Giro d'Italia 2023 - Jens Voigt im Interview: "Lennard Kämna ist bereit, wie es nur geht!"
Beim Giro d'Italia greift Lennard Kämna in der Gesamtwertung an: Jens Voigt analysiert die Chancen des Bora-Kapitäns in seiner großen Vorschau. Im Duell der Superstars zwischen Remco Evenepoel und Primoz Roglic hat der Deutsche aus Sicht des Eurosport-Experten durchaus Chancen auf das Podium - und Voigt hat auch einen klaren Favoriten auf den Gesamtsieg bei der Italien-Rundfahrt.
Podium im Visier: Das Giro-Aufgebot von Team Bora-hansgrohe
Quelle: Eurosport
Hochspannung über 3481 Kilometer verspricht der Giro d'Italia 2023: Mit einem elektrisierenden Zweikampf um den Gesamtsieg, deutschen Chancen auf das Podest in Rom und guten Aussichten auf Etappensiege können sich die Fans drei Wochen lang auf Radsport der Extraklasse freuen.
Schon beim Auftakt geht es im ersten von drei Einzelzeitfahren um jede Sekunde.
Bereits auf der 4. Etappe warten schwere Anstiege und die erste Bergankunft, bevor die Rundfahrt über einen Abstecher in die Schweiz Kurs auf die extrem fordernde Schlusswoche nimmt.
Jens Voigt, selbst einst Etappensieger beim Giro, traut im Interview mit Eurosport.de insbesondere zwei deutschen Fahrern viel zu und legt sich auch klar auf den Gesamtsieger fest.
Lennard Kämna startet beim Giro erstmals in neuer Rolle und fährt auf Gesamtwertung, wie ist er für diesen Schritt gerüstet?
Jens Voigt: Ich denke schon, dass das für ihn passen könnte - er hat letztes Jahr in Italien seine 'Meisterprüfung' gemacht, als er sowohl in beeindruckender Art eine Bergetappe gewonnen hat als auch ein wichtiger Mann für Jai Hindleys Gesamtsieg war. Er kann also bei schweren Rennen Tagessiege holen und gleichzeitig auch noch in der dritten Woche Topleistung zeigen. Körperlich bringt er also alles mit und auch mental hat ihm der letzte Giro gezeigt, dass er drei Wochen lang stabil fahren kann: Er ist so bereit, wie es nur geht!
Als 19. der Gesamtwertung im letzten Jahr hat er sein Potential schon gezeigt, war zuletzt bei der Tour of the Alps und zuvor Tirreno-Adriatico stark unterwegs - was ist für ihn beim Giro möglich?Noch nie stand ein Deutscher beim Giro nach drei Wochen auf dem Podium ...
Voigt: Er ist in einer faszinierenden, aber auch frustrierenden Ära aktiv: Man muss kein Atomphysiker sein, um zu wissen, dass die ersten beiden Plätze bei diesem Giro für Remco Evenepoel und Primoz Roglic reserviert sein werden. Ich sehe zumindest niemand, der sie schlagen könnte. Damit bleibt für die 'normalen' Fahrer bestenfalls Platz drei und dafür kommen etliche in Frage. Kämna müsste mindestens so stark sein wie Hindley letztes Jahr, um Dritter werden zu können.
Wie hilfreich ist es für Kämna, beim Gesamtsieg von Hindley im letzten Jahr, aber auch beim fünften Platz von Aleksandr Vlasov bei der Tour 2022 hautnah dabei gewesen zu sein, was lernt man dabei für eine eigene Kapitänsrolle jetzt?
Voigt: Er weiß dadurch eben aus erster Hand genau, was für diese Aufgabe nötig ist, außerdem kennt er seine direkten Rivalen auch schon gut. Ihm ist klar, dass er sich mit Damiano Caruso und Jack Haig vom Team Bahrain, seinem Co-Kapitän Vlasov oder Ex-Sieger Tao Geoghegan Hart von Ineos duellieren muss, wenn es um den letzten freien Platz auf dem Podium geht. An dem kann er sich orientieren, muss versuchen, am Berg an ihm dranzubleiben und ihm in den Zeitfahren möglichst viel abzunehmen. Dann hat er die Chance, zwischen Platz drei bis sechs zu landen. Das setzt aber voraus, dass er absolut freie Hand hat - denn Bora hat ja auch noch Vlasov im Rennen.
/origin-imgresizer.eurosport.com/2023/05/02/3696550-75220928-2560-1440.jpg)
Cycling Show: Boras Schlüssel zum Erfolg liegt in der Akribie
Quelle: Eurosport
Was ist dem Russen zuzutrauen: Bei der Tour im letzten Jahr hat ihn nur ein Sturz um eine noch bessere Platzierung als seinen fünften Rang gebracht …
Voigt: Eigentlich müsste er der Top-Anwärter auf den direkten Platz hinter Evenepoel und Roglic sein, wenn es um Kampfgeist, Zuverlässigkeit, absoluten Einsatzwillen geht. Aber Vlasov scheint immer wieder mal einen Sturz oder Defekt in ungünstiger Situation zu haben, er verliert relativ häufig unglücklich Zeit. Das wirft ihn zurück und er muss dann immer gegen einen Rückstand ankämpfen und konnte kaum je aus sicherer Position einen Spitzenplatz verteidigen. Dadurch ist er immer etwas unter Druck, statt auch mal abwartender agieren zu können. Aber rein von den körperlichen Voraussetzungen ist er ein großartiger Fahrer.
