Georg Steinhauser exklusiv: "Unsere eigene Geschichte schreiben" - Deutschlands Durchstarter 2024 im Interview

Georg Steinhauser kann als der deutsche Durchstarter im Radsportjahr 2024 gelten. Sein Etappensieg beim Giro d'Italia als Ausreißer vor Dominator Tadej Pogacar war spektakulär und Zeichen seiner großen Bergfahrer-Qualitäten. Im exklusiven Interview mit Eurosport spricht er über den Sieg am Passo Brocon, seinen besonderen Werdegang zum Radprofi und die Tipps von Vater Tobias und Onkel Jan Ullrich.

Papa in Tränen: So erlebte Tobias Steinhauser den Sieg von Sohn Georg

Quelle: Eurosport

Ungläubig schlägt er die Hände über dem Kopf zusammen - der Regen, die Nässe, die Anstrengung - all das ist weit weg, als Georg Steinhauser jubelnd über die Ziellinie fährt. Mit 22 Jahren gewinnt er eine Grand-Tour-Etappe - nicht irgendeine, sondern eine Bergankunft beim Giro d'Italia, am Passo Brocon, während hinter ihm der "Kannibale" Tadej Pogacar heranfliegt.
Aber diesmal kommt die Attacke des Slowenen zu spät, anders als drei Tage zuvor, als Steinhauser Etappen-Dritter wurde und Pogacar auf dem Weg nach Livigno noch an ihm vorbeflog.
"Ich glaube, nach der 15. Etappe hat er mir den Sieg wenig später schon gegönnt", sagte der jetzt 23-Jährige im exklusiven Interview mit Eurosport. Für den Profi des US-Teams EF-Education der vorläufige Höhepunkt seiner Karriere.
Einige hundert Kilometer nördlich saß sein Vater Tobias, selbst einst erfolgreicher Profi, im TV-Studio bei Eurosport und konnte seine Emotionen über den Sieg des Sohnes kaum zurückhalten. Ein kleiner großer Radsport-Moment des Jahres 2024, über den der Sohn auch im Interview spricht.
Herr Steinhauser, wenn wir auf Ihre Saison zurückblicken, müssen wir natürlich über den Giro-Etappensieg sprechen. Es war der absolute Höhepunkt und auch ein besonderes Erlebnis für uns bei Eurosport. Wir erinnern uns gerne an die Szene, in der Ihr Vater Tobias live im Fernsehen sehr emotional wurde. Haben Sie sich diesen Moment vielleicht schon gemeinsam angesehen? Wie haben Sie das wahrgenommen?
Georg Steinhauser: Wir haben es uns nicht gemeinsam angeschaut, aber natürlich habe ich die Szene mitbekommen. Noch am Abend nach dem Abendessen habe ich mir das angeschaut. Es war schon ein besonderes Erlebnis, vor allem auch die Emotionen meines Vaters im Fernsehen zu sehen. Das hat es zu etwas wirklich Außergewöhnlichem gemacht. Es war eine andere Art von Emotionen. Ich denke, wir waren letztlich auf einem ähnlichen Level, aber aus unterschiedlichen Gründen.
Wie sortieren Sie diesen Erfolg ein: Als Startschuss für eine noch junge Karriere oder die Bestätigung der bisherigen Arbeit?
Steinhauser: Ich hoffe natürlich, dass es der Startschuss war, aber das weiß man nie. Es hat drei Jahre gedauert, bis ich diesen Sieg errungen habe. Natürlich war ich in dieser Zeit noch jünger und habe viel Erfahrung gesammelt. Es kann aber genauso gut wieder drei Jahre dauern, bis der nächste Sieg kommt - auch wenn ich das nicht hoffe. Wichtig ist, dass ich, sollte es in der kommenden Saison aus irgendeinem Grund nicht klappen, nicht den Kopf in den Sand stecke. Die Erfahrungen des letzten Jahres helfen mir, an meine Möglichkeiten zu glauben und darauf aufzubauen. Das ist meine Herangehensweise. Ob es klappt oder nicht, wird die Zukunft zeigen.
War der Giro als Fokus von Anfang an so gesetzt - und wie sieht der Plan für 2025 aus?
Steinhauser: Ja, das war so geplant. Allerdings wurde die Pause durch eine Covid-Infektion unfreiwillig verlängert. Für 2025 ist ein ähnlicher Plan vorgesehen: Der Giro soll erneut ein großes Ziel sein, eventuell gefolgt von der Vuelta. Aber bis dahin kann sich noch viel ändern.
Also noch keine Tour de France im nächsten Jahr. Ist die Rundfahrt ein großes Ziel für Sie in der Zukunft?
Steinhauser: Leider noch keine Tour. Es eilt für mich nicht, die Tour schon im kommenden Jahr zu fahren, auch wenn ich natürlich irgendwann teilnehmen möchte. So wie der Rennplan jetzt aussieht, ist er schon sehr gut.
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Georg Steinhauser gewann die 17. Etappe des Giro d'Italia als Solist

