Tony Martin im Exklusiv-Interview: Das fehlt dem deutschen Radsport - Lennard Kämna ist die "Geheimwaffe"

Tony Martin wirft im Exklusiv-Interview mit Eurosport.de einen kritischen Blick auf die Situation des deutschen Radsports - aber der vielfache Zeitfahr-Weltmeister sieht auch eine "Geheimwaffe". Der Ex-Profi ist dem Radsport weiter eng verbunden und verfolgt die aktuellen Rennen intensiv. Wie er die spektakulären Auftritte der Superstars einschätzt, verrät er im ausführlichen Gespräch.

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Quelle: Eurosport

Weltmeistertitel im Einzelzeitfahren und mit dem Team, Etappensiege und Gelbes Trikot bei der Tour de France, dazu Erfolge bei vielen weiteren Toprennen - Tony Martin steht mit Marcel Kittel, John Degenkolb und André Greipel für die Erfolgsphase des deutschen Radsports in den 2010er-Jahren.
Von den Triumphen jenes Jahrzehnts ist die aktuelle Generation ein ganzes Stück entfernt, auch wenn es immer wieder einzelne Top-Ergebnisse gibt. Der 38-Jährige sieht aber auch Hoffnungsträger, nur im Nachwuchs konstatiert er einen Mangel.
Außerdem erklärt der einstige Teamkollege von Jonas Vingegaard und Primoz Roglic am Rande der Präsentation des MY25 TCR GEN X im GIANT Store München, warum die Topfahrer inzwischen so oft früh in die Offensive gehen und welche Verbesserungen im Bereich Sicherheit im Radsport er noch sieht.
Tony Martin, wie schätzen Sie den aktuellen Stand im deutschen Radsport ein?
Tony Martin: Der aktuelle Status des deutschen Radsports ist solide bis durchschnittlich. Wir haben es mit dem Erfolg von Phil Bauhaus gesehen, dass es Fahrer gibt, die auch in der WorldTour Siege holen können, auch Nils Politt war beim Omloop auf dem Podium und nah dran am Klassiker-Triumph. Wir können um große Siege mitfahren, aber wir haben nicht die Fahrer, die schon an der Startlinie sicher verkünden können, dass es für sie an dem Tag sicher ums Podium gehen wird. Aber um den deutschen Radsport in der breiten Öffentlichkeit wieder zu pushen, brauchen wir genau solche Fahrer, die auch als Favoriten ins Rennen gehen.
Wer hat auch in großen Rennen zumindest berechtigte Chancen auf Top-Platzierungen?
Martin: Lennard Kämna ist für mich die Geheimwaffe: Er hat schon gezeigt, dass er es drauf hat, und kann sicher noch weitere große Erfolge einfahren. Allerdings wird es für ihn bei Bora-hansgrohe durch die Ankunft von Superstar Primoz Roglic auch nicht leichter. Vielleicht erleben wir auch die Wiedergeburt von Max Schachmann, er hat schon viele Top-Resultate geholt und ihn habe ich definitiv nicht abgeschrieben. Wir haben Fahrer mit Potential, doch ich vermissen aktuell ein bisschen die neue, frische Generation - aber ich halte Ausschau!
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Wie eng sind die Beziehungen zu den alten Teamkollegen und Wegbegleitern aus den Jahrzehnten im Radsport inzwischen noch?
Martin: Das verläuft sich tatsächlich schnell, gerade mit den internationalen Kollegen, die hunderte Kilometer entfernt leben. Jeder hat einen neuen, anderen Lebensrhythmus – aber ich versuche schon, regelmäßig Kontakt zu halten, allerdings klappt das jetzt auch nicht wöchentlich. Ich weiß aber: Wenn ich ein Problem oder Anliegen habe, kann ich mich jederzeit melden und da ist die Tür immer offen – so wie umgekehrt auch.
Wen trifft man noch auf gemeinsamen Radrunden am Bodensee?
Martin: Leider sind inzwischen fast alle weggezogen, die in der Nähe waren! Es war eine Weile ein Eldorado mit vielen deutschen Fahrern, doch inzwischen sind fast alle anderswo: Marcel Kittel etwa ist in die Niederlande gegangen, Max Schachmann nach Italien, Jan Ullrich und Marcus Burghardt sind schon länger nicht mehr hier. Jetzt treffe ich noch ab und zu die beiden Schweizer Zeitfahr-Spezialisten Stefan Küng und Stefan Bissegger, ansonsten drehe ich mit einem neuen Bekanntenkreis meine Runden.
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Tony Martin (li.) und Marcel Kittel (re.) zu aktiven Zeiten

