Die großen Olympia-Geschichten: Bob Beamon - Sensationssprung ins 21. Jahrhundert

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Bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko-Stadt definierte der US-Amerikaner Bob Beamon die Grenzen des Möglichen neu. Im Weitsprung-Finale am 18. Oktober 1968 stellte er gleich im ersten Versuch einen neuen Weltrekord auf. Mit 8,90 Metern verbesserte er die alte Bestmarke um sagenhafte 55 Zentimeter. Dieser "Sprung ins 21. Jahrhundert" sollte als Weltrekord über zwei Jahrzehnte Bestand haben.

Die Großen Olympia-Geschichten: Bob Beamon

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Es gibt nicht viele Menschen, die im Leben einen Fußabdruck hinterlassen, an den sich die Nachwelt erinnert. Bob Beamon gehört zweifelsohne zu dieser exklusiven Gruppe von Menschen, deren historisches Vermächtnis am Ende größer ist als das eigene Leben. Man denke nur an die Raumfahrer, die als erste den Mond betreten haben, auch sie gehören dazu und noch einige mehr. Der Weitspringer Bob Beamon war eine Art irdischer Raumfahrer, der die Gesetze der Schwerkraft aushebeln konnte, auch deshalb überdauert der Sprung, der seinen Namen trägt, über ein halbes Jahrhundert später, Raum und Zeit.
Das hat auch damit zu tun, dass Bob Beamon Eingang in den Wortschatz der englischen Sprache gefunden hat. Das Adjektiv beamonesque bezeichnet heute eine Leistung, die sich jeder Vorstellungskraft entzieht. Ein Begriff, der im US-Sport zum gängigen Jargon gehört, dessen Herleitung nicht mehr näher erklärt werden muss.
Wer Bob Beamon an jenem stürmischen Tag des 18. Oktober 1968 fliegen sah, erkennt die Analogie zu Neil Armstrong und Buzz Aldrin, die ein Dreivierteljahr später, im Juli 1969, als erste Menschen den Mond betraten. Auch Beamons Sprung war ein großer Schritt für die Menschheit. Er brauchte kein NASA-Triebwerk, keine Trägerrakete, ihm reichten seine zwei schlaksigen Beine. Mit einem Anlauf von neunzehn Schritten in sechs kurzen Sekunden machte der Amerikaner einen Satz in eine sportliche Stratosphäre, die nie zuvor ein Athlet vor ihm betreten hatte. Während Armstrong & Co. auf dem Mond eine menschenfeindliche Atmosphäre vorfanden, war die dünne Luft in der Höhe von Mexiko-City für diesen Jahrhundertrekord geradezu idealtypisch geeignet.
Beamons Tat kam so plötzlich, so aus dem Nichts, dass sie bis heute unvergleichlich bleibt.

Historische Spuren im Sand

Bob Beamon gewann in Mexiko den Wettkampf seines Lebens, ein einziger Satz machte ihn weltberühmt. Bis heute wurden seine 8,90 Meter nur ein einziges Mal regulär übertroffen. 23 Jahre später, genauer am 30. August 1991, bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Tokio, von einem gewissen Mike Powell. Powell und sein viel berühmterer US-Landsmann Carl Lewis duellierten sich in der Weitsprunggrube in einem epischen Duell. Für "King Carl", seit einem Jahrzehnt hinter Beamons Rekord her, sollte dieser August-Abend ein historischer Abend werden. Tatsächlich landete sein bester Versuch bei 8,91 Meter. Das wäre der Weltrekord gewesen? Wäre! Weil der Rückenwind zu stark war, wurde der Versuch für ungültig erklärt. Und dann rannte quasi im Gegenzug Mike Powell an, flog und flog, flog fünf Zentimeter weiter als Beamon, die weiße Flagge des Schiedsrichters signalisierte die Gültigkeit des Versuchs und so schnappte der Newcomer Lewis den Rekord vor der Nase weg. Eine Sensation - bis heute!
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Kaum messbarer Bereich: Beamon definiert die Grenzen des Möglichen neu

