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Sicherheit im Radsport: Jens Voigt über Sturzrisiken, Solidarität der Fahrer und Psychologen als Hilfe

Andreas Schulz

Update 29/06/2023 um 09:29 GMT+2 Uhr

Die Sicherheitsfrage bewegt den Radsport nach dem Tod von Gino Mäder weiter. Eurosport-Experte Jens Voigt liefert seine Einschätzungen zur Debatte um riskante Streckenführungen, Solidarität im Fahrerfeld und mögliche Schritte zur Verbesserung der "verfahrenen Situation". Außerdem erklärt der Ex-Profi, wie man als Fahrer nach einem traumatischen Ereignis wieder zu Sicherheit beim Abfahren findet.

Tadej Pogacar (l.), Jonas Vingegaard im Gelben Trikot und Wout Van Aert bei Tour de France 2022

Fotocredit: Getty Images

Wie kann der Radsport sicherer werden - besonders in den rasenden Abfahrten im Gebirge? Der Tod von Gino Mäder nach seinem Crash am Albula-Pass bei der Tour de Suisse hat das Thema wieder ganz oben auf die Tagesordnung gebracht. Auch Jens Voigt ist von dem Drama um den Schweizer tief betroffen, doch einfache Lösungen sieht der 17-fache Tour-Starter für die Herausforderung nicht.
"Man sollte zuerst einmal auf die Meinung der Fahrer hören, von denen 70% eben kein Ziel einer Etappe direkt am Ende einer Abfahrt wollen", fordert Voigt mit Blick auf die Streckenplanung jenes Teilstücks der Schweizer Rundfahrt. "Da wird sich auch manches ändern", ist sich der Eurosport-Experte sicher, allerdings finden sich Etappenziele direkt nach Abfahrten auch bei zwei Alpenetappen der am Wochenende startenden Tour de France.
Schon auf der 2. Etappe im Baskenland sind es im Etappenfinale vom Ende der letzten Abfahrt nur etwas mehr als sieben Kilometer ins Ziel in San Sebastian, grenzwertig kurz aus der Sicht von Voigt, um riskante Attacken und Aktionen bergab zu verringern oder ganz zu verhindern. "Zehn Kilometer Reststrecke im Tal zwischen Abfahrt und Ziel lassen einem guten Abfahrer noch Chancen auf den Sieg und Zeitgewinn, geben Verfolgern aber auch die Chance, die Lücke mit vollem Einsatz wieder zu schließen."
Je länger das Flachstück, desto geringer das Risiko waghalsiger Abfahrten: "20 km würden die Sicherheit deutlich erhöhen, Attacken in der Abfahrt würden keinerlei Sinn mehr machen", so Voigt, dem aber der Balanceakt einer solchen Entscheidung bewusst ist: "Das Rennen würde weniger interessant, aber es wäre deutlich sicherer. Das muss man abwägen."

Voigt: Schwierige Solidarität im Peloton

Den Schlüssel zu echten Änderungen liegt in der Hand der Profis, ein Streik des Pelotons würde durchschlagende Wirkung haben, ist sich der zweifache Tour-Etappensieger sicher. "Nur ein Mal müsste man sich einig sein, dann würde mehr auf die Fahrer gehört. Wenn sie es ein einziges Mal schaffen würden zu sagen: Bis hierher und nicht weiter! Wir haben Euch das jetzt zwei Wochen lang erklärt – aber ihr wolltet nicht hören. Wir gehen jetzt in den Bus, ziehen uns um, fahren zum Flughafen und fliegen heim. Jetzt."
Doch Voigt weiß auch, dass diese erhoffte Einigkeit "nie besteht". Zu unterschiedlich seien die Interessen schon innerhalb des Feldes. "Die Spanier sagen: Lass uns lieber nächste Woche in Belgien protestieren. Die Belgier sagen: Nee, nicht bei uns, die Klassiker sind so wichtig. Wir protestieren lieber bei der Deutschland-Tour. Die Deutschen sagen: Nein, wir haben nur noch diese eine Rundfahrt, die ist sonst weg, da geht’s auch nicht. Das ist das Problem. Dazu kommen die vielen Fahrer, die in jeder Saison einen auslaufenden Vertrag haben und die deshalb nicht streiken werden", gibt er zu bedenken. Mit einem starken Sprachrohr wie Adam Hansen als Präsident der Fahrergewerkschaft CPA sei man aber "auf dem richtigen Weg", den Interessen mehr Gewicht zu verleihen.
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Jens Voigt