Fotocredit: Getty Images

Als starker Bergfahrer mit Talent für die richtige Spitzengruppe stellt sich die Frage: Ausreißersiege oder Gesamtklassement? Beim Giro wurde Ihnen die Entscheidung durch die Krankheit in der ersten Woche abgenommen. Was bevorzugen Sie und wie ist der Plan diesbezüglich für die Zukunft?
Georg Steinhauser: Der Giro war meine erste Grand Tour. Ich habe gemerkt, dass eine dreiwöchige Rundfahrt zu fahren gar nicht so schwer ist, wie ich mir das vorgestellt habe. Ich dachte immer, dass es extrem schwer wäre. Andersrum war es noch viel schwerer als gedacht, eine Grand Tour mit dem Fokus auf dem Gesamtklassement zu fahren. Ich möchte das auf jeden Fall irgendwann ausprobieren, aber dafür fehlt mir aktuell noch die Erfahrung. Ich genieße es, derzeit frei fahren zu können und Etappensiege anzustreben. Später kann ich mich immer noch auf das Gesamtklassement konzentrieren, wenn ich die entsprechende Form habe und ich bestätigen kann, dass ich bei einer großen Rundfahrt so gut fahren kann.
Ist es wirklich so, dass der Unterschied zwischen einer Rolle im Gesamtklassement und der Jagd nach Etappensiegen so groß ist? Beim Gesamtklassement muss man ja jeden Tag an die Grenzen gehen, während man sich beim Fokus auf einzelne Etappen auch mal "erholen" kann.
Steinhauser: Ja, genau so ist es. Mental hat es mir viel gebracht, an bestimmten Tagen zu wissen, dass ich es ruhig angehen lassen kann. Ich wusste an einigen Tagen, dass es nicht schlimm ist, wenn ich 20 Kilometer vor dem Ziel abgehängt werde, ich kann es rollen lassen, um Energie für den nächsten Tag zu sparen. Diese Freiheit hat mir sehr geholfen. Ich glaube auch, dass einem die Erfahrung hilft, so etwas besser zu verkraften und sich mental darauf einzustellen als bei mir als jungem Fahrer, für den alles neu und aufregend war.
Ihr erster Verfolger beim Giro-Etappensieg war Tadej Pogacar. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie erfahren haben, dass er hinterherjagt?
Steinhauser: Ich erinnerte mich an die 15. Etappe. Ich hatte etwa dreieinhalb Minuten Vorsprung, als über Funk kam: "Pogacar attackiert." Gefühlte zwei Minuten später hieß es, er habe nur noch eine Minute Rückstand. Und nochmal zwei Minuten später war er schon an mir vorbei. Er ist einfach auf einem anderen Level. Das muss man akzeptieren. Vor seiner Leistung kann man nur den Hut ziehen. Andererseits ist er ein ganz normaler Fahrer. Beim Giro gibt es so einen Umkleideraum hinter dem Siegerpodest, da hat er sich ganz nett und freundlich gezeigt.
Er hat mir meinen Sieg bei Etappe 17 definitiv gegönnt. Da hatte ich die Etappe kurz vorher natürlich im Hinterkopf, aber ich war mir eigentlich sicher, dass es sich mit dem Vorsprung ausgehen wird. Zwei, drei Kilometer vor dem Ziel wurde der Schlussanstieg etwas flacher und da wusste ich dann, dass ich es in der Tasche habe.
Was macht Pogacar Ihrer Meinung nach so stark?
Steinhauser: Ich denke, es ist vor allem sein Talent. Natürlich arbeitet er extrem hart, aber das tun viele. Sein Talent macht den Unterschied.
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Georg Steinhauser fährt seit 2022 für das US-amerikanische Team EF Education First

