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Olympique Lyon: Dauer-Meister, Pep-Bezwinger, Untergang? Frankreichs Fußball-Schwergewicht droht der Systemabsturz

Dennis Melzer

Update 08/12/2023 um 21:20 GMT+1 Uhr

Olympique Lyon zählte einst zur europäischen Fußball-Elite, war die unangefochtene Nummer eins in Frankreich. Noch vor drei Jahren erreichte OL nach einem beeindruckenden Sieg gegen Pep Guardiolas Manchester City das Halbfinale der Champions League. Mittlerweile ist der große Glanz verblasst. Der Traditionsverein strauchelt bedenklich – es droht ein Abstieg in die Bedeutungslosigkeit.

Lyon verliert auch nach Grosso-Entlassung weiter

Ein Abend im hochsommerlichen Lissabon 2020. Das Corona-Virus hält die Welt seit Monaten in Atem.
Doch auf den Straßen der portugiesischen Hauptstadt pulsiert das Leben, die pittoresken Restaurants im Bairro Alto, dem Ausgeh-Viertel, sind gut gefühlt. In der Luft liegt eine olfaktorische Komposition aus gegrilltem Wolfsbarsch, Garnelen, Gemüse, Gewürzen.
Dass dieser Tage die Elite des europäischen Fußballs zu Gast ist, um den Gewinner der Champions League (coronabedingt wurde erstmals in der Geschichte der Königsklasse ein Kurz-Turnier an einem Ort ausgetragen) zu ermitteln, ist nur bedingt spürbar.
Kein Wunder, immerhin sind weder die ortsansässigen Klubs Benfica und Sporting noch das andere Portugal-Schwergewicht FC Porto im Viertelfinale vertreten. Und so nehmen die Einheimischen kaum Notiz davon, was da gerade über die wenigen TV-Geräte flimmert. Manchester City und Olympique Lyon duellieren sich nur wenige Kilometer weiter nördlich im Estádio José Alvalade vor leeren Rängen.

OL schießt Pep raus

Nach 90 Minuten ist die Sensation perfekt. ManCity muss nach einem 1:3 vorzeitig die Segel streichen, Pep Guardiola hatte sich – mal wieder in einem wichtigen Spiel – selbst ausgegoacht. Auf der anderen Seite herrscht hingegen frenetischer Jubel.
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Lyon gelang gegen Manchester City die Überraschung

Fotocredit: SID

Zehn Jahre nach dem ersten Halbfinal-Teilnahme ist es OL erneut gelungen, in die Runde der letzten Vier vorzudringen. Wie damals heißt der Gegner FC Bayern München, wie damals ist gegen den deutschen Rekordmeister Endstation. 0:3 steht es nach Toren von Serge Gnabry (18.,33.) und Robert Lewandowski (88.) aus Lyonnais-Sicht. Doch am Ende überwiegt der Stolz über das Erreichte.
Im Hier und Jetzt, nur dreieinhalb Jahre später, mutet all das an wie eine Geschichte aus einer anderen Zeit an – und das nicht nur aufgrund der Corona- und der damit verbundene Geisterspiel-Situation. Olympique Lyon strauchelt – und zwar bedenklich.

Der Untergang eines Traditionsklubs

Nach 14 Spieltagen belegt der Traditionsverein, der zwischen 2002 und 2008 sage und schreibe sieben französische Meistertitel in Serie gefeiert hatte, mit nur einem Sieg und sieben Punkten den letzten Platz in der Ligue 1.
Zuletzt setzte es im prestigeträchigten "Choc des Olympiques", dem Aufeinandertreffen mit Olympique Marseille, am vergangenen Mittwoch ein 0:3. Die Angst vor dem ersten Abstieg seit 40 Jahren ist an der Rhône spätestens nach dem völlig blutleeren Auftritt gegen die Südfranzosen bittere Realität. Aber wie kam es zu diesem Niedergang?
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Bei OL herrscht Ratlosigkeit

Fotocredit: Getty Images

Cyril Morin von Eurosport Frankreich bringt Licht ins Dunkle: "Man könnte mindestens ein ganzes Buch über die negativen Entwicklungen bei OL schreiben", sagt er. Aus sportlicher Sicht sei die Talfahrt laut Morin auf "diverse Fehlentscheidungen der Klubführung" zurückzuführen.
Während auf der Zugangsseite in den vergangenen Jahren auf Spieler gesetzt wurde, die ihren Zenit bisweilen überschritten hatten (beispielsweise die ehemaligen Bayern-Stars Jérôme Boateng, Xherdan Shaqiri Corentin Tolisso), wurden erfahrene Leistungsträger wie Memphis Depay (2021, Barcelona) oder Lucas Paqueta (2022, West Ham) sowie aufstrebende Talente wie Castello Lukeba (2023, RB Leipzig) oder Bradley Barcola (2023, PSG) abgegeben.

