Bridgestone
Die großen Olympia-Geschichten: Kerri Strug - Schmerzhafter Sprung in den amerikanischen Traum
In Partnerschaft mit
BridgestoneVon
Publiziert 15/06/2021 um 08:17 GMT+2 Uhr
Am 23. Juli 1996 wurde Kerri Strug in Atlanta zu Amerikas Goldmarie. Die junge Turnerin verletzte sich beim Sprung am Pferd, vergaß ihre Schmerzen, sprang noch einmal und sorgte für den ersten Sieg einer amerikanischen Frauenturnmannschaft bei Olympia. Obwohl sie nicht die talentierteste Sportlerin ihres Teams war, wurde die 18-Jährige durch ihren Mut weltberühmt.
Kerri Strug (l.) in den Armen ihres Coaches Bela Karolyi
Fotocredit: Eurosport
Der amerikanische Traum ist so alt wie die Neue Welt. Er wurde in dem Moment geboren, als die Pilgerväter ihren Fuß auf die Ostküste Amerikas setzten. Trotz der Umwälzungen der Geschichte ist der amerikanische Traum noch immer lebendig und weist den Menschen dieser noch so jungen Nation, die keine 250 Jahre alt ist, den Weg. Amerika wurde auf einer widersprüchlichen und doch unumstößlichen Maxime gebaut: Wie hoch der Preis auch sein mag, wie viel Gewalt und Verlust auch nötig ist, am Ende siegt die Hoffnung, am Ende war es der Mühe und der Schmerzen wert.
Auch Kerri Strug träumte diesen Traum wie so viele vor und so viele nach ihr. Schon als Kind wollte sie ein Champion werden, im Sport, sie war bis zum Äußersten entschlossen. Gerade im Turnen gehört es zur täglichen Routine, bis an die Schmerzgrenze zu gehen. Und darüber hinaus. An dem Tag, an dem sie endlich Gold holte, litt sie wie nie zuvor. Wenn man es dramatisch formulieren wollte: Im Hochleistungssport kommt die Folter vor der Krönung - da war er wieder, der Kerngedanke des amerikanischen Traums.
Eine für alle und alle für eine
In ihren kühnsten Kindheitsträumen sah sich Kerri Strug als Mary Lou Retton, die fünffache Medaillengewinnerin bei den Spielen von Los Angeles 1984 und Olympiasiegerin im Mehrkampf. Mit drei Jahren begann Kerri mit dem Kinderturnen, mit sechs stellte sie sich den Moment vor, wenn sie auf dem Podium stehen würde, eine Goldmedaille um den Hals und aus den Lautsprechern ertönt die amerikanische Nationalhymne "The Star-Spangled Banner." Kindliche Gänsehautträume.
In Atlanta, zwölf Jahre nach Rettons Triumph, holte auch Strug olympisches Gold. Dank ihr gelang es der amerikanischen Mannschaft endlich aus dem langen Schatten des russischen Teams zu treten. Ihre Freude auf dem Podium war um ein Vielfaches größer, da sie nicht nur für sich, sondern für ihre Mannschaftskolleginnen geturnt und gewonnen hatte. Aus den Tränen der Qual, wegen ihres kaputten Knöchels, wurden Tränen der Erleichterung und des Glücks. "Ich dachte, es würde wie bei Mary Lou sein. Stattdessen weinte ich, [mein Trainer] Bela Karolyi trug mich zum Podium, und ich hatte nicht einmal meine Jogginghose an", erinnerte sich Kerri Strug später an den größten Augenblick ihres Lebens.
