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Sicherheitsdebatte im Radsport: Jens Voigt erklärt im exklusiven Interview die "Unlösbarkeit des Problems"

Tom Müller

Update 06/04/2024 um 19:09 GMT+2 Uhr

Stürze über Stürze: Bereits vor dem gefährlichen Kopfstein-Klassiker Paris-Roubaix bestimmen Verletzungsmeldungen und schlimme Diagnosen die Berichterstattung. Im Radsport ist einmal mehr eine Sicherheitsdebatte entbrannt. Jens Voigt gibt im exklusiven Eurosport-Interview Anworten auf die wichtigsten Fragen und erklärt, wie man Radrennen seiner Meinung nach in Zukunft sicherer gestalten könnte.

Im Video: So passierte der schlimme Massensturz

Jens Voigt hat in seiner Karriere viele Stürze erlebt. Auch am eigenen Leib. Etwa 110 Stiche hat er in 18 Jahren Profi-Radsport erhalten.
Der 52-Jährige weiß also, wie brutal dieser Sport sein kann – und wie wichtig der Aspekt Sicherheit ist. Die schweren Stürze im Baskenland und bei Quer durch Flandern haben auch Voigt nicht kalt gelassen.
"Da warte auch ich bange auf Neuigkeiten und Updates zum Gesundheitszustand der Fahrer", sagt der Eurosport-Experte im ersten Teil des großen Exklusiv-Interviews, in dem er unter anderem erklärt, durch welche Veränderungen man den Radsport in seinen Augen sicherer gestalten könnte.
Allerdings weiß auch der Ex-Profi: "Wenn du es ganz sicher machen willst, darfst du nur noch Radrennen auf einem ADAC-Testgelände veranstalten."
Herr Voigt, was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie die schrecklichen Bilder von der Baskenland-Rundfahrt gesehen haben?
Jens Voigt: Es hat mich an den heftigen Sturz von Richie Porte bei der Tour de France 2017 denken lassen (er erlitt damals einen Schlüsselbeinbruch und einen Bruch der Hüftpfanne, Anm. d. Red.). Wie Vingegaard weggetragen wurde, war schon dramatisch. Ein Sturz bergab hat meist schwere Folgen. Deshalb war schnell abzusehen, dass es übel ist. Da warte auch ich bange auf Neuigkeiten und Updates zum Gesundheitszustand der Fahrer. So platt das klingen mag: Du hoffst zuerst, dass alle überleben – und dann, dass sie irgendwann auch wieder Laufen und Fahrradfahren können.
Wie kam es aus Ihrer Sicht zum Sturz?
Voigt: Zunächst war es mir unverständlich, dass es dort so einen Sturz geben kann - herrlicher Sonnenschein, die Straße trocken und relativ breit, keine Haarnadelkurve, sondern eine normale Biegung in der Straße. Deshalb war ich überrascht. Da muss viel unglücklich zusammengelaufen sein. Einer rutscht weg, ein anderer fährt rein, die anderen kriegen Panik und bremsen zu stark. Mikel Bizkarra meinte, dass dort möglicherweise Baumwurzeln die Straßendecke hochdrücken. Dadurch wird der Belag etwas unruhiger und die Fahrer fahren am Limit, was die Haftung der Reifen angeht. Wenn du eine quere Baumwurzel triffst, die den Asphalt aufwölbt, springt dein Fahrrad einen winzigen Augenblick in die Luft und hat keinen Bodenkontakt mehr. Dann schafft es der Reifen beim Aufkommen nicht mehr, Kontakt aufzubauen und rutscht weg. Vielleicht gab es aber auch einen kleinen Ölfleck oder ein wenig Schlamm. Das kann auch sehr gefährlich sein.
Einige Fahrer haben sich schwer verletzt, weil sich in eine Betonrinne und auf Felsen fielen. Hätte man diese absichern müssen?
Voigt: Niemand hat damit gerechnet, dass es an dieser Stelle zum Unfall kommt. Man hätte eventuell mit einem Heuballen oder etwas Ähnlichem absichern können. Aber nein, in diesem Fall mache ich dem Veranstalter keinen Vorwurf. Das hätte man gar nicht wirklich vermeiden können. Ich glaube auch nicht, dass die sportlichen Leiter, die die Strecke vorher abfahren, die Stelle für ihre Fahrer markiert haben.
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Baskenland-Rundfahrt: Mehrere Fahrer liegen nach einem schweren Massensturz auf der 4. Etappe auf dem Boden - darunter Jonas Vingegaard (l.)