Fotocredit: Getty Images

Ihr eigener Weg zum Profi hat auch eine Ausbildung umfasst, die Sie parallel absolviert haben. Wie war das, gerade auch im Hinblick darauf, dass Ihr Vater Tobias dort Ihr Chef war?
Steinhauser: Damals war ich so jung und motiviert, Profi zu werden, dass ich das nicht als Belastung empfunden habe. Rückblickend war es eine extrem harte Zeit, jeden Tag von 6:30 bis 14:30 Uhr zu arbeiten und danach aufs Rad zu steigen. Aber ich würde es genauso wieder machen. In meinem ersten Jahr bei EF war es dann am Ende wohl zu viel, weil ich die Gesellenprüfung noch absolvieren musste. EF hat mir das jedoch ermöglicht und viel Rücksicht genommen. Dafür bin ich sehr dankbar. Am Ende war es auf jeden Fall für mich die richtige Entscheidung.
Sie gehen jetzt in Ihr viertes Jahr bei EF: Abgesehen von der Unterstützung zum Ende der Ausbildung - was zeichnet das Team aus?
Steinhauser: Ich glaube, dass ich ein gutes Beispiel bin. Dadurch, dass sie mir das ermöglicht haben, zeigen Sie, dass die Menschlichkeit auch einen besonderen Stellenwert hat. Gleichzeitig ist es ein professionelles Team, das stark auf Performance fokussiert ist: Sei es durch die Ernährung oder Aero-Tests und so weiter.
War es für Sie eine Umstellung, sich einem ausländischen Team anzuschließen, anstatt in der Heimat zu bleiben? Hat vielleicht auch Jonas Rutsch als deutscher Kollege, der das Team inzwischen verlassen hat, eine Rolle gespielt?
Georg Steinhauser: Es war tatsächlich gut für mich, dass Jonas Rutsch und Stefan Bissegger mich von Anfang an sehr unterstützt haben. Sie haben mir den Einstieg in das Team erleichtert und mich gut integriert. Wir sind ein internationales Team mit Mitarbeitern aus etwa 25 verschiedenen Nationen, und jeder ist sehr offen. Deshalb war es für mich kein Problem, in ein amerikanisches Team zu wechseln. Letztendlich lebe ich ja weiterhin in meiner Heimat, und abgesehen von den Trainingslagern bin ich meistens daheim. Ich fühle mich bei EF sehr wohl und das ist mir wichtig.
Mit Ihrem Vater Tobias und Onkel Jan Ullrich gibt es zwei bekannte Namen in Ihrer Familie. Im Team wiederum fährt mit Markel Beloki ein weiterer Sohn eines Ex-Stars. Gibt es da Sticheleien in Richtung der 2000er-Jahre oder hat das für Sie keine große Rolle gespielt?
Steinhauser: Wir machen uns da keinen großen Kopf. Markel und ich sind uns einig, dass wir unsere eigenen Geschichten schreiben wollen. Es ist kein Merkmal, das uns als Fahrer prägt, wir wollen unseren eigenen Weg gehen. Es ist schön, Ratschläge zu bekommen und die nehme ich auch gerne an. Letztlich ist es so, dass sich seit ihrer aktiven Zeit der Radsport stark verändert hat. Wenn mein Vater das heutige Training sieht, ist das kein Vergleich zu seiner Zeit - sei es die Ernährung oder die Trainingsmethoden. Wenn ich einen Ratschlag brauche, kann ich jederzeit zu den beiden kommen, aber sie wissen auch, dass ich in einem professionellen Umfeld tätig bin. Die Ratschläge belaufen sich also eher auf Lebensweisheiten und allgemeine Dinge.
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Jan Ullrich und Tobias Steinhauser bei der Tour de France 2003

Fotocredit: Imago

Was meinen Sie, inwiefern Ihre Rolle im kommenden Jahr anders zur abgelaufenen Saison sein wird?
Steinhauser: Meine Rolle wird wahrscheinlich ähnlich sein, aber das Team wird sicher auch etwas mehr von mir erwarten. Das Team ist ähnlich aufgestellt wie letztes Jahr. Wie genau der Rennplan für die Leader aussehen wird, weiß ich noch nicht. Das wird sich in den nächsten Monaten klären, und dann sehe ich auch, welche Aufgaben ich bei den verschiedenen Rennen übernehmen werde.
Welche Fahrer werden Ihrer Meinung nach 2025 die großen Rennen prägen? Glauben Sie, Pogacar kann ein ähnliches Jahr haben wie 2024 oder wird jemand anderes in den Vordergrund rücken?
Steinhauser: Ich denke, es ist allen klar, dass Pogacar auf jeden Fall versuchen will, Mailand - Sanremo zu gewinnen. Ich kenne die Rennpläne der großen Kapitäne gar nicht aus dem Stehgreif. Daher ist es schwer zu sagen, aber es werden sicher die gleichen Protagonisten eine Rolle spielen. Aber vielleicht überrascht uns auch jemand Neues – zum Beispiel mein alter Freund Florian Lipowitz, da bin ich sehr gespannt, was er im kommenden Jahr leisten wird.
Wie verbringen Sie jetzt die Feiertage im heimischen Allgäu?
Steinhauser: Über Weihnachten habe ich eine Ruhewoche, da bin ich zu Hause und verbringe Zeit mit Freunden und Familie. Das Rad wird aber nicht komplett in die Ecke gestellt - ich werde weiterhin ein bisschen trainieren. Trotzdem genieße ich es sehr, in dieser Zeit bewusst daheim zu sein und die Feiertage entspannt zu verbringen.
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Tour de France 2025: Die Strecke der 21 Etappen bis nach Paris

Quelle: Eurosport


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