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Paul Martens im Interview über Klassiker, Stürze, die Tour und deutsche Teams

Daniel Brickwedde

Update 17/04/2016 um 21:02 GMT+2 Uhr

Im großen Interview mit "pedaleur.net" spricht Paul Martens vom Team Lotto-Jumbo Klartext zur aktuellen Sicherheitsdebatte im Radsport, dem Stress bei der Tour de France, den Chancen für deutsche Nachwuchsfahrer - aber auch über seine Chancen bei den Ardennen-Klassikern.

Paul Martens (Mitte, Lotto-Jumbo) im Gespräch mit Andre Greipel

Fotocredit: Imago

Das Interview führte Daniel Brickwedde (www.pedaleur.net)
Die Ardennen-Klassiker stehen vor der Tür. Wieso sind diese Rennen einer der Höhepunkte in Ihrer Saison?
Paul Martens: Das sind sie eigentlich schon seit dem Anfang meiner Karriere. Besonders durch die Länge kommen mir diese speziellen Rennen sehr entgegen. Das merke ich nun auch mit den Jahren immer mehr. Zu Beginn sind die jungen Fahrer spritziger und ich merke einfach, dass meine Werte, die ich nach einer Stunde fahre, einfach nicht mehr hoch genug sind. Da schöpfe ich dann Motivation, dass nach sechs Rennstunden die jungen Profis auch nicht mehr können. Ich denke, dass ich dort noch die Chance habe, mich bei einem wirklich großen Rennen in Szene zu setzen.
Was benötigt ein Fahrer, um in den Ardennen erfolgreich zu sein?
Martens: Ausdauer! Das sind sechseinhalb Stunden auf einem sehr hohen Niveau. Da braucht man nicht nur die Fettverbennungsausdauer, sondern auch eine Laktattoleranz, und die durch die vielen steilen Anstiege immer wieder. Und du musst im Kopf verdammt stark sein: Das Schmerzgefühl setzt eigentlich schon relativ frühzeitig ein und das muss man dann zwei Stunden ausblenden können, um klar für die letzten zehn Kilometer im Rennen zu sein.
Sie sind jedes der drei Ardennen-Rennen mehrfach gefahren. Nach ihrer Einschätzung: Welches Ardennen-Rennen ist das Schwerste und weshalb?
Martens: Das Schwerste ist Lüttich. Für mich ist es das am besten besetzte Eintagesrennen im Jahr. Da kommen alle Rundfahrer und Eintagesspezialisten zusammen, weil es gut im Kalender liegt und sowohl für die Giro-Fahrer als auch die Tour-Fahrer ins Programm passt. Und natürlich wegen den Höhenmetern: Was da auf den letzten 80 Kilometern zusammenkommt - das ist schon extrem. Gerade im Finale hat man kaum noch Zeit sich auszuruhen. Da sind auch keine Anstiege, wo man sich noch mental drüberekeln kann - man sieht das Ende nicht. Lüttich ist da noch einmal ein anderes Kaliber als das Amstel.
Wo würden Sie die Schlüsselstellen ausmachen? Wo wird das Rennen gewonnen?
Martens: Mit der neuen Strecke beim Amstel, bei der das Ziel zwei Kilometer nach hinten verlegt wurde, kann man das Rennen als guter Fahrer auch am Cauberg verlieren - gewinnen kann man es nur auf den letzten Metern. Philippe Gilbert ist der einzige Fahrer, der es geschafft hat, mit einer Attacke zum Ziel zu kommen. Normalerweise kommt aber eine Gruppe um 15 Fahrer an und dann reicht es nicht, der Stärkste am Cauberg gewesen zu sein. Die Zielgerade ist lang und Timing und die letzten Körnchen werden ausschlaggebend sein. Und bei Lüttich ist es ähnlich. Die Zielgerade und der letzte Anstieg Côte de Saint-Nicolas sind so lang, dass man sich da festfahren kann. Da muss man so lange wie möglich locker bleiben, damit man dann auf den letzten 200 Metern noch sprinten kann.
Welches der drei Rennen liegt Ihnen am meisten?
Martens: Von den Ergebnissen her Flèche Wallonne, obwohl ich das Rennen von den Dreien am wenigsten mag. Letztes Jahr bin ich dort gestürzt, aber davor war ich viermal in den Top 20. Ich bin da aber nie mit großen Ambitionen gestartet. Das ist eine Gegend, wo die Straßen extrem schlecht sind und es nach dem ganzen Stress über 200 Kilometer an der letzten Auffahrt zur Mur nur noch darum geht, noch einmal schnell hochzufahren. Beim Amstel habe ich die Hoffnung, dass ich mit der ersten Gruppe über den Cauberg komme und dann ist relativ viel möglich. Der Fahrer, der Vierter wird, kann genauso gut 15. werden, wenn alle nebeneinander sprinten. Da muss man cool bleiben. Wenn man in der Gruppe ist, kann man das Ergebnis einfahren, von dem man träumt. Ich wohne nicht weit weg vom Ziel, habe meine Trainingsrouten dort und von daher ist es das Rennen, welches mir am meisten am Herzen liegt.
Was rechnen Sie sich aus? Wie ist Ihre Form?
Martens: Die Saison verlief bislang enttäuschend. Ich habe noch kein ansprechendes Ergebnis einfahren können. Es muss aber auch immer von zwei Seiten kommen: die mentale Form, die durch gute Ergebnisse gestützt wird, und die körperliche. Körperlich bin ich im Soll, muss ich sagen - da habe nichts liegen lassen in den letzten Wochen. Ich möchte mein Abschneiden aber nicht an einem Ergebnis festmachen. Ich hoffe, dass ich am Ende sagen kann, ich habe mal wieder alles rausgeholt, denn in den letzten Jahren sind irgendwelche Sachen immer nicht so richtig geglückt. Daher hoffe ich, dass ich dieses Jahr einfach mal ohne Fehler und ohne Stürze durchkomme.
Schauen wir ein Stück nach vorne. Werden Sie in diesem Jahr bei der Tour de France am Start stehen?
Martens: Wenn ich gesund bleibe schon. Die komplette Vorbereitung mit Trainingslager ist darauf ausgerichtet und ich gehe davon aus, dass ich wieder die Tour fahren kann.
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Paul Martens wird sein Tour-Debüt geben