Quelle: Bridgestone

Ganz anders die Ausgangssituation für Bob Beamon 1968. Trotz eines bärenstarken Teilnehmerfeldes, darunter die beiden amtierenden Co-Weltrekordhalter Ralph Boston und Igor Ter-Ovanesyan (je 8,35 m) sowie Olympiasieger Lynn Davies, war der junge Beamon, gerade einmal 22 Jahre alt, bei den Buchmachern Favorit. Seine Saisonergebnisse sprachen eine eindeutige Sprache: Beamon hatte 22 seiner 23 Wettkämpfe in dem Jahr gewinnen können. Auch die Aussicht, dass Beamon Weltrekord springen könnte, war gar nicht so weit hergeholt. Mit Beginn der 1960er Jahre hatten nur zwei Athleten insgesamt acht neue Weltrekorde aufgestellt, alles in allem verbesserten sie die globale Bestweite gerade einmal um 19 Zentimeter. Im Winter war Beamon bereits in der Halle einen neuen Weltrekord (8,30 m) gesprungen, im Juni gelang Beamon bei College-Meisterschaften in Sacramento im Freien eine Karrierebestleistung von 8,33 m. Bei den Olympia-Trials im September erreichte er sogar die Marke von 8,39 m, wenn auch mit unzulässiger Windunterstützung von mehr als 2,0 Metern pro Sekunde.
"Wenn Beamon im Finale ein perfekter Absprung vom Brett gelingt, wird ihm nicht nur niemand nahekommen, dann ist er auch in der Lage, die Marke von 8,60 Meter zu knacken." So lautete die kühne Vorhersage von Robert Parienté in der französischen Sportzeitung "L'Equipe". Tatsächlich kam Beamon niemand nahe, seine Leistung aber unterschätzte der Experte in beinahe fahrlässiger Weise.
Robert Beamon wurde 1946 unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war politisch geprägt vom Kalten Krieg der großen Machtblöcke, der Biederkeit und dem Rassismus der 1950er Jahre, der sexuellen Revolution der sogenannten "68er", just dem Jahr von Beamons Jahrhundertsprung. Robert, den alle nur "Bob" nannten, war ein Rohdiamant, wie man ihn selten zu sehen bekommt. Größer und schlaksiger als seine Kontrahenten - als Erwachsener wog er bei 1,91 m Körpergröße nur 68 kg. Kein Wunder also, dass er auf den öffentlichen Basketballplätzen in New York eine bekannte Größe war. Er sprach später oft davon, dass ihm das Körbewerfen so viel mehr liege als das Weitspringen. Und es erklärt auch, dass Beamon 1969, also ein Jahr nach seinem Jahrhundertsatz, beim NBA-Draft an 15. Position von den Phoenix Suns gezogen wurde. Da war er zwar schon Olympiasieger im Weitsprung, doch Beamon klagte darüber, dass man von der Leichtathletik nicht leben könne. Angelockt von seinem ersten großen Gehaltscheck in Höhe von 250.000 US-Dollar verlief sein Wechsel von der Weitsprunggrube aufs blank polierte Parkett im Sand - tatsächlich bestritt Beamon kein einziges NBA-Profispiel.
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Bob Beamon (links) war bereits in seiner Jugend ein talentierter Basketballspieler

