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U21 und A-Team - die deutsche Nationalmannschaften stecken in der Krise: Nur noch Weltmeister der Ausreden

Thomas Gaber

Update 26/06/2023 um 17:26 GMT+2 Uhr

Dem deutschen Fußball droht die nächste Blamage: Nach den schwachen Auftritten der A-Nationalmannschaft in den Testspielen gegen die Ukraine (3:3), Polen (0:1) und Kolumbien (0:2) steht die U21 bei der EM in Georgien als Titelverteidiger vor dem Vorrunden-Aus. Deutschland fehlt Qualität und Persönlichkeit, zudem führt ein Identitätswechsel in die Irre. Und das Ansehen im Ausland schwindet.

"Nicht effizient genug" - Stimmen zur U21-DFB-Pleite gegen Tschechien

Als Krönung gab es am Sonntagabend noch zwei Hiobsbotschaften für die deutsche U-21-Nationalmannschaft. Im Anschluss an die bittere 1:2-Niederlage gegen Tschechien im zweiten Gruppenspiel der EM in Georgien klärte Trainer Antonio di Salvo über den Fitnesszustand von Youssoufa Moukoko auf.
"Wir haben einen Ultraschall gemacht, auf dem man auch sieht, dass er muskuläre Probleme hat. Die Schmerzen waren noch zu groß. Wir werden von Tag zu Tag schauen", sagte di Salvo. Für das Tschechien-Spiel war der Dortmunder keine Option und auch ein Einsatz gegen England (Mittwoch, 18:00 Uhr im Liveticker) scheint unwahrscheinlich.
Zu allem Überfluss verließ DFB-Spielmacher und Torschütze Angelo Stiller humpelnd das Feld und gab später zu Protokoll, dass es sich nicht um ein leicht auszukurierendes Wehwehchen handelt, sondern eine Ultraschalluntersuchung unumgänglich sei. "Ich hoffe, dass es nichts Schlimmes ist", sagte ein sichtlich geknickter Stiller.
Mehr als das Prinzip Hoffnung bleibt dem deutschen Nachwuchs nicht mehr übrig - in der Arztpraxis und auf dem Platz. Als Titelverteidiger ins Turnier gestartet mit der klaren Vorgabe von di Salvo, die Qualifikation für Olympia 2024 in Paris zu schaffen, hat sich die U21 zu einem mickrigen Punkt aus zwei Spielen gegen Israel und Tschechien gemurkst.

Verblüffende Ähnlichkeit: Antonio di Salvo redet wie Hansi Flick

Um das Vorrunden-Aus noch abzuwenden, muss Deutschland die starken Engländer schlagen und auf Schützenhilfe der Israelis bauen. Prinzip Hoffnung eben. Sollte die DFB-Elf die K.o.-Phase verpassen, wird sie auch 2024 in Paris nicht dabei sein.
Dass es so weit kommen musste, hat sich die Mannschaft selbst zuzuschreiben. Gegen Israel wurden zwei Elfmeter verballert und gegen ultradefensive Tschechen fand Deutschland kein Rezept und ließ sich obendrein vor dem 0:1 nach einer eigenen Ecke auskontern.
Spieler und Trainer betonten nach der Pleite "fehlendes Spielglück", Stiller echauffierte sich zudem über den Stil des Gegners, der "sehr wenig mit Fußball" zu tun habe. Was bleibt, sind Durchhalteparolen. Natürlich könne man das kleine "Wunder" gegen England noch schaffen, im Fußball sei laut di Salvo "immer alles möglich". Und überhaupt - fehlende Leidenschaft könne man der Mannschaft nicht attestieren.
Das haben wir doch irgendwie neulich alles schon mal gehört. Di Salvos Aussagen sind verblüffend ähnlich wie die von Bundestrainer Hansi Flick rund um das Testspiel-Desaster des A-Teams.
Der Inhalt der Statements spiegelt aber nicht das wieder, was auf dem Platz passiert. Fakt ist, deutsche Nationalmannschaften können keine Spiele mehr gewinnen. Die Chancenverwertung ist katastrophal, das zieht sich auch durch die EM-Spiele der U21. Ein Gegentor lässt das Kartenhaus in sich zusammenfallen, die nötige Galligkeit, sich gegen Niederlagen aufzulehnen, ist nicht erkennbar.
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Flick überzeugt: "Wir glauben an unseren Weg"

Harte Kritik von Paul Breitner gegen Hansi Flick

Der deutsche Fußball liegt im Auswahlbereich am Boden. 2021 holte die U21 den EM-Titel - ein Ausreißer nach oben. Das A-Team hat die letzten drei Turniere in den Sand gesetzt und in den letzten Monaten auf dem Weg zur Heim-EM alles falsch gemacht. Es gibt nicht im Ansatz eine eingespielte erste Elf, Flick verzettelt sich in seiner Experimentiererei. Statt ein nach wie vor sehr fußballbegeistertes Volk mitzunehmen, wird jegliches Aufflackern von Euphorie im Keim erstickt.
Paul Breitner, Weltmeister von 1974, wirft Flick schwere Versäumnisse vor. "Was ich nicht verstehe: Wenn ich erkennen muss, dass ich nicht die Menge an Individualisten, Top-Einzelkämpfern und herausragenden Spielern habe, die ein Spiel nach Belieben bestimmen und entscheiden können, dann muss ich so früh wie möglich anfangen, eine Mannschaft zu formen", sagte Breitner der "tz".
Es brauche ein "Team aus einem Fünfzehner-Paket, das nach dem fünften, sechsten Länderspiel weiß, wo der Hase läuft: Wer steht wo? Wer bewegt sich wie? Ich muss über die Sicherheit und das Einspielen an Qualität gewinnen. Dann kann ich als Bundestrainer nicht sagen: Ich muss jetzt testen, testen, testen. Warum probiere ich 20 Spieler aus, von denen ich genau weiß, dass sie niemals in der Startelf des EM-Auftaktspiels stehen werden? Das ist verlorene Zeit!"