Fotocredit: Imago

Wie intensiv verfolgen Sie das aktuelle Renngeschehen noch?
Martin: Sehr intensiv! Ich bin vom aktiven Radprofi direkt zum Fan geworden und freue mich, dass es wieder mit den Top-Rennen losgeht. Mit Beruf und Familie schaffe ich es meistens nicht, live zuzuschauen - aber wenn die Kinder abends im Bett sind, schaue ich mir die Rennen dann in Ruhe an.
Wie blicken Sie dann aus Fansicht auf diese Saison? Mit jeder Menge Stars bei Klassikern wie Rundfahrten, dazu Olympia in Paris und dem neuen Kapitän Primoz Roglic bei Bora-hansgrohe verspricht das ein extrem spannendes Jahr zu werden ...
Martin: Der Wechsel von Primoz zu Bora ist wirklich ein zusätzliches Schmankerl zu einer sowieso schon tollen Konkurrenzsituation bei den Top-Fahrern. Damit haben wir bei der Tour de France diesmal sogar einen Vierkampf mit ihm, Tadej Pogacar, Jonas Vingegaard und erstmals auch Remco Evenepoel. Das wird extrem spannend und auf diese Saison können wir uns wirklich freuen. Dazu sind jetzt immer wieder die Rundfahrer auch bei Klassikern am Start, gerade Pogacar, dadurch ist da der Favoritenkreis nochmals größer und das Ergebnis offener geworden. Das macht wirklich sehr viel Spaß, da zuzuschauen!
Wie blickt man als absoluter Kenner auf das extreme Solo, mit dem Pogacar bei Strade Bianche zum Sieg gefahren ist?
Martin: Pogacar hat das Rennen nicht gewonnen, weil er so früh attackiert hat, sondern weil er einfach die Klasse für so etwas besitzt. Er hätte auch erst 50 oder schon 100 Kilometer vor dem Ziel wegfahren können. Es gibt definitiv nicht viele Fahrer, die das können. Insgesamt sieht man, dass die Rennen tendenziell immer früher entschieden oder zumindest richtig spannend werden, nicht erst auf den letzten Kilometern. Das macht Spaß, da kann man wirklich die letzten zwei oder drei Rennstunden am Bildschirm mitfiebern.
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Quelle: Eurosport

Wie erklären Sie sich diese Tendenz - gerade die Superstars starten ja gerne lange Attacken oder gar Soli, ob Pogacar, Evenepoel, Van Aert, Vingegaard, Roglic, van der Poel oder Pidcock?
Martin: Der entscheidende Unterschied ist, dass die Favoriten viel früher auf sich selbst gestellt sind in den Rennen. Wenn es schon 80 Kilometer vor dem Ziel richtig zur Sache geht, verlieren fast alle dabei schnell ihre Helfer, da können nur noch absolute Topfahrer mithalten. Dadurch wird alles sehr viel offener, es kommt eher zum Schlagabtausch der Kapitäne. Deshalb gehen so viele der Favoriten dazu über, es früh im Rennen so schwer zu machen, weil sie überzeugt sind, dass sie im direkten Duell Mann gegen Mann stärker als ihre direkten Rivalen sind. Also suchen die schneller die Entscheidung, um sich nicht in taktische Spiele mit den Helfern anderer Kapitäne verwickeln zu lassen, die einen in Zugzwang bringen könnten. Das Kalkül ist also, selber die Karten in der Hand zu haben, wenn man sich für den Stärksten hält.
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Sie haben schon zu aktiven Zeiten immer wieder das Thema Sicherheit kritisch angesprochen. Wie beurteilen Sie die Situation im Radsport inzwischen, welche konkreten Maßnahmen fehlen noch immer?
Martin: Ich bin nicht mehr so tief in der Materie wie zu meiner Profizeit, wie es direkt im Rennen abgeht weiß ich also nicht. Aber die Anzahl der Stürze, leider auch der schweren Unfälle, deutet darauf hin, dass irgendwo ein Sicherheitsmangel vorliegt. Gerade was die Stürze in Zusammenhang mit Fans an der Strecke angeht. Was ich aus meiner Sicht von außen noch immer vermisse, ist die gute Absicherung von Hindernissen auf der Strecke wie etwa Fahrbahnteilern. Ich bin weiter überzeugt, dass sie zu spät und nicht gut genug angezeigt werden. Man muss verstehen, dass man als Fahrer im Feld fast nichts außer den Rücken des Vordermannes sieht - ein Hindernis nimmt man so meistens erst wahr, wenn direkt vor einem die Lücke aufgeht und ausgewichen wird und dann kann die eigene Reaktionszeit schon zu knapp sein.
Wie könnte man in solchen Fällen Abhilfe schaffen?
Martin: Ich habe schon immer angemahnt, dass solche Hindernisse vorzeitiger angezeigt werden müssen und auch mit einem höheren Signal. Meine einfache Überlegung wäre etwa, einen kleinen Heliumballon dort zu befestigen, der höher aufragt als ein Schild oder ein Streckenposten und den man so auch schon von weiter hinten im Peloton sehen kann. Mit unterschiedlichen Farben könnte man sogar noch anzeigen, welche Art von Hindernis dort wartet. Bisher sehe ich als Zuschauer am Bildschirm aber nicht, dass sich dort etwas ändert.
Welcher weitere Aspekt ist Ihnen noch negativ aufgefallen?
Martin: Ich sehe noch immer Motorräder, die durchs Feld fahren. Da müsste viel öfter eine Umleitung geschaffen werden, dass sie auf anderem Weg von hinten wieder vor das Feld kommen können. Das mag bei manchen Rennen schon der Fall sein, aber zu oft gibt es noch die Situation, dass selbst im hektischen Finale Motorräder vorne im Feld herumfahren. Ich fürchte mich vor dem Moment, in dem ein Motorradfahrer in gestürzte Fahrer reinfährt. Auf solche Probleme sollte der Weltverband UCI mehr Augenmerk legen als auf irgendwelche Details im Reglement für Zeitfahren.
Teil 2 des Interviews mit Tony Martin über Primoz Roglic und Jonas Vingegaard gibt es hier bei Eurosport.de!
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Thank you, Tony - Seriensieger Martin bei WM gewürdigt

Quelle: Eurosport

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