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Gangs of New York

Beamons Jugend ist eine traurige Geschichte. Der junge Bob hat seine Mutter nie wirklich kennengelernt, sie starb an Tuberkulose, lange bevor er alt genug war, sich an sie erinnern zu können. Sein Vater war regelmäßig im Gefängnis. Als seine Mutter mit ihm schwanger war, saß er im berüchtigten Sing Sing ein. Der junge Bob wuchs in South Jamaica, einem Stadtteil von Queens auf. Meist lebte er bei seiner Großmutter, später in einer Pension. "Meine Mutter nahm mich nicht mit nach Hause, weil sie zu krank war, um sich um mich kümmern zu können. Auch soll mein Daddy gedroht haben, mich umzubringen, wenn sie mich mitbringt", klagte Beamon in seiner Autobiografie "The Man Who Could Fly" über sein prekäres Elternhaus.
Zeitweise lebte Bob auch bei dem Mann, von dem er anfangs glaubte, er sei sein leiblicher Vater. Zwischen zwei Gefängnisaufenthalten nahm sein Stiefvater den Jungen schließlich an und kümmerte sich um ihn, so gut er konnte. Das hatte nicht viel zu bedeuten. Beamon erzählte später, dass er weitgehend sich selbst überlassen war im Großstadtdschungel von New York. In dieser feindseligen Umgebung bot ihm das Basketballspielen ein bisschen Trost. Selbst die Älteren wählten Bob regelmäßig in ihre Teams, was ihm ein Gefühl der Zugehörigkeit gab, die ihm sonst im Leben fehlte. "Basketball ist eine große Sache in New York", erklärte er einmal. "Wenn du gut darin bist, respektiert dich jeder. Niemand würde dich absichtlich an deinem starken Wurf-Arm verletzen." Das Gesetz der Straße.
Um zu überleben, schloss sich Beamon einer Straßengang an. "Wir nannten uns The Frechen", erzählt er in seiner Biografie. "Wir waren bis zu zwanzig Leute, die meisten aus South Jamaica, alle so zwischen zwölf und fünfzehn Jahre alt. Wir kämpften mit selbst gebauten Pistolen, Ketten und Messern. Einmal sah ich, wie ein Junge mit einem Eispickel getötet wurde, obwohl es eigentlich nur ein Faustkampf sein sollte." Der junge Bob rauchte, trank Alkohol und vertickte Drogen, um an Geld zu kommen. Aber er war sich der Gefahren auch bewusst: "Ich habe viele Jungs in meinem Alter gesehen, die an einer Überdosis oder durch Kugeln umkamen oder im Knast landeten. Ich hatte mir geschworen, dass ich nicht so enden wollte wie sie."
Einmal wurde Beamon wegen Mordes verhaftet, weil er dem vermeintlichen Mörder ähnlich sah. Zum Glück fand die Polizei schnell den wahren Täter. Was ein Weckruf für Beamon werden sollte, machte die Sache für ihn nur noch reizvoller. "Die Jungs betrachteten mich als eine Art Held, nur weil ich in Gewahrsam war und unter Mordverdacht stand." Die Schule interessierte Beamon, wenig überraschend, kaum. Als man ihn rauswarf, kümmerte sich Großmutter Bessie selbst um die Sache. Sie nahm ihren Enkel bei sich auf und schickte ihn auf eine Schule in Manhattan, die speziell für Problemkinder aus sozialen Brennpunkten gedacht war.