Trainerstuhl als Schleudersitz

Darüber hinaus verkam der Trainerstuhl nach Rudi Garcias imposanten Abschneiden in der Champions League 2020 zu einem Schleudersitz. Seit seinem Abgang im Sommer 2021 verschliss Olympique mit Peter Bosz (Juli 2021 – Oktober 2022), Laurent Blanc (Oktober 2022 – September 2023) und Fabio Grosso (September 2023 – November 2023) gleich drei Trainer, seit Anfang Dezember steht Pierre Sage an der Seitenlinie, aber auch unter ihm bleibt der Aufschwung bislang aus.
Eine verheerende Transferpolitik und mangelnde Konstanz auf der Bank sind aber nicht die einzigen Gründe für das Chaos. Auch neben dem Platz läuft es alles andere als rund.
"Der Hauptpunkt ist, dass Jean-Michel Aulas, der seit 1987 die Geschicke leitete, den Klub im Mai 2022 an John Textor und dessen Holding Eagle Football, die unter anderem Anteile an Crystal Palace, Botafogo und Molenbeek hält, veräußert hat", sagt Morin: "Eigentlich war der Plan, dass Aulas und Textor den Verein gemeinsam führen, aber am Ende der vergangenen Saison warf Textor dann Aulas einfach raus. Er wollte der einzige Mann an der Spitze sein, er wollte alles entscheiden."
Mit fatalen Folgen, wie Ligue-1-Experte Morin weiß: "Textor hat es verpasst, OL als das zu sehen, was es ist: ein großer Klub mit einer großen Historie. Er hat viele zweifelhafte und risikobehaftete Maßnahmen ergriffen. Er war wahrscheinlich aus finanzieller Sicht etwas zu selbstbewusst, was zur Folge hatte, dass die französische Finanzbehörde DNCG auf Olympique aufmerksam wurde." Das DNCG hatte offenbar eine Budgetlücke von 60 Millionen Euro bei Olympique ausgemacht und stellte OL in puncto Transferaktivitäten kalt.
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John Textor

Fotocredit: Imago

Textor wurde mit Blick auf seine Wunschspieler kreativ. Mama Baldé und Duje Caleta-Car kamen auf Leihbasis mit Kaufoption, Ernest Nuamah wurde von Partnerverein Molenbeek für 25 Millionen Euro verpflichtet und gleich nach Lyon weitergeschickt. Ein Vorgehen, das sogar die FIFA auf den Plan rief. Laut Berichten der französischen Sportzeitung "L'Équipe" leitete der Weltverband Ermittlungen ein.
Und das, obwohl Klubboss Textor zuvor noch getönt hatte, dass alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Der Transfer sei ihm zufolge "in voller Übereinstimmung mit den FIFA-Regularien und unter Aufsicht der DNCG über die Bühne gegangen."
Früchte trug der Deal bisher übrigens ohnehin kaum. In elf Liga-Spielen steuerte Angreifer Nuamah lediglich einen Treffer bei. Auch Baldé und Caleta-Car wurden den Erwartungen wie so viele weitere Neuzugänge in den vergangenen Jahren nicht gerecht.

Textor bleibt gelassen: "Diese Frage ist grotesk"

Textor scheint sich indes der prekären Lage nicht zwingend bewusst zu sein. "Es gibt eine Menge Negativität rund um den Verein. Diese wird von Lokalpolitikern, ehemaligen Verantwortlichen und anderen Bürokraten verbreitet, aber nicht von den Fans", kritisierte er vor einigen Wochen im Anschluss an die 1:2-Niederlage gegen das bis dato sieglose Clermont Foot.
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Olympique Lyon ist aktuell Tabellenletzter

Fotocredit: Getty Images

Von den anwesenden Journalisten auf mögliche Abstiegssorgen angesprochen, erwiderte der US-Amerikaner: "Ich weiß, dass Sie diese Frage stellen müssen, aber diese Frage ist völlig grotesk. Diese Mannschaft ist nicht vom Abstieg bedroht. Abstiegsbedrohte Mannschaften spielen nicht so wie wir heute Abend. Wir schauen nicht nach unten in der Tabelle, sondern nur nach oben."
Verständlich, mittlerweile ist ein Blick als Träger der viel zitierten Roten Laterne nach unten ja auch gar nicht mehr möglich. Dass Textor die berechtigten Ängste um den Klassenerhalt als "Angstschüren" und "schlechten Scherz" einordnet, könnte wohlwollend als Verdrängungsmechanismus ausgelegt werden.

Statistik macht keinen Mut

Sechs Punkte trennen Lyon bereits von Platz 15, dem rettenden Ufer. Nichts deutet derzeit darauf hin, dass das der Absturz zeitnah gestoppt wird.
"Diese Saison ist ein einziger Albtraum für Lyon. Auch wenn Textor sich Lyon nicht in der zweiten Liga vorstellen kann, ist die Angst real", sagt Frankreich-Insider Morin – und untermauert seine Worte mit einer Statistik. "Es ist in der Geschichte der französischen Fußballs erst einmal vorgekommen, dass ein Team nach einem derart desolaten Start noch den Klassenerhalt geschafft hat – das war Sète in der Saison 1947/48."
Und so können die leidenschaftlichen Anhänger in dieser tristen, kalten Winterzeit nur in schönen Erinnerungen schwelgen. Erinnerungen an die sieben Meistertitel zu Beginn des neuen Jahrtausends, Erinnerungen an diese warme Sommernacht von Lissabon 2020.
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