Straßenrad-WM: Lehren aus der Dominanz von Tadej Pogacar - das muss die Konkurrenz um Remco Evenepoel und Co. ändern

Tadej Pogacar verschiebt die Grenzen des Radsports. Mit seiner 100-Kilometer-Flucht bei der Straßenrad-WM in Zürich setzte er auf die Liste seiner "unmöglichen" Attacken ein neues Superlativ obenauf. Die Konkurrenz fährt in diesem Jahr um zweite Plätze - und kann im Ziel nur den Hut vor dem Dominator ziehen. Aber auch die Rivalen müssen sich anpassen, um die Vorherrschaft zu durchbrechen.

Pogacar genießt Triumphfahrt - Verfolger sprinten um WM-Podium

Quelle: Eurosport

"Jeder weiß, wenn er losfährt, heißt es: alle Mann an Deck", sagte der sportliche Leiter des niederländischen Teams, Koos Moerenhout im Ziel über die Attacke Pogacars. "Da kann man nicht reagieren und sagen: 'Oh, das wird schon gut gehen'. Dann muss man dabei sein und das merkt man. Ich habe sofort gedacht, dann ist es geschafft."
Moerenhout wusste das, aber ein oranges Trikot war auf den Fernsehbildern im Moment des Angriffs knapp 101 Kilometer vor dem Ziel nicht zu sehen. Und auch kein belgisches. Die Teams der anderen Topfavoriten Mathieu van der Poel und Remco Evenepoel ließen sich überrumpeln, weil keiner mit einer Attacke so weit vom Ziel entfernt gerechnet hatte.
Van der Poel dachte, Pogacar würde das "Regenbogentrikot in diesem Moment wegschmeißen" und für Evenepoel sei so eine Aktion "normalerweise Selbstmord". Aber "normal" gibt es im Zeitalter des neuen "Kannibalen" nicht mehr - neben anderen "Überfahrern" wie Evenepoel, Van der Poel, Van Aert und Vingegaard sticht der Slowene noch einmal hervor.
Seine Saison 2024 ist absolut historisch, abgesehen vom Sieg bei Mailand-Sanremo erreichte er jedes selbst gesetzte Ziel mit einer seit den Zeiten von Eddy Merckx nicht mehr gesehenen Souveränität. Die Konkurrenz sollte umdenken, wenn sie diese Dominanz 2025 durchbrechen möchte. Um Lösungsansätze zu finden, lohnt sich ein genauerer Blick auf das WM-Rennen von Zürich.

Erste Lektion: Rechne immer mit der Attacke

Bei Strade Bianche fuhr Pogacar ein 80-Kilometer-Solo, bei Lüttich-Bastogne-Lüttich waren es "nur" 34. In Zürich setzte er noch einen obendrauf, auch wenn er es selbst eine "dumme" Attacke nannte - das war es nicht und es war auch nicht nur Instinkt oder eine Laune des Tour-Siegers.
In den Anstieg seines Angriffs fuhr mit Primoz Roglic der amtierende Vuelta-Sieger und Teamkollege von Pocagar Tempo im Feld, um etwas Bewegung reinzubringen. Aufgrund der Situation mit einer starken Gruppe vor dem Feld war das Tempo im Peloton hoch und die Fahrer angriffslustig. Pogacar nutzte eine Tempoverschärfung, konterte diese und schüttelte nach und nach die letzten Fahrer von seinem Hinterrad ab.
Diese Fahrer waren aber nicht van der Poel oder Evenepoel, sondern Quinn Simmons und Andrea Bagioli - bei allem Respekt nicht die Kragenweite der absoluten Superstars. Nicht mit einem Angriff von Pogacar zu rechnen - das sollte mindestens dem Niederländer und dem Belgier nicht wieder passieren.
picture