Sieg auf Randalls Island

Dank Bessie kam der junge Beamon allmählich auf die Beine. Seine Großmutter hatte ihm ein paar anständige Klamotten gekauft. Von jetzt an musste er keine verschlissene, viel zu große Kleidung mehr tragen, die ihn wie einen traurigen Clown aussehen ließ. Beinahe über Nacht wurde er ein anderer. In der neuen Schule konnte sich Beamon in der Leichtathletik versuchen, er war schnell Feuer und Flamme. In seinem zweiten Jahr nahm er an einem Sportfest teil und gewann die 50 Meter, die 100 Meter, die 200 Meter sowie den Weitsprung. Im Frühjahr 1962, im Alter von 16 Jahren, lief er an einem "Junior Olympics"-Plakat vorbei, eine Art Miniolympiade für Jugendliche, die auf Randalls Island zwischen Manhattan und Queens stattfinden sollte. Das war keine Stunde von seinem Zuhause entfernt, und obwohl er keine Laufschuhe besaß, wollte er unbedingt daran teilnehmen. "Ich weiß es bis heute: Es war ein wunderschöner Tag, am Himmel keine einzige Wolke, ich fühlte mich frei", erinnert sich Beamon. "Als mein Name aufgerufen wurde, habe ich an nichts gedacht. Ich bin die Bahn zur Grube hinuntergesprintet, am Brett abgehoben und als ich wieder aufkam, hatte ich den Weitsprung-Rekord der Junioren-Olympiade gebrochen. Als ich auf dem Siegertreppchen ganz oben stand, fragten sich die Leute wahrscheinlich, wer ist der Typ, wo kommt der her? Ich hätte es ihnen nicht beantworten können, ich kannte mich ja selbst nicht."
Am nächsten Tag stand sein Name zum ersten Mal im "Daily Mirror", seiner Lokalzeitung: "Bob Beamon sprang 7,34 Meter". Ein Athlet und sein Ehrgeiz waren geboren. Sein Stiefvater kopierte den Artikel, ging zur South Jamaica High School und zeigte ihn Larry Ellis, einem renommierten Leichtathletik-Trainer. Er bat ihn, Bob unter seine Fittiche zu nehmen, was Ellis auch tat. Unter einer Bedingung: Die Jamaica High war eine traditionsbewusste Schule, eine disziplinarische Übertretung und Beamon würde von der Schule fliegen. Beamon spielte zu dem Zeitpunkt immer noch Basketball, die Fortschritte in seiner neuen Disziplin, dem Weitsprung, waren aber deutlich größer: 1964 war Bob der zehntbeste Highschool-Schüler des Landes. Ein Jahr später stieg er auf Platz zwei der nationalen Rangliste auf. Sein Potenzial entwickelte sich rasant. Womöglich stimmt, was Beamon später einmal über sich gesagt hat: "Ein Rohdiamant poliert sich von selbst".

Ob Ehe oder Studium - Es ist kompliziert!

Seine sportliche Entwicklung blieb nicht unbemerkt. Das College der North Carolina A&T bot ihm ein Stipendium an. Doch bevor er das Studium antreten konnte, musste er eine junge Frau heiraten, die ein Kind von ihm erwartete. Es war den Sitten der damaligen Zeit geschuldet und wohl auch dem Wunsch der Großmutter, die darauf bestand. Neun Monate später erlitt seine Frau Melvina eine Fehlgeburt. Ende 1966 kehrte Beamon nach New York zurück, Großmutter Bessie hatte ihn angefleht, das College abzubrechen, um Melvina zu unterstützen. Coach Larry Ellis aber fürchtete um das enorme Talent des 20-Jährigen und vermittelte ihm einen Kontakt zu Wayne Vandenburg, einem Weitsprung-Trainer an der Universität von Texas in El Paso (UTEP). Vandenburg wollte ihn umgehend an den Campus holen, doch Beamon zögerte zunächst. Vom Big Apple nach El Paso - das war ein weiter Weg.
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Robert "Bob" Beamon

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Coach Vandenburg war vom Potenzial seines jungen Weitspringers von Beginn an überzeugt. Auch deshalb konnte er Beamon überzeugen. Von Vandenburg stammte die frühe Einschätzung, die erst rückblickend einen Sinn ergab: "Eines Tages wird Bob Beamon einen Sprung machen, den Sie nicht glauben werden und ich auch nicht." Aber das Leben in El Paso war für Beamon, gelinde gesagt, eine Herausforderung. An der UTEP gab es etwa 10.000 Studenten, ganze 250 von ihnen waren schwarz. Als im Sommer 1967, im Zuge der "68er Revolution", die Spannungen und Unruhen im Land zunahmen, wuchs auch Beamons politisches Bewusstsein. Die Vereinigten Staaten hatten unter der Präsidentschaft von Lyndon B. Johnson mit dem Civil Rights-Act die Sache der Schwarzen gesetzgeberisch und rechtlich vorangebracht. Aber es klaffte immer noch eine riesige Lücke zwischen dem, was Gesetz war und dem historisch gewachsenen Rassismus, der tagtäglichen Zweiklassengesellschaft.