Fotocredit: Eurosport

Muss man bei Streckenbesichtigungen, den sogenannten Recons, in Zukunft noch detaillierter vorgehen, um Risiken zu minimieren?
Voigt: Ja, eventuell muss das Wahrscheinlichkeitsszenario erweitert werden. Aussagen wie, "die stürzen an dieser Stelle niemals", darf es dann nicht mehr geben. Bei großen Rundfahrten könnte man außerdem sagen: Einen Monat vorher muss eine Dreiergruppe, bestehend aus einem Mitglied des Veranstalters, der UCI und einem Fahrervertreter, die Strecke abfahren. Wenn diese drei Leute sagen: Ja, das ist sicher, dann wird sie abgenommen. Wenn eine der drei Parteien jedoch Zweifel hat, muss nachgebessert werden. Und wenn zwei Parteien nein sagen, wird das einfach gecancelt. Aber wenn du es ganz sicher machen willst, darfst du nur noch Radrennen auf einem ADAC-Testgelände veranstalten. Auf öffentlichen Straßen gibt es eben immer wieder 'Road Furniture', also Verkehrsinseln und Verkehrsteiler. Für Fußgänger macht das die Straße sicherer, aber für Radrennen sind die kontraproduktiv.
Wie kann der Radsport insgesamt sicherer gemacht werden?
Voigt: Ich würde versuchen, die Anzahl an Fahrzeugen und Motorrädern zu verringern und stattdessen mehr Drohnentechnik einsetzen. In Arenberg könnte man zum Beispiel eine Kamera, die auf einem kleinen Schienenschlitten nebenherfährt, installieren. Ähnlich der, die auch auf den Champs-Élysées benutzt wird. Dadurch bekommst du die Straßen freier für die Fahrer. Das würde schon einmal helfen. Eine andere Idee wäre es, das Peloton alle 30 Kilometer eine völlig unnötige Extra-Schleife fahren zu lassen. Ein kleines Viereck. Alle Pressemotorräder, Teamfahrzeuge, die überholen wollen, können dann einfach geradeaus fahren, ohne dass sie am Peloton, das umgeleitet wurde, vorbeimüssen. Dann würden diese Überholvorgänge zwischen Autos und dem Peloton nicht mehr so oft stattfinden. Bei den Helmen haben schon einige gute Entwicklungen stattgefunden. Zum Beispiel das Mips-System. Also Systeme, die den Schock besser absorbieren, die den Druck ableiten, damit es weniger Gehirnverletzungen gibt. Vielleicht muss man irgendwann eine Art selbstaufblasbaren Airbag integrieren. Entweder am Rad oder im Schulterbereich des Trikots. Klar, wäre das mehr Gewicht, aber wenn es für alle vorgeschrieben ist, ist es weder Vor- noch Nachteil. Es gibt ja Systeme, die in Mikrosekunden auslösen.
Der Winkel, in dem sein Oberschenkel stand, sah nicht normal aus. Das war krass.
Auch im Vorfeld von Paris-Roubaix wurde viel über Sicherheit diskutiert. Aufgrund der jüngsten Sturzwelle gab es sogar eine Streckenänderung: In die Einfahrt der Kopfsteinpflaster-Passage des Waldes von Arenberg wurde eine Schikane eingebaut. Unter anderem Mathieu van der Poel hat bereits Kritik geäußert. Wie bewerten Sie die Maßnahme?
Voigt: Die vorherrschende Meinung ist, dass das Sturzrisiko vom Pavé-Stück einfach in die Schikane vorverlegt wurde. Ob die jetzt alle darum kämpfen, unter den Top Ten in den Arenberg reinzufahren oder in die Schikane reinzufahren? Es wird trotzdem enger. Aber: Ich bin auch einmal im Regen in den Wald von Arenberg gefahren. Da waren wir unfassbar schnell, das war fast wie ein Zielsprint. Ich dachte, naja wir sind hier 30 Fahrer, was drängeln die denn alle so? Es ist doch Platz für alle. Ich fahre also circa an Position 20 rein. Vor mir stürzt an Position zehn Philippe Gaumont und zieht sich einen Oberschenkelhalsbruch zu. Ich wollte mit meinem Rad in der Hand über sein kaputtes Rad hinüberklettern, schaue dabei nach unten und Gaumont schreit. Der Winkel, in dem sein Oberschenkel stand, sah nicht normal aus. Das war krass. Deshalb wollen alle so schnell fahren und nach vorne kommen. Denn: Umso weiter vorne du bist, desto sicherer ist es. Es macht also schon Sinn, das Tempo durch die Schikane zu verlangsamen. Es ist vielleicht nicht perfekt umgesetzt, aber ich verstehe die Intention.
Die Fahrweise der Gruppe in der Abfahrt beim Sturz von van Aert und Co. in Flandern war extrem aggressiv. Inwiefern tragen die Profis selbst Verantwortung für Unfälle wie diesen? Schließlich wusste man um die Gefährlichkeit der Stelle und hätte nicht mit dem Messer zwischen den Zähnen fahren müssen.
Voigt: Es sind Profis. Ein Fahrer wie Wout van Aert wird nach Ergebnissen bezahlt und bewertet. Wenn du freundlich bist, gewinnst du nur selten. Sepp Kuss ist ein gutes Beispiel: Der ist ein toller, talentierter Rennfahrer, aber er ist nicht egoistisch genug, ihm fehlt der Killerinstinkt. Oder auch Tejay van Garderen: Körperlich war er super talentiert, aber bei den großen Rundfahrten fehlte ihm der Killerinstinkt. Als Leistungssportler musst du ein gewisses Maß ein Egoismus haben. Manchen fehlt das. Die haben vielleicht eine längere Karriere und stürzen seltener. Aber erinnert man sich an sie? Nein. Das wissen die Fahrer. Klar sind sie mitverantwortlich für Stürze. Aber wenn 30 Fahrer in die Top Ten wollen, kann das nicht gutgehen. Das erzeugt eine Menge Druck. Damit ist die Unlösbarkeit des Problems dargestellt.
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Fataler Sturz im Favoritenfeld! Van Aert schwer gezeichnet

