef Antonio Rüdiger und Jonathan Tah gefunden - sie sind Deutschlands beste Türsteher. Rüdiger absolvierte in Frankfurt bereits das elfte Länderspiel in Folge über die volle Spielzeit, der 31-Jährige von Real Madrid ist Nagelsmanns klarer Abwehrchef und im Hinblick auf die Defensivqualitäten über nahezu alle Zweifel erhaben.
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DFB-Innenverteidiger Antonio Rüdiger (li.) und Jonathan Tah (re.)
Fotocredit: Imago
An seiner Seite Tah (28) von Bayer Leverkusen, der wohl seine beste Saison spielt in Sachen Beständigkeit, Übersicht und Zweikampfführung. "Aktuell gibt es in der Bundesliga keinen Besseren, er macht es sehr gut und verdient es, dass er spielt", sagte Rüdiger zuletzt über Tah. Hinten dran als Alternativen im Kader: Spieler, die nicht unzufrieden sind und nicht aufmucken wie Robin Koch (Frankfurt) und Waldemar Anton - für Mats Hummels, Nico Schlotterbeck oder Niklas Süle ist in dieser neu zusammengestellten Mannschaft kein Platz mehr.
Auf der rechten Seite hat Joshua Kimmich seine Versetzung von der Sechser-Position angenommen und nähert sich immer mehr seiner früheren Form auf der Außenbahn, die ihn dort so wichtig macht. Ersatzmann: Benjamin Henrichs. Die Entdeckung als neuer Linksverteidiger ist Maximilian Mittelstädt, nach nur zwei Länderspielen gesetzt. "Herausragend" nannte Nagelsmann die Reaktion des Stuttgarters auf seinen schlampigen Pass vor dem 0:1. "Jetzt muss er weitermachen und auf Sebastian Hoeneß (den VfB-Trainer, d.Red.) hören, dann bin ich zuversichtlich, dass er hier auch im Sommer wieder so aufdribbelt." Nur noch Ersatz: David Raum, auch Henrichs kann links spielen. Ganz raus: Robin Gosens.
Defensives Mittelfeld:
Kroos ist der uneingeschränkte Chef. Robert Andrich, mit dem er sich auch privat bestens versteht, gibt den Bodyguard von Kroos. Der Leverkusener, im Verein nicht mal erste Wahl, hat zwar erst drei Länderspiele bestritten, sich aber festgespielt. Das Nachsehen hat Pascal Groß von Brighton & Hove Albion, der aber als loyaler, dankbarer Kaderspieler wertvoll ist.
Diese Rolle traut Nagelsmann offenbar Leon Goretzka nicht zu, für den die Tür in diesem Länderspiel-Fenster noch mehr zugegangen ist. Der Bayern-Profi ist der große Verlierer der neuen deutschen Welle. Sein Teamkollege Aleksandar Pavlovic, der wegen einer Mandelentzündung gar nicht erst anreisen konnte, wäre eine weitere Alternative als Sechser und das EM-Turnier für ihn ein DFB-Schnupperkurs. Und wer war gleich noch Emre Can?
Offensives Mittelfeld:
Im 4-2-3-1-System wirbeln Florian Wirtz (20) und sein kongenialer Partner Jamal Musiala (21) gemeinsam mit Ilkay Gündogan, den Nagelsmann ebenfalls als "Zauberer" bezeichnete. Die Kreativ-Köpfe des Teams aus Leverkusen und München sind gesetzt, zugleich die Hoffnungsträger des DFB-Aufschwungs. Gündogan, der Kapitän, rückte nach vorne auf die Zehner-Position.
Aber wen rausnehmen für Leroy Sané, der am Dienstag in Frankfurt war, um sich in Erinnerung zu bringen? Der Flügelstürmer der Bayern brummte sein zweites von drei Spielen Sperre auf der Tribüne ab. "Sehr wichtig für Leroy, jetzt da zu sein", meinte Nagelsmann, "ein gutes Zeichen von ihm, aber auch normal". Sané wird es schwer haben, angesichts des Duos Wirtz/Musiala in die erste Elf zu kommen. In Top-Form kann man auf einen Sané nicht verzichten - aber wo soll er spielen? Als Joker? Für Gündogan, doch der ist Nagelsmanns Kapitän.
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Leroy Sané
Fotocredit: Getty Images
Der Bundestrainer betonte in Frankfurt: "Leroy ist ein extrem guter Spieler, aber er muss sich in die funktionierende Gruppe eingliedern wie jeder andere Spieler auch. Er wird seine Qualitäten zu einhundert Prozent in den Dienst der Mannschaft stellen, und auf diese werden wir keinesfalls verzichten."
Eine weitere Alternative auf der Außenbahn: Chris Führich vom VfB. Auch Jan-Niklas Beste von Heidenheim könnte als Standard-Spezialist in den Kader rutschen für die ganz besonderen Momente. Und da ist natürlich noch Thomas Müller, der Routinier, zugleich Kommunikator und Integrator. Weil er seine Rolle akzeptiert, ist er unverzichtbar. Serge Gnabry nicht.
Angriff:
Die hängende Spitze Kai Havertz vom FC Arsenal ist gegen mitspielende Gegner wie Frankreich die erste Option.
Gegen tief stehende Mannschaften, die wohl mit Schottland, Ungarn und der Schweiz in der Vorrunde auf das DFB-Team warten, könnte der bullige Mittelstürmer Füllkrug als Zielspieler auflaufen. Kader-Alternative: Deniz Undav von der fröhlichen VfB-Truppe. Noch so einer, der seine Rolle klaglos akzeptiert und einfach happy ist, dabei zu sein.
Das alles ist Nagelsmanns Verdienst. Nach Momentum und Leistung aufzustellen - mit Mut zum Risiko und ohne Rücksicht auf die Beleidigten. Bei einer erfolgreichen EM wäre die Stimmungslage von Goretzka & Co. wohl nur ein Kollateralschaden.
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Quelle: Perform
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