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Hajo Seppelt im Interview über das Ullrich-Geständnis und Doping im Radsport: "Weiß nicht, was passiert wäre ..."

Andreas Schulz

Update 24/11/2023 um 19:20 GMT+1 Uhr

Hajo Seppelt hat die Dopingaffären im Radsport jahrelang als Investigativjournalist der "ARD" engstens begleitet. Das späte Geständnis von Jan Ullrich, das der Experte in München vor Ort erlebte, ordnet er nun exklusiv für Eurosport.de im Interview ein. Für ihn ist der frühere Radstar und dessen zögerlicher Umgang mit der eigenen Vergangenheit ein "Beispiel für Gefahren des Hochleistungssports".

Ullrich: "Radsport ist die beste Medizin für mich"

Jetzt hat Jan Ullrich den lange erwarteten Satz "Ja, ich habe gedopt" ausgesprochen: Wie ordnen Sie das ein: Ein Meilenstein oder doch eher nur der letzte kleine formale Schritt, der noch fehlte?

Hajo Seppelt: Ein Meilenstein ist es für mich nicht, höchstens für die Journalisten, die seit Jahren auf diese Aussage warteten. Aber eigentlich hatte er es schon längst gesagt, sowohl zwischen den Zeilen als auch manchmal darüber hinaus. Was die öffentliche Wirkung betrifft, würde ich es daher nicht überbewerten, denn letztlich wusste das ja jeder schon. Für ihn persönlich aber ist es aus meiner Sicht wichtig, dass der Satz mal gesagt wurde: Damit er nicht ständig gefragt wird, warum er ihn nicht sagt.
Hätten Sie sich über den Satz hinaus gewünscht, dass Ullrich neben dem Bekenntnis zu seinem eigenen Doping auch andere Beteiligte nennt - ob nun öffentlich oder gegenüber Verbänden oder Fahndern, um Strukturen und Hintermänner angehen zu können?
Seppelt: Ich habe da eine differenziertere Auffassung und über die vielen Jahre dazugelernt: Ich sehe Doping nicht als Schwerverbrechen an, sondern als Regelverstoß, auch wenn dieser in der Regel elementar ist. Dieser muss geahndet werden und das Dopingverbot im Sport ist aus meiner Sicht auch alternativlos. Trotzdem ist es für mich nachvollziehbar, dass jemand, der im Peloton unterwegs ist oder war, wie Ullrich hier, von Waffengleichheit spricht, wenn viele schlicht das Gleiche taten. Ich kann es menschlich verstehen, dass er Leute nicht ans Messer liefern möchte. Meinem Eindruck nach ist Jan Ullrich lange eine tragische Figur gewesen und ich hatte bei seinem Auftritt jetzt hier in München das Gefühl, dass er aus diesem Dilemma herauskommt. Für mich hat er in seiner Radsportkarriere zwei Rollen eingenommen: Er war Täter und Opfer zugleich. Dass er sich nicht über andere erheben will, kann ich verstehen. Er vertritt die Auffassung, so wirkt es auf mich, dass jeder selbst entscheiden muss, wie er damit umgeht. Er hat auch sehr deutlich gemacht, dass er heute zwar nicht mehr dopen würde - wenn er aber mit dem Wissen von damals herangehen würde, es wahrscheinlich wieder genauso gemacht hätte. Das ist eine Offenheit, die ich gut finde. Und ich finde, so mein Eindruck, dass er ein Stück weit die Arbeit von uns investigativen Journalisten nicht mehr ganz so sieht wie früher. Ullrich ist jetzt hier beispielsweise Lichtjahre entfernt von dem Auftritt bei seiner Rücktritts-Pressekonferenz 2007, als manche Journalisten nur geduldet waren. Hier haben wir uns erstmals die Hände geschüttelt und begrüßt.
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Hajo Seppelt

Fotocredit: Imago

Es war eine bemerkenswerte Stimmung im Kinosaal nach Ende der dritten Folge der Dokumentation, die mit der Trauer um seinen an Drogenmissbrauch verstorbenen Rivalen Marco Pantani schließt. Hat das die Gratwanderung, die manche Jahre auch für Ullrich waren, nochmals erschreckend greifbar gemacht?