Fotocredit: Eurosport

Auch grundlegende Änderungen in der Streckenplanung der Rennen sind zwar denkbar und wünschenswert, aber ebenfalls nicht einfach. "Eine Idee wäre, mehr Rundkurse zu machen, gerade in Städten, wo man in Abfahrten dann nicht mehr 100 km/h erreicht, sondern "nur" noch 65 km/h. Die Fahrer würden dann die Strecke auch genau kennen, weil sie den Kurs mehrfach absolvieren – also wie bei einem WM-Rennen", erklärt Voigt, "doch dann werden die Veranstalter sagen, das gehe für sie nicht: Sie brauchen einerseits die Einnahmen aus dem Startort wie dem Zielort und sie müssen bei einer Rundfahrt ja auch von A nach B durchs Land kommen."
Sein Fazit: "Die Situation ist zu verfahren, um dramatische Änderungen machen zu können, ich sehe keine leichte Lösung, die für alle Beteiligten bequem ist."

Voigt zu Risiken in der Abfahrt: "Ist es das wert?"

Die Fahrer müssen sich nun bei der Tour, nur zwei Wochen nach Mäders Tod, einer großen Herausforderung stellen. Der sehr bergige Parcours ist gespickt mit Abfahrten - wie geht man diese so kurz nach einem solchen Schock an? "Man fragt sich: Ist es das wert, das zu machen?", bringt Voigt die Sicht der Fahrer auf den Punkt. Er selbst verlor mit Wouter Weylandt 2011 einen Teamkollegen durch einen tödlichen Sturz im Giro und war 2003 bei Paris - Nizza im Rennen, als Andrei Kivilev dort nach einem Crash starb und kann sich in die aktuelle Fahrergeneration aus diesem eigenen Erleben einfühlen. Es sei "eine individuelle Sache, wie man sich da wieder herantastet, genauso wie nach einem eigenen schweren Sturz. Da braucht man auch je nach Typ eine Woche oder einen Monat, um wieder so abzufahren wie es geht" erklärt er.
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"Stellen sich die Nackenhaare auf": Experten über Weylandt-Gedenken

Dabei haben nicht nur schreckliche, sondern auch schöne Erlebnisse Einfluss auf das eigene Fahr- und Risikoverhalten. "Auch mit jedem meiner Kinder habe ich ein paar Meter früher gebremst – das habe ich ganz deutlich bei mir bemerkt, dass man da vorsichtiger wird", unterstreicht der sechsfache Vater.
Sein Rezept? "Ich habe mich dann immer versucht, über Logik wieder heranzutasten: Wenn da vor mir 30 Fahrer um diese Kurve gekommen sind, dann muss es für mich als 31. auch möglich sein, das ohne Sturz zu schaffen. Man muss der Linie folgen und Vertrauen haben."
Außerdem "macht es auch Sinn, mit Psychologen zusammenzuarbeiten, das war viele Jahre lang ein Defizit, auch wenn man da schnell als Weichei dargestellt wurde, wenn man sich da Unterstützung geholt hat. Mit jemandem zu reden, der einem hilft, mit der Angst umzugehen, kann sehr sinnvoll sein. Denn Angst darf man nicht haben – aber Respekt aus dem Wissen um die Konsequenzen ist gut. Bei Angst oder Panik aber macht man Fehler, bremst an der falschen Stelle, reagiert nicht richtig. Die Angst nimmt dir die Kontrolle."
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Tour-Strecke: Der Kurs mit allen 21 Etappen von Bilbao nach Paris

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