Beamon und die Mormonen

Bob Beamon war ein Kind der Rassentrennung. Und der, der gegen sie mobil machte, Martin Luther King, verlor in dieser Zeit der Veränderung sein Leben: am 4. April 1968 vor dem Lorraine Motel in Memphis, ermordet von einem gewissen James Earl Ray. Für Bob Beamon war es der richtige Moment, endlich Stellung zu beziehen. Über das Osterwochenende trat die UTEP, wie jedes Jahr, zu einem sportlichen Wettkampf gegen die Brigham Young University an. Die BYU war eine Mormonenhochschule mit einem, sagen wir, gespaltenen Verhältnis gegenüber Afroamerikanern. Es war der 8. April 1968, der Tag vor Kings Beerdigung, als neun Mitglieder des Leichtathletik-Teams der UTEP, darunter Beamon, ein Treffen mit Coach Vandenburg einberiefen und ihm mitteilten, dass sie den Wettkampf boykottieren würden. Ihr Grund: Das Buch Mormon predigte, dass Schwarze die irdische Vertretung des Teufels seien.
Beamon und seine Kameraden wussten genau, dass sie mit dem Feuer spielten, aber sie blieben standhaft und bezahlten teuer dafür. "Ich habe durch den Boykott mein Stipendium verloren", erinnert sich Beamon in seiner Biografie, "aber ich wollte meinen Traum nicht aus den Augen verlieren, deshalb trainierte ich weiter. Ich wollte zu Olympia, diesmal und nicht irgendwann." Der Tod von Martin Luther King, zwei Monate später die Ermordung von Bobby Kennedy hatten in ihm etwas verändert. "Das Leben ist zu kurz und zu kostbar, um es zu vergeuden", schrieb er später. Doch ohne Trainerteam und ohne finanzielle Mittel war Beamon gezwungen, neu zu denken. Im Vorfeld der Spiele stellte er den erfahrenen Ralph Boston, ein Mitbewerber um das Weitsprung-Gold in Mexiko, als seinen persönlichen Trainer an. Trotz des Trubels um ihn herum blieb Beamon konzentriert.
El Paso liegt unmittelbar an der mexikanischen Grenze, strategisch günstig gelegen für Bob Beamon, der zu Olympia wollte. Politisch war das Jahr 1968 auch für das Gastgeberland ein Pulverfass. Als Ausrichter der XIX. Spiele war die Hauptstadt Mexiko-City ausgewählt worden, die Eröffnungsfeier fand nur zehn Tage nach dem Massaker von Tlatelolco statt, bei dem über 300 unbewaffnete Demonstranten, größtenteils Studenten, von Militärs und Sicherheitskräften ermordet wurden. Es brodelte im Land und keiner wusste, was das Fass zum Überlaufen bringen konnte. Am 16. Oktober 1968, nur vier Tage nach der Eröffnung, sorgten die Spiele selbst für einen Eklat. Auf dem 200-m-Podium senkten die US-Sprinter Tommie Smith und John Carlos, beide Afroamerikaner, ihre Köpfe und reckten ihre schwarz behandschuhten Fäuste in den Himmel. Der Black-Power-Gruß, den sich die Olympiaoffiziellen verbaten und der heute als Ikone des Ungehorsams in das kollektive Gedächtnis eingegangen ist. Zwei Tage später, am Morgen des Weitsprungfinales, wurden beide Männer vom IOC aufgefordert, ihre Koffer zu packen und das olympische Dorf zu verlassen.
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Tommie Smith, John Carlos, Peter Norman in Mexiko 1968

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In der Qualifikation fast gescheitert