Van Aert hat sich beim Sturz das Schlüsselbein und sieben Rippen gebrochen, wurde operiert – und könnte bereits zum Giro wieder zurückkehren. Wie realistisch und vor allem sinnvoll ist das?
Voigt: Im olympischen Jahr 1992 bin ich gestürzt, habe mir das Schlüsselbein gebrochen und bin acht, neun Tage später mit der deutschen Nationalmannschaft bei der Niedersachsen-Rundfahrt an den Start gegangen. Das Schlüsselbein war operiert, eine Platte drin, zugenäht, Pflaster drauf. In der zweiten Etappe wurden dann die Fäden gezogen. Es geht also. Das Schlüsselbein ist form- und belastungsstabil, weil die Platte fixiert ist. Rippenbrüche sind eine andere Geschichte. Das kann man nicht beschleunigen und operieren. Vier bis sechs Wochen lang hast du Schmerzen bei jedem tiefen Atemzug, bei jeder Armbewegung, jedem Stoß auf der Straße. Das ist eine üble Geschichte, die schweinemäßig wehtut und unangenehm ist. Training wird da schwierig.
Und bis zum Giro sind es ja gerade einmal noch vier Wochen ...
Voigt: Ich bewundere seine Willensstärke, seine Entschlossenheit. Er ist ein harter Kerl - und Radsportler heilen schnell. Aber mit den Rippenbrüchen sehe ich nicht, dass er in Italien um die Gesamtwertung mitfährt. Die erste Woche durchkämpfen und dann in Woche zwei und drei eventuell noch ein oder zwei Etappensiege einfahren, ist eventuell möglich. Aber auch das ist sehr ambitioniert. Zudem besteht für Visma-Lease a Bike die Gefahr, dass er an Tag zwei aufgibt, weil die Schmerzen zu groß sind. Das würde die Mannschaft schwächen. Mit Matteo Jorgenson wollen sie ja den Giro gewinnen. Vielleicht würde es mehr Sinn machen, sie schicken ihn in ein Trainingslager, wo er unter perfekten Bedingungen trainieren kann.
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Der zweite Teil des Interviews mit Jens Voigt, in dem der Eurosport-Experte die Favoriten und deutschen Chancen beim Klassiker Paris-Roubaix (Sonntag live bei Eurosport und discovery+) analysiert, erscheint am Samstag um 11:00 Uhr.
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