Fotocredit: Imago

Was die Tour angeht, sind sie ein Spätberufener. Ihr Debüt gaben Sie im vergangenen Jahr erst mit 31 Jahren. Hätte sich Ihre Karriere ohne den Tour-Start unvollkommen angefühlt?
Martens: Ja, definitiv. Das war schon so eine kleine Befreiung. Ich habe mir davor immer eingeredet, dass die Tour de France auch nur ein Rennen ist und es im Endeffekt nichts ausmacht, ob ich da nun starte oder nicht. Als ich dann aber bei der Teamvorstellung in Utrecht auf der Bühne stand und dieses Extra gemerkt habe, worüber die anderen immer gesprochen haben, diesen medialen extra Druck und die Besonderheit, dass 80 Prozent der Leute, die dort stehen, keine Affinität mit dem Radsport an sich haben und da nur stehen, weil es die Tour ist - da habe ich gemerkt, wie wichtig mir das doch war, dass ich da gestanden habe.
Was haben sie persönlich mitgenommen aus Ihrem Debüt?
Martens: Dass die erste Woche ganz schrecklich ist. Als Fahrer nimmt man diesen extra Druck auf, dieses Drumherum, welches sich in der ersten Woche extrem im Peloton widerspiegelt. Ich habe immer gedacht, da ich jahrelang alle Klassiker gefahren bin, ich kenne den Stress. Aber als ich vergangenes Jahr die erste Tour-Woche mitgemacht habe, war ich nach einer Woche mental total im Eimer. Und alle Fahrer um mich herum auch. Deswegen wurde es irgendwann auch ruhiger. Die erste Woche war wirklich extrem.
Während der Tour sprachen Sie das Thema Stress, Hektik und die daraus resultierenden Stürze im Fahrerfeld bereits an. Mit etwas Abstand: Sehen Sie das immer noch so?
Martens: Ja, und das wird auch nicht weniger werden. Das Niveau im Feld ist mittlerweile so dicht und hoch geworden, dass viel mehr Fahrer noch lange im Rennen miteifern und ihre Kapitäne zu unterstützen können. Der Druck der Sponsoren auf die Fahrer ist so groß, dass sprichwörtlich auch große Opfer in Kauf genommen werden. Wenn man sich dann mit 200 Fahrern auf engsten Raum bewegt, dann passieren halt Stürze. Das ist dann auch der Unterschied, wenn man ein paar Jahre dabei ist und sich auch die familiäre Situation geändert hat und man sich die Frage stellt, ob das noch normal ist. Die jungen Fahrer haben noch nicht die Erfahrung gemacht, die denken immer, es geht alles gut und sind bereit, extreme Risiken einzugehen.
Die Problematik scheint vielen Fahren bekannt, doch anscheinend fehlt der Wille, daran etwas zu ändern. Ist das nicht frustrierend?
Martens: Dafür gibt es aber auch keine Lösung. Selbst wenn man die Teams verkleinert und nur noch mit 150 Fahrern die Tour fährt, wollen weiterhin ja alle in der ersten Reihe fahren. Das müsste man ja dann schon so reduzieren, dass am Ende mit 30 Mann gefahren wird. Und das wird nicht passieren. Für die ganze Problematik sehe ich keine Lösung, außer dass man eventuell die Räder wieder schlechter macht und wir uns nicht mehr mit den hohen Geschwindigkeiten bewegen müssen. Dass man einfach mehr Watt treten muss, um an 50km/h zu kommen und das die Rennen allgemein wieder langsamer werden. Es tut dann zwar immer noch weh, aber die Reaktionszeit für die Fahrer steigt.
Machen Sie generell die Tendenz aus, dass es nervöser im Fahrerfeld zu geht? Auch bei kleineren Rennen?
Martens: Die Klassiker waren immer hart umkämpft. Früher war aber der Unterschied, dass die großen Teams sich bei den kleineren Rennen etwas zurückgelehnt und große Risiken gemieden haben. Das kann man sich einfach nicht mehr erlauben. Auch, weil die kleineren Teams wie Continental oder ProContinental alle treten können. Wenn man sich dann denkt, ich beginn den Anstieg einfach mal an hundertster Stelle, da hätte man früher noch nach vorne fahren können - heute bist du abgehängt. Dadurch ist bei kleineren Rennen der Stress nicht unbedingt geringer als in Flandern oder beim Amstel.
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Radsport: Schwerer Sturz beim GP de Denain