Bob Beamon war da noch dabei - mit knapper Not. Am Vortag wäre der junge Weitspringer fast in der Qualifikation gescheitert: Zwei ungültige Versuche bei insgesamt nur drei möglichen brachten Beamon an den Rand des Ausscheidens. Ralph Boston, sein Mentor und Trainer, der 1960 in Rom Gold und in Tokio vier Jahre später Silber im Weitsprung gewann, nahm Beamon zur Seite. Jetzt zählte es. Bobs dritter und letzter Sprung wurde mit 8,19 Metern gemessen, das reichte für den Einzug ins Finale.
Das, was in der Nacht vor dem Finale passiert sein soll, ist seit Jahrzehnten Gegenstand vieler Spekulationen geworden. In seiner Autobiografie schreibt Beamon ganz offen, dass er mit seiner Jugendliebe Gloria zusammen war, sie hätten sich geliebt, schreibt Beamon. Gloria war das Mädchen, das er geheiratet hätte, wenn Melvina nicht schwanger geworden wäre. Bei anderen Gelegenheiten erzählte Beamon, dass er über den Rauswurf von Smith und Carlos aus dem "Team USA" so verärgert war, dass er Dampf ablassen musste, in die Stadt ging und Tequila trank. Das klang dann so: "Mann, habe ich mich locker gefühlt. Ich habe gut geschlafen." Wie es auch war - am nächsten Tag stand Beamon um 15:46 Uhr Ortszeit mit der Rückennummer 254 auf seinem Lätzchen am Anlauf. Es waren genau 23,5 Grad im Inneren des Olympiastadions, die Luftfeuchtigkeit betrug 42 Prozent. Beamon war der vierte Springer in dem 17-köpfigen Feld. Die Bedingungen waren anspruchsvoll, der Himmel verdunkelte sich zusehends, ein Gewitter näherte sich, die ersten drei Sprünge waren alle ungültig. Dann war Beamon an der Reihe.
"Wir fragten uns, ob wir überhaupt springen können", erinnerte sich der Franzose Jack Pani vor einigen Jahren in der Zeitung "Ouest France", er wurde am Ende Siebter. "Es fing an zu regnen, starke Windböen kamen auf. Und weil der Wind von hinten kam, taten wir uns alle mit dem Anlauf schwer." Ein Sturm braute sich zusammen. Zur gleichen Zeit fand das Finale über 400 Meter statt, das ebenfalls mit einem neuen Weltrekord enden sollte. Der Amerikaner Lee Evans kam mit einer Zeit von 43,86 Sekunden ins Ziel, zum ersten Mal war ein Mensch die Stadionrunde unter 44 Sekunden geblieben. Kaum im Ziel machte sich Beamon auf den Weg zum Anlauf für seinen ersten Versuch im Weitsprung-Finale. Nach einer kurzen Konzentrationsphase schnellte er los, nahm Fahrt auf, wurde immer schneller, seine schlaksigen Beine trommelten auf die Tartanbahn. Er traf das Brett ideal, sein Absprung explodierte, sein Torso schwebte durch die dünne mexikanische Luft. Nach einer gefühlten Ewigkeit, der Schwerkraft zum Trotz, kam Beamons Körper wieder auf die Erde zurück. "Ich landete mit einer solchen Wucht, dass ich wie ein Känguru aus dem Sandkasten heraushüpfte. Ich war nicht zufrieden mit meiner Landung. 'Verdammt, wie konnte ich nur auf meinem Hintern und nicht auf meinen Füßen landen! Das wird mich Weite kosten, 30 Zentimeter bestimmt! Ich habe es vermasselt!' So dachte ich…" Tatsächlich war Beamon bekannt für seine eher unkonventionelle Technik, die alles andere als ausgereift war.
Ralph Boston, Beamons Interimscoach, glaubte spontan an eine Weite über achteinhalb Meter. Wörtlich sagte Boston zu Olympiasieger und Weltrekordinhaber Lynn Davies: "Das sind über 28 Fuß!" Also umgerechnet über 8,53 Meter. Davies erwiderte ungläubig: "Mit seinem ersten Sprung? Nein, das kann nicht sein!" Davies hatte seinen Trainingsanzug noch gar nicht ausgezogen, fürchtete um seinen Weltrekord und wusste bereits, dass es nur noch ein Kampf um Silber war: Bob Beamon hatte den Wettkampf mit dem ersten Sprung entschieden.
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Bob Beamon bei seinem Jahrhundertsprung