Der Respekt im Ausland schwindet

Deutsche Auswahlmannschaften haben nie den aufregendsten Fußball gespielt. Aber sie standen über Jahrzehnte hinweg für Disziplin, Zweikampfstärke, Kaltschnäuzigkeit und eine positive Mentalität, die sie bei zahlreichen Turnieren sehr weit gebracht und sich im Ausland enormen Respekt verschafft haben. Vorsicht vor den "Rumpelfüßlern"!
Doch der Wind hat sich gedreht. Der deutsche Fußball verliert bei den ausländischen Beobachtern sukzessive an Ansehen. Norwegens Fußball-Ikone Jan-Aage Fjörtoft sieht eine bereits länger anhaltende Krise.
"Mich überrascht, dass die Deutschen überrascht sind. Deutschland steckt schon länger in einem Tief, auch wenn man das selbst nicht wahrhaben will", sagte Fjörtoft nach dem 0:2 gegen Kolumbien bei "RTL". "Bei der WM in Katar hieß es, 'wir haben ja nur eine schlechte Halbzeit gehabt'. Das sind Ausreden. Seit 2018 gibt es keine Begeisterung, keinen Elan. Das ist kein Vergleich zu früher, als man das DFB-Team als Turniermannschaft immer auf der Rechnung haben musste. Deutschland ist der Weltmeister der Ausreden."
Auch Cyril Morin von Eurosport Frankreich legt den Finger tief in die Wunde. Der Fußball-Experte macht zum einen fehlende Qualität als Ursache fest. "Deutschland hatte Miroslav Klose, jetzt haben sie Niclas Füllkrug, das ist natürlich nicht dasselbe. Das gilt vielleicht nicht für jede Position in der Mannschaft, aber wenn wir die Top 10 auf jeder Position in der Welt betrachten, wie viele deutsche Spieler kommen dann in diese Rangliste? Vielleicht Kimmich und Gündogan als Mittelfeldspieler. Aber der Rest..."
Pete Sharland von Eurosport UK schlägt in die gleiche Kerbe. "Ich liebe Füllkrug, aber wie um alles in der Welt kann er die einzige vernünftige Nummer 9 sein? Das gleiche gilt für das defensive Mittelfeld. Wo sind die rein defensiven Spieler?"

Durch Eintritt in die Moderne geht Identität verloren

Ein wesentlicher Kritikpunkt ist der Identitätswechsel im deutschen Fußball. "Deutschland hat sich in letzter Zeit entschieden, moderner zu werden, indem es Spieler geformt hat, die gut in den Vereinsfußball passen", sagt Morin. "Spieler wie Sané, Gnabry, Havertz oder Werner, die von ihrer Geschwindigkeit leben. Aber haben sie die fußballerische deutsche DNA?"
In Frankreich liege die Konzentration laut Morin seit jeher "mehr auf dem Individuum als auf der kollektiven Idee. Frankreichs DNA ist es nicht, nur eine hervorragende Formation zu haben. In Deutschland haben sie den alten Stürmer als Nummer 9 verloren, wir haben den Mittelfeldspieler verloren, der von außerhalb des Strafraums ein Tor erzielen kann. Ich denke, der deutsche Fußball hat durch den Eintritt in die Moderne vielleicht ein wenig an Identität verloren."
Zu guter Letzt erkennt Morin im deutschen Fußball einen Mangel an Persönlichkeit und Temperament. "Wenn ich an den deutschen Fußball denke, sehe ich Oliver Kahn schreien, ich sehe Michael Ballack, der einen anderen Spieler zu Fall bringen kann und dann ein Tor schießt wie ein Weltmeister. Ich denke an Toni Schumacher auf Patrick Battiston (der deutsche Torhüter trat den Franzosen im WM-Halbfinale 1982 ins Krankenhaus., d. Red.): Das ist hässlich, aber effektiv. Jetzt sieht diese Mannschaft 'zu nett' aus. Sie scheinen nicht den Killerinstinkt zu haben, der in der Mannschaft über einen sehr langen Zeitraum hinweg obligatorisch war."
Der deutsche Fußball befindet sich in einer Sackgasse und es fällt schwer, sich vorzustellen, wie er da in absehbarer Zeit wieder herauskommt. Ein erster kleiner Schritt könnte kommenden Mittwoch erfolgen. Problem: Es braucht ein kleines "Wunder".
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Flick bringt Pleite auf den Punkt: "Ganz in die Hose gegangen"

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