Deutschland Taktik-Check Achtelfinale England Europameisterschaft Auf und Ab Achterbahn

Luca Baier

Update 28/06/2021 um 12:47 GMT+2 Uhr

Vor dem Klassiker gegen England im EM-Achtelfinale wird die Fußballwelt einfach nicht schlau aus der deutschen Nationalmannschaft. Einem begeisternden Auftritt gegen Portugal folgte eine zittrige Vorstellung gegen den Underdog aus Ungarn. Vor der Achtelfinal-Partie analysiert eurosport.de im Taktik-Check, woran es bei der DFB-Elf zuletzt hakte und wie nun wiedermehr Pep ins Spiel kommen könnte.

Leon Goretzka und Joachim Löw

Fotocredit: Getty Images

Der aufkommenden Euphorie nach dem überzeugenden Sieg gegen Portugal ist schnell der Wind aus den Segeln genommen worden: Beim 2:2 gegen Ungarn zeigte sich die deutsche Mannschaft über weite Strecken ideenlos, behäbig und dazu auch noch defensiv anfällig.
Während man gegen Portugal noch Angriff um Angriff über die nimmermüden Antreiber auf den Flügeln initiierte, lahmte das Flügelspiel plötzlich. Ungarn hatte sich schlichtweg besser auf Joshua Kimmich und Robin Gosens eingestellt als Portugal.
Kimmich und Gosens rücken in Ballbesitz so weit nach vorne, dass sie oftmals mit Havertz, Müller und Gnabry eine Art Fünfer-Stürm bilden. Wer dagegen mit einer Viererkette aufläuft, muss extrem ballorientiert verschieben. Portugal hat das getan – und den ballfernen Raum komplett aufgegeben.
Mit präzisen Verlagerungen hat die deutsche Mannschaft diese Räume jedoch trotzdem gefunden, sowohl Gosens als auch Kimmich sind gleich mehrfach per Flugball bedient und freigespielt worden.

Havertz und Müller müssen große Räume abdecken

Ungarns Fünferkette hingegen deckte die Breite des Spielfeldes besser ab. Wegen der Gleich- statt Überzahl in diesem Bereich konnte Deutschland weder Gosens noch Kimmich so richtig ins Spiel bringen. Gut möglich, dass England – in der Vorrunde in einem Mix aus 4-2-3-1 und 4-3-3 unterwegs – das System anpasst. Gareth Southgate ließ vor dem Turnier schon öfter mit Fünferkette spielen.
Sollten Kimmich und Gosens wieder so bewacht werden, müssen andere Lösungen am Flügel gefunden werden. Es wäre beispielsweise sinnvoll, die beiden Flügelspieler nicht ganz so hoch stehen lassen. Je höher sie stehen, desto weniger muss sich die englische Fünferkette bewegen. Steht Kimmich bei einem Angriff über rechts jedoch etwas tiefer, stellt er seinen nominellen Gegenspieler vor eine schwierige Entscheidung: Bleibt er in der Kette, verteidigt England mit fünf Spielern gegen Müller, Havertz und Gnabry – und bekäme dementsprechend keinen Zugriff im Mittelfeld.
Rückt der englische Linksverteidiger jedoch raus und will Kimmich unter Druck setzen, geht dahinter ein großer Raum auf. Dieser muss dann von den hängenden Spitzen Havertz und Müller belaufen werden. So bringen sie Bewegung in die englische Kette, können direkte Duelle provozieren oder wiederum weitere Räume im Zentrum aufziehen.

Mit Goretzka gegen Verbindungsprobleme

In jenem Zentrum dürfte gegen England kein Weg an Leon Goretzka vorbeiführen. Der Bayernprofi ist spielfit, war gegen Ungarn ein entscheidender Faktor und bringt im Vergleich zu Ilkay Gündogan genau die Elemente mit ein, die zuletzt so fehlten. Mit Kroos und Gündogan gab es zwei ballsichere Spieler, die das Spiel eher aus der Tiefe aufbauen. Weil sie sich jedoch so nah an den Innenverteidigern positionierten, gab es ein großes Loch zwischen Aufbauspielern und Offensivspielern. Die Folge: Es ergeben sich nur Passwege nach außen, wo Gosens und Kimmich jedoch keinen Platz hatten. Mit Goretzka hätte Löw einen klassischen Box-to-Box-Spieler auf dem Feld, der diese Verbindungsprobleme beheben kann.
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Havertz (l.) und Gosens beeindruckt von Müller (r.)

Fotocredit: SID

Während Kroos weiterhin beim Aufbau helfen kann, wird Goretzka immer wieder in höhere Zonen laufen, dort anspielbar werden und anschließend auch mit in den Strafraum gehen. Seine Laufwege in die Tiefe sind zudem eine Einladung zu einer Gegenbewegung mit Havertz: Goretzka läuft durch bis in die Spitze, Havertz kommt entgegen und kann sich im offensiven Mittelfeld anspielbar machen. Ebenfalls wichtig ist, dass die Offensivspieler gerade auf der ballfernen Seite tiefe Laufwege hinter die Abwehr machen wenn einer der Innenverteidiger bis weit ins Mittelfeld dribbeln darf. Gechippte Bälle hinter die Kette sind deutlich vielversprechender als verzweifelte Halbfeldflanken eines Innenverteidigers auf Gnabry und Co.

Musiala kann ein entscheidender Faktor werden

Neben all den taktischen Feinheiten ist zudem entscheidend, dass sich die deutschen Spieler schlichtweg mehr zutrauen. Zu wenig Dribblings, zu wenig Läufe in die Tiefe, zu wenig Risiko im Passspiel: All das machte das Spiel gegen Ungarn langsam. Wer so viel Aufwand im Positionsspiel betreibt, muss im vorderen Bereich dann auch mal das Eins-gegen-Eins suchen. Das gilt nicht nur für Leroy Sané, der mit seinem schwachen Auftritt als Gesicht des schlechten Spiels herhalten muss(te), sondern auch für Spieler wie Gnabry und Havertz.
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Musiala (l.) im Zweikampf mit Endre Botka

Fotocredit: Getty Images

Je näher es Richtung Tor geht, desto mannorientierter wird verteidigt. Wer dort direkte Duelle führt, wird auch welche gewinnen – und dementsprechend schnell gefährlich werden. Nicht zuletzt deswegen fordern viele Fans und Experten einen Einsatz von Jamal Musiala. Von Beginn an wird Löw das Toptalent nicht bringen. Nicht obwohl, sondern weil seine Einwechslung gegen Ungarn für so viel Schwung gesorgt hat. Musiala ist der ideale Joker für nahezu jede Situation. Braucht man ein Tor, kann er mit seinen Dribblings in entscheidenden Momenten für Überzahl sorgen und Chancen einleiten. Bei einem Unentschieden brächte er mit seiner Spielweise ein anderes Element in die Mannschaft und bei einer Führung kann er den Ball mit seinen technischen Fähigkeiten halten und/oder Freistöße herausholen.

Eurosport-Check

Es muss wieder mehr Schwung ins deutsche Spiel! England wird nicht so naiv verteidigen wie Portugal und möglicherweise sogar extra das System ändern. Sind die bislang gefährlichsten Waffen Gosens und Kimmich neutralisiert, müssen andere Lösungen her. Neben Leon Goretzka als Verbindungsspieler sowie einer besseren Positionierung der Flügelspieler sind allen voran nicht-taktische Aspekte wie Laufbereitschaft und Mut gefordert. Also „klassisch deutsche Tugenden“. Im Klassiker.
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"Müssen eklig sein": Müller erklärt, worauf es gegen England ankommt

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