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Ein kaum messbarer Sprung

Kaum war Beamon wieder auf den Beinen, betrat einer der Kampfrichter die Grube, um das Ergebnis zu ermitteln. Zuerst ging die weiße Fahne hoch: Der Versuch war gültig, Beamon war nicht übergetreten. Die Windmessung ergab zwei Meter Rückenwind pro Sekunde, die maximal erlaubte Obergrenze. Jetzt konnte der Sprung gemessen werden, sofern die Technik es zuließ. Boston hatte Recht: Beamon war über 28 Fuß gesprungen. Allerdings weit über 28 Fuß. Er war weit über das hinausgesprungen, was damals denkbar war und technisch möglich schien. Wie wurde es dennoch möglich?
Mexiko-City waren die ersten Olympischen Spiele, bei denen die Ergebnisse in der Leichtathletik elektronisch gemessen wurden: An der Weitsprunggrube mithilfe eines optischen Messgeräts, das auf einer Schiene die Grube entlang mitlief. Das Problem war nur: Die Offiziellen hatten die Weite auf 8,60 Meter gedeckelt. Beamons Sprung war aber weit darüber hinaus, sodass er buchstäblich unermesslich schien. Beamon stieg mit einem Grinsen aus der Grube, erleichtert, dass er nach dem Drama in der chaotischen Quali diesmal mit dem ersten gültigen Versuch sehr zufrieden sein konnte. Und dann passierte 15 Minuten lang gar nichts, bis die IAAF-Offiziellen auf die altbewährte Methode zurückgriffen und den Sprung manuell maßen. Für den Jahrhundert-Sprung brauchte es ein ganz gewöhnliches Maßband. Als der Stadionsprecher schließlich die Weite für den Sprung durchgab - 8,90 Meter -, war Beamon, der mit metrischen Maßen nicht vertraut war, immer noch nicht klar, was ihm gelungen war. Das änderte sich erst als Ralph Boston die Umrechnung vornahm: 29 Fuß und 2,5 Zoll. Mit anderen Worten: 21,75 Zoll weiter, als jemals zuvor ein Weitspringer geflogen war. In Worten: Achtmeterneunzig.
Als Beamon die Weite realisierte, fiel er zu Boden. Die Emotionen übermannten ihn. In dem Moment erlitt er einen Schock, der eine Muskellähmung, eine sogenannte Kataplexie, auslöste. Mit dem Kopf in seinen Händen und darauf angewiesen, dass Coach Boston ihn stützte, wurde der neue Weltrekordhalter und Olympiasieger wenige Minuten, nachdem er Geschichte geschrieben hatte, an seine eigene Sterblichkeit erinnert. "Verglichen mit diesem Sprung kamen wir uns vor wie Kinder ", kommentierte der sowjetische Weitspringer Igor Ter-Ovanesyan, fast genau ein Jahr nachdem er im gleichen Stadion seinen Weltrekord aufgestellt hatte. Titelverteidiger Lynn Davies ging auf seinen Nachfolger zu und erklärte ihm unwirsch: "Du hast diesen Wettkampf zerstört". Beamon war in der Zwischenzeit wieder zu sich gekommen und konterte: "Das mag sein, aber dieser erste Sprung hat auch mich fast umgebracht". Wenig später entleerten sich die Gewitterwolken über dem Olympiastadion von Mexiko-City. Obwohl Gold feststand, sprang Beamon noch ein weiteres Mal, diesmal mit der eher bescheidenen Weite von 8,04 Meter. Danach legte er seine Spikes ab. Die Bedingungen hatten sich weiter verschlechtert, die nasse Bahn und die Windböen hatten jegliche Chancen seiner Kontrahenten auf einen Gegenschlag zunichtegemacht.
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Bob Beamon stellte in Mexico-City mit 8,90 Meter einen neuen Weltrekord auf