Mit dem tragischen Tod von Antoine Demoitié ist eine grundsätzliche Sicherheitsdebatte wieder entfacht worden. Marcel Kittel fand deutliche Worte und forderte dafür den gleichen Stellenwert wie im Antidoping-Kampf. Teilen Sie seine Ansicht?
Martens: Im Grunde genommen schon. Nur denke ich, dass das von den Fahrern selbst kommt. Gerade die Situation mit den Motorrädern fand ich schon immer schlimm, weil ich auch schon Opfer war als Amateurfahrer. Aber solange Fahrer nicht füreinander bremsen, wenn da ein geparktes Auto steht oder keine Zeichen geben, wenn da Betonpfeiler auf der Straße sind - so lange brauchen wir nicht schreien und sagen, dass die Motorräder an allem Schuld sind. Die Stürze waren genauso gravierend davor - nur dass es jetzt ein anderes Ende genommen hat und dadurch in ein extrem trauriges Licht gerät. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendeine Instanz oder ein Verband es schafft, wirklich für Sicherheit zu garantieren. Das muss von den Fahrern selber kommen.
Sie sehen also auf Sicht keine Besserung?
Martens: Es müsste mal eine Person von der UCI oder wem auch immer vor Ort sein, die von vornherein den kompletten Parcours des Rennens inspiziert und anschließend mit den Organisatoren bestimmte Stellen abgeht, die dann verändert werden müssen. Da bin ich mit Marcel auf einer Linie. Die Kommissäre wissen oft einen Tag vorher nicht, wie denn die entsprechenden Passagen aussehen. Wir müssen dann über Bahnschienen fahren oder plötzlich von einer Straße, die vier Bahnen breit ist, in ein Dorf reinschießen, wo die Zielgerade für 200 Leute gerade noch 2,50 Meter breit ist. Das geht halt nicht. Im Nachhinein wird dann immer viel gerufen, aber ich habe selten gesehen, dass dann wirklich eine Anpassung stattfindet.
Sie wohnen in Belgien. Verfolgen Sie den deutschen Radsport und seine Entwicklung überhaupt noch aufmerksam?
Martens: Natürlich, aber genauso wie den belgischen oder den niederländischen. Ich habe da einen breiten Fokus. Im deutschen Radsport kommt aber gerade nicht viel aus dem Nachwuchsbereich. Im Profibereich verfügen wir aktuell über eine wirklich gute Basis und genügend Fahrer, die den jungen Fahrern auf ein extrem hohes Level helfen könnten. Aber von unten kommt nichts. Es gibt das Team Bora-Argon 18, die jedoch fast mehr ausländische als deutsche Profis haben, und Giant-Alpecin. Die haben zwar eine deutsche Lizenz, aber als richtig deutsche Mannschaft empfinde ich das Team nicht. Wir bräuchten mal wieder ein Team, das komplett auf die deutsche Schiene geht. Das müsste nicht mal ein WorldTour-Team sein, sondern ProContinental, die jedes Jahr zwei bis drei U23-Fahrer hineinnehmen. Darauf könnte man aufbauen.
Erfüllt nicht das Team Stölting diese Aufgabe derzeit ein wenig?
Martens: Definitiv. Aber Stölting ist jetzt auch wieder eine Fusion, was bedeutet, da sind dann weniger Plätze für die jungen deutschen Fahrer. Der nächste Schritt für die Fahrer sind dann meist die ausländischen Teams, zum Beispiel jetzt für Nils Politt. Er hat beste Voraussetzungen ein Klassikerfahrer zu werden, das Problem ist aber, dass der jetzt mit Alexander Kristoff mit einem anderen Weltklasse Klassikerfahrer zusammen ist. Und dann ist die Frage: Wie viel Freiheiten bekommt er, um sich wirklich komplett entwickeln zu können? Oder wird er irgendwann Helfer? Und deutsche Helfer haben wir genug. Wir brauchen mal wieder einen der Rundfahrer oder jemanden, der bei den Klassikern Erfolg hat. Im Endeffekt haben wir nur Sprinter – und davon beinahe ein wenig zu viel.
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