Pogacar attackiert 100 Kilometer vor Ziel: Superstar startet Show

Quelle: Eurosport

Zweite Lektion: Alle gegen Einen - schmiede Allianzen

Für den neuen Weltmeister lief nach seiner Flucht nach vorne vieles ideal. Jan Tratnik, der sich 130 Kilometer vor dem Ziel mit einer starken Gruppe aufmachte, wartete auf seinen Kapitän und konnte rund 15 Kilometer die Führungsarbeit übernehmen, die Spitzengruppe einholen und auch dort das Tempo hochhalten.
Etwa zur gleichen Zeit, als sich Tratnik und Pogacar zusammenfanden, hatte sich auch das Feld formiert: Das belgische Team führte in Mannschaftsstärke nach. Das dauerte zu lange und war zu wenig. In der Zeit, als das Duell Tratnik gegen Belgien hieß, verringerte sich der Abstand von 50 auf etwa 30 Sekunden.
Wieder bewies Pogacar den richtigen Riecher und fuhr erneut selbst davon. Und der einzige, der ihm einigermaßen folgen konnte, war sein Teamkollege bei UAE Emirates, Pavel Sivakov. Der fuhr - aus Eigennutz und vielleicht ein bisschen aus Loyalität - mit dem späteren Sieger gemeinsam, bevor dieser ihn 51 Kilometer vor dem Ziel endgültig stehen ließ.
Die Fragen, die sich die Konkurrenz nun stellen muss: Warum wurde die Nachführarbeit zunächst den Belgiern überlassen? Warum dauerte es so lange, bis sich die Gegenwehr organisierte? Erst nach rund 20 Kilometern waren auch die Niederländer vorne zu sehen, es war zu wenig und zu spät. 70 Kilometer vor dem Ziel waren außer Evenepoel keine anderen Belgier mehr vorne, der Doppel-Olympiasieger attackierte selbst, die kontrollierte Nachführarbeit war endgültig vorbei.
Die Lehre: Die Niederländer, Belgier, US-Amerikaner, Schweizer und anderen Nationen hätten sofort und mit aller Macht das Rennen wieder neutralisieren müssen - es gab den Moment, als das möglich gewesen wäre, aber keinen gemeinsamen Willen. Erst müssen alle Pogacar holen, dann können die Kapitäne ihr Feuerwerk starten.
picture

‘I’m happy’ – Van der Poel ‘really proud’ with podium finish despite losing rainbow jersey

Quelle: Eurosport

Dritte Lektion: Zuerst zuschlagen - Bring das Rennen zu Pogacar

Mit der Attacke von Pogacar begann das Finale dieses WM-Rennens - zu einer Zeit, als noch keiner bereit für das Finale war. Als dann Evenepoel später attackierte, weil es keine Helfer mehr gab, war das Finale in vollem Gange - die Kapitäne waren auf sich allein gestellt. Das wäre kein größeres Problem, aber zu diesem Zeitpunkt hatte der absolute Topfavorit auf den Titel schon 50 Sekunden Vorsprung auf die anderen.
Für einen Moment sah es noch so aus, dass die Kapitäne der anderen Nationen gemeinsame Sache machen könnten und Pogacar wieder einholen würden: Van der Poel, Evenepoel, Lokalmatador Marc Hirschi, der US-Amerikaner Matteo Jorgenson, der Spanier Enric Mas, der Australier Ben O'Connor.
Doch die Einigkeit fehlte. Und der entscheidende Faktor für die fehlgeschlagenen Versuche der anderen Favoriten war: Pogacar war schon weg. "Unser Plan war es, Bauke Mollema und Wilco Kelderman mit Mathieu ins Finale zu bringen und dann die Situation auf der Strecke zu antizipieren", sagte Moerenhout. Ein taktischer Fehler, denn das Finale begann zu einem völlig anderen Zeitpunkt als "antizipiert".
Die Niederländer, die sich nicht an der Nachführarbeit beteiligten, hätten ihrerseits Fahrer in der Spitzengruppe platzieren müssen - und von vornherein verhindern müssen, dass ein Satellitenfahrer wie Tratnik vorne rausfahren kann.
Moerenhout sieht das Fehlen von Oranje in der Spitzengruppe als Fehler, aber sein Rückschluss führt nicht weit genug. Eine abwartende Fahrweise spielt Pogacar in die Karten, denn er ist gerne der Aktivposten. Alle Rivalen des neuen Dominators müssen selbst proaktiv sein, attackieren, Helfer positionieren, den Slowenen zum Reagieren zwingen. Denn wenn er antritt, fährt niemand lange mit.
Das könnte Dich auch interessieren: Eine neue Ära - Pogacar verändert den Radsport
picture

"Vielleicht eine dumme Attacke": Pogacar über das wilde WM-Rennen

Quelle: Eurosport


Mehr als 3 Mio. Sportfans nutzen bereits die App
Bleiben Sie auf dem Laufenden mit den aktuellsten News und Live-Ergebnissen
Download
Diesen Artikel teilen
Werbung
Werbung