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Bevor er das Siegerpodium betrat, krempelte Bob Beamon seine Trainingshose bis zu den Waden hoch und enthüllte ein Paar schwarzer Socken, auf der obersten Stufe hob er seine Faust als Zeichen der Solidarität mit Tommie Smith und John Carlos. Dann wurde der Armstrong der Leichtathletik von einem flüchtigen, aber düsteren Gedanken heimgesucht: "Was nun?" Womöglich ahnte er, dass sein größter Moment nun bereits hinter ihm lag. Bob Beamons Jahrhundertsprung vom Oktober 1968 hat den Weltrekord um 55 Zentimeter verbessert, danach kam er nie wieder auch nur annähernd an diese Bestmarke heran. Beamon sprang in seiner Karriere nicht mehr weiter als 8,16 Meter. Verletzungen, private Ablenkungen und das Gefühl, endlich auch Geld verdienen zu müssen, sorgten dafür, dass er danach nie wieder so fokussiert schien wie an jenem regnerischen Oktober-Tag in Mexiko-City.
"Ich erreichte meinen sportlichen Höhepunkt, da war ich gerade einmal 22 Jahre alt ", erklärte er später einmal. "Ich war Student am College, bereits verheiratet und versuchte mich auf internationalem Niveau zu behaupten. Es waren die späten 1960er Jahre, mit diesen großen gesellschaftlichen Umwälzungen, der Rassenfrage, der Frauenbewegung, die Attentate, dann kamen die Drogen… Es war eine seltsame Zeit und ich verlor mich irgendwie darin."

Beamonesque heißt: Wer wagt, gewinnt!

Bald nach dem Sensationssprung, als die Schockstarre nachließ, begann die Sportwelt Fragen zu stellen. War das physikalisch überhaupt möglich? Fast neun Meter, über einen halben Meter weiter als zuvor? Wie stark wehte der Wind an diesem Tag wirklich? Waren es doch mehr als die erlaubten zwei Meter pro Sekunde? Bob Beamon blieb gelassen, auch als die Debatte rassistische Untertöne bekam. "Es gab Wissenschaftler, die meinen Sprung mit den Gesetzen der Physik analysierten und über Geschwindigkeit, Flugbahn und Aerodynamik diskutierten", erzählt Beamon in seiner Autobiografie. "Andere analysierten meine Leistung vor dem Hintergrund ihres persönlichen Ressentiments. Sie sagten, ich sei nur so weit gesprungen, weil ich schwarz war. Ihre einzige Erklärung war die Rassenkarte: Schwarze hätten längere Beine, dickere Knöchel und eine andere Muskulatur. Mal war ich der Beweis dafür, dass Schwarze wie ich, wegen solch körperlicher Vorzüge ideale Sklaven waren, mal wurde ich zur übermenschlichen Sprungmaschine gemacht. Gott sei Dank dachten und denken nicht alle so."
Sportlich waren die Spiele in Mexiko in jeder Hinsicht außergewöhnlich. Allein in den 36 Disziplinen der Leichtathletik gab es 14 Welt- und 12 olympische Rekorde. Im Dreisprung-Finale wurde der Weltrekord gleich fünfmal gebrochen. Über die 100 Meter durchbrach Jim Hines mit 9,96 Sekunden als erster Läufer die 10-Sekunden-Schallmauer. Neben der Einführung der Tartanbahn nutzten Sprinter wie Springer die günstigen meteorologischen Bedingungen, die mit der Höhenlage von Mexiko-Stadt verbunden waren. Auf 2.200 Metern über dem Meeresspiegel ist der Luftwiderstand deutlich geringer. Im Fall von Bob Beamon kam sein Gespür hinzu, kurz vor dem drohenden Gewitter, das den Luftdruck noch einmal zusätzlich reduzierte, in einem Sprung alles zu wagen – und zu gewinnen.
"Man kann diesen Sprung hinterher nicht rational erklären", sagte Beamon 1984 der "New York Times". "Alles war einfach perfekt: die Startbahn, meine Schrittlänge, mein Absprung, mein Timing, meine Konzentration. Ich habe die ganze Welt ausgeblendet, es gab nur diesen Sprung. So etwas hatte ich nie zuvor erlebt und auch nicht mehr danach." Das ist dann wohl Bobs ganz persönliche Definition von beamonesque.
Geschrieben von Maxime Dupuis, übersetzt von Thilo Komma-Pöllath

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