Wer hat im großen Duell um den Gesamtsieg der beiden Superstars die besseren Karten?
Voigt: Für mich hat im Ranking der Favoriten nur Evenepoel fünf Sterne, Roglic folgt für mich mit vier Sternen - und alle anderen Fahrer haben maximal zwei. Der entscheidende Vorteil von Evenepoel ist sein Alter, er ist fast zehn Jahre jünger - und das wird den Ausschlag geben. Sie sind ansonsten schon fast gleichstark in allen Belangen, sind starke Zeitfahrer und top in den Bergen, haben sehr starke, auf sie zugeschnittene Teams. Doch nach rund zwei Rennwochen kommt der Faktor ins Spiel, dass sich Evenepoel schneller erholt, frischer sein wird und dadurch den Giro gewinnt: Erholung schlägt da Erfahrung.
Welche Etappe wird der Schlüssel zum Gesamtsieg sein? Könnte alles auf das schwere Zeitfahren am vorletzten Tag herauslaufen?
Voigt: Die beiden flacheren Zeitfahren sind zumindest auf jeden Fall zu kurz, um für größere Abstände zwischen den beiden zu sorgen. Ich gehe davon aus, dass sie da nur etwas zehn bis fünfzehn Sekunden auseinander liege werden - falls es nicht sogar noch knapper wird. Deshalb gehe ich von einer epischen Schlacht in der Schlusswoche aus, davor ist das Profil nicht schwer genug, dass sie sich da gegenseitig Minuten abnehmen könnten - bei allen Herausforderungen, die da trotz allem auf dem Programm stehen. In der ersten Rennhälfte wird es eher spannend sein, den Kampf der anderen Topfahrer um den dritten Platz zu beobachten. Wobei sowohl Evenepoel als auch Roglic immer auch für Überraschungen und mutige Attacken weit vor dem Ziel zu haben sind: Beide haben schon gezeigt, dass sie bereit sind, Risiko zu gehen. Wahrscheinlicher ist aber ein Belauern der beiden, das dann in der letzten Woche entschieden wird: Wer hat dann noch die meisten Kräfte übrig?
Falls einer der beiden gleich beim Auftakt-Zeitfahren (Samstag ab 15:00 Uhr im Liveticker) das Rosa Trikot holen sollte: macht es Sinn, das maglia rosa dann direkt wieder absichtlich abzugeben, um die Kräfte der eigenen Mannschaft nicht zu sehr zu strapazieren?
Voigt: Tatsächlich könnten beide in der Lage sein, diese erste Etappe über knapp 20 Kilometer zu gewinnen, auch wenn man Filippo Ganna immer mit auf der Rechnung haben muss. Es gibt aber nur wenige Fahrer, die das Führungstrikot vom Start der Rundfahrt bis ins Ziel getragen haben. Es bedeutet viel Arbeit und Stress für ein Team und da macht es auf jeden Fall Sinn, das Trikot zwischenzeitlich noch einmal wandern zu lassen.
Könnte es bei einem solchen absoluten Zweikampf auch Chancen für einen 'lachenden Dritten' geben? Beim Giro 2019 etwa waren Roglic und Vincenzo Nibali so aufeinander fokussiert, dass die Richard Carapaz zu viel Freiraum ließen und dieser an Ende ganz oben auf dem Podium stand …
Voigt: In der Theorie ist das möglich, aber inzwischen ist alles im Radsport wirklich so minutiös geplant, dass genau kalkuliert wird, wie lange man pokern kann und wann dann aber auch wirklich Tempo gefahren werden muss.
/origin-imgresizer.eurosport.com/2023/04/19/3687234-75034608-2560-1440.jpg)
Kämna stürmt bei Bergankunft zum Sieg: Doppelschlag für Bora
Quelle: Eurosport
Bei Team Jumbo mussten kurzfristig nach Coronainfektionen mehrere starke Helfer ersetzt werden. Wie hart trifft das die Mannschaft um Roglic?
Voigt: Ich denke, sie können das problemlos kompensieren. Die Profis, die jetzt nachrücken, sind ebenfalls großartige Fahrer - und sie werden darauf brennen, sich zu beweisen und die Teamleitung in dieser Entscheidung zu bestätigen. Der Umbau hat die Mannschaft nicht geschwächt, das sollte kein Problem sein.
Pascal Ackermann kehrt zurück zum Giro, wo er mit Etappensiegen und dem Triumph in der Punktewertung einst seine größten Erfolge gefeiert hat. Was können wir von ihm erwarten?
Voigt: Ich gehe schwer davon aus, dass er zwei Etappen gewinnt! Er muss unglaublich motiviert sein, sich zu beweisen. Allerdings hat er im Team UAE wenige echte Helfer für sich in den Sprints dabei, das wird schwierig für ihn. Er will endlich mit aller Entschlossenheit und auch mit etwas Verzweiflung wieder zeigen, dass er zu den großen Sprintern gehört, die um große Siege fahren.
Das könnte Dich auch interessieren:
/origin-imgresizer.eurosport.com/2022/10/17/3474760-70842368-2560-1440.jpg)
Alle 21 Etappen des Giro d'Italia - die Strecke in der Übersicht
Quelle: Eurosport
Ähnliche Themen
Werbung
Werbung
/origin-imgresizer.eurosport.com/2024/12/18/image-501de6cc-5a93-472f-ba7e-2a32bf0eb94e-68-310-310.jpeg)