Seppelt: Ja - und Jan Ullrich ist da für mich auch ein Beispiel für die Gefahren des Hochleistungssports und wie Menschen dort oft schlecht beraten und alleingelassen werden. Ich glaube, dass er ganz schlechte Berater hatte, die aus meiner Sicht auch intellektuell nicht geeignet waren, ihn auf den richtigen Weg zu bringen, die selbst ein Interesse daran hatten, dass Dinge nicht aufgeklärt werden, die an ihm kräftig mitverdienten und darüber hinaus einfach nur komplett überfordert gewesen sein dürften. Dass man dann so auf Abwege geraten kann, wie es bei Ullrich der Fall war, kann ich menschlich nachvollziehen. Er lebte damals in einer anderen Welt. Aus der ist er nun herausgetreten und das macht ihn eindeutig freier. Er war, glaube ich, in diesem Metier nicht einer der Stabilsten und das kann eine extreme nervliche Belastung und Überforderung bedeuten. Zum Glück hatte er noch genügend Menschen um sich herum, von denen er ja auch hier wieder gesprochen hat, die ihn aufgefangen haben. Wenn es die nicht gegeben hätte - ich weiß nicht, was passiert wäre. So hat er es nach meiner Wahrnehmung auch selbst gesehen.
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Jan Ullrich

Fotocredit: Getty Images

Im Vergleich zu den Jahren mit Festina-Skandal oder Operation Puerto ist es beim Thema Doping im Radsport fast auffällig ruhig geworden – teilen Sie diesen Eindruck?
Seppelt: Ich glaube tatsächlich, dass Doping im Radsport nicht mehr so systemisch und systematisch abläuft wie noch vor 20 oder 30 Jahren. Insofern hat es schon reinigende Gewitter gegeben. Aber zu glauben, dass die Mentalität im Sport sich verändert hat, das wage ich doch sehr zu bezweifeln. Es ist vielmehr die Angst vor Aufdeckung, vor sozialer Ächtung, davor, sein Leben zu ruinieren - gerade in Deutschland, wo so etwas besonders intensiv verfolgt wird - als auslösender Faktor, warum Athleten beim Doping vorsichtiger geworden sind. Für mich gilt weiterhin die Formel, dass Veranstalter, Vereine, Verbände, Teile der Medien und Sportartikelhersteller nicht primär ein Interesse an Dopingbekämpfung haben - sondern daran, Doping aus der öffentlichen Diskussion herauszuhalten. Denn Doping wird nur dann geschäftsschädigend, wenn es öffentlich wird. Ansonsten profitieren alle davon, weil die Leistungen sich verbessern. Die Kollateralschäden wie gesundheitliche Risiken und in Einzelfällen auch der Tod werden verdrängt oder sogar in Kauf genommen.
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Blutbeutel der Operation Puerto um Doping-Arzt Eufemiano Fuentes

Fotocredit: Eurosport

Hat sich also letztlich kaum etwas positiv entwickelt?
Seppelt: Die Situation ist einerseits besser als früher, die Skandale haben schließlich schrittweise zur Gründung der WADA, der ITA und zu der verschärften Dopinggesetzgebung in Deutschland geführt. Aber damit ist die Situation noch lange nicht automatisch gut. Je weniger Kontrolle und Regelwerk es gibt, desto größer ist die Gefahr, dass der Sport wieder zu alten Zuständen zurückkehrt. Viele Dopingfälle kommen ja nicht wegen des Kontrollsystems ans Licht, sondern durch die Arbeit von Staatsanwälten oder Journalisten. Uns wurden etwa im Zuge unserer Recherchen zur Operation Aderlass von einem durch eine Zeugenaussage belasteten Fahrer aus dem deutschen Profiradsport sogleich juristische Schritte angedroht - das war nicht anders als 20 Jahre zuvor. Es geht halt um viel - nicht nur ums Prestige, oft auch um die wirtschaftliche Existenz.
Sie haben wie nur wenige Experten Einblicke nicht nur in eine, sondern mehrere Sportarten und deren Abgründe: Wo rangiert der Radsport inzwischen beim Thema Doping – Vorbild, Mittelfeld oder Schlusslicht?
Seppelt: Vor wenigen Jahren hätte ich noch gesagt, dass der Radsport nach all den Skandalen ein Vorreiter geworden ist. Heute kann ich das nicht mehr wirklich beurteilen, denn auch wir können nicht in allen Sportarten gleichzeitig recherchieren. Nach wie vor gehört der Radsport sicher zu den gefährdetsten Sportarten, einfach weil dort Ausdauer und Kraft so entscheidend sind, dadurch ist er sehr doping-affin. Das heißt natürlich nicht automatisch, dass dort noch so viel gedopt wird wie früher. Aber ich wäre sehr vorsichtig damit zu behaupten, dass die Protagonisten des heutigen Radsports zu Engeln mutiert sind. Die Angst und das Risiko, dass der Betrug aufgedeckt wird, sind aber größer geworden. Das dürfte mehr Fahrer als zu Jan Ullrichs Zeiten abschrecken.
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