Ihre Leistung war umso bemerkenswerter, weil Strug nicht das angeborene Talent besaß, auch als Einzelturnerin Medaillen gewinnen zu können. Aber ohne sie hätte das US-Team in Atlanta nie Gold erringen können. Es galt das alte Musketier-Motto: Eine für alle, alle für eine. Am 23. Juli 1996 wurde Strug zu einer nationalen Heldin, ein inspirierendes Symbol für Widerstandskraft, Selbstlosigkeit und Hingabe, wichtige Zutaten für den amerikanischen Traum. Selbst ein Vierteljahrhundert später können sich viele ihrer Landsleute an diesen historischen Moment erinnern, den Millionen am Bildschirm miterlebt haben. Nie zuvor hatte das amerikanische Turn-Team der Frauen den Mannschafts-Mehrkampf gewonnen, weder bei Weltmeisterschaften noch bei Olympia. Jetzt war es endlich so weit. Doch der Goldsprung hatte auch seine Schattenseiten – für Kerri und das Team.
/origin-imgresizer.eurosport.com/2021/06/15/3153650-64628728-2560-1440.jpg)
Kerri Strug: Golden Girl mit dem Herz einer Löwin
Quelle: Bridgestone
Meine kleine Schwester geht zu Olympia
Vor Kerri gab es Lisa, ihre ältere Schwester. Lisa war selbst eine erfahrene Turnerin und erkannte schnell, dass ihre jüngere Schwester etwas hatte, das sie zu etwas Großem befähigte. Als Kerri neun Jahre alt war, prahlte Lisa vor ihren Freunden damit herum, dass sie "eine kleine Schwester hat, die eines Tages an Olympischen Spielen teilnehmen wird". Anders als viele sogenannte "Turneltern" hielten sich Kerris Vater und Mutter immer zurück, wenn es um die Karriere ihrer Tochter ging. Eine Zeit lang wollte Strug in die Fußstapfen ihres Vaters treten, ein Herzchirurg, und Kinderärztin werden. Es dauerte nicht lange, bis ihr die Turnhalle wichtiger schien.
Um es ganz nach oben zu schaffen, das war Strug von Anfang an klar, musste sie Opfer bringen und sich einer eisernen Disziplin unterwerfen. An eine normale Kindheit und Jugend war dann nicht mehr zu denken. "Die Karriere einer Turnerin ist ziemlich kurz", sagte sie schon mit 14 Jahren. "Die meisten erreichen ihren Höhepunkt mit 15 oder 16. Wenn ich mit dem Turnen fertig bin, habe ich den Rest meines Lebens Zeit, all die anderen Dinge zu tun, die Jugendliche so machen. Turnen bedeutet mir einfach zu viel."
Strug stürzte sich kopfüber in ihren Sport. Mit acht Jahren nahm sie an ersten Wettkämpfen teil, was ihr fehlte war ein erstklassiger Trainer, wie ihn auch ihre Schwester Lisa hatte. Der Rumäne Bela Karolyi hatte international für Furore gesorgt, als sein Schützling Nadia Comaneci 1976 in Montreal ihre Übung am Stufenbarren mit der Traumnote 10 absolvierte und zum Weltstar aufstieg. Später wanderte Karolyi in die USA aus, wo er Mary Lou Retton zur Olympiasiegerin formte. Karolyi war auch Lisas Trainer.
Als Kerri Strug 13 Jahre alt war, bot ihr der Verband an, unter Karolyi trainieren zu können. Karolyi hatte es 1981 geschafft, aus Rumänien zu fliehen, seitdem lebte und arbeitete die Trainerlegende auf einer Ranch nördlich von Houston. Sie umfasste 2.000 Hektar und beherbergte eine Turnakademie für die Elite des Landes. Strugs Onkel und Tante wohnten zwar in der Nähe, aber für ihre Eltern war die Trennung von Kerri schwer. "Ich war am Boden zerstört", erklärte ihre Mutter. "Es war umso schwerer, da auch unser Sohn für sein Studium das Elternhaus gerade erst verlassen hatte."
Eine Berufung für Körper und Seele
Glanz und Anmut des Kunstturnens liegen in der Arbeit und Aufopferung des täglichen Trainings begründet. Der Sport ist eine Berufung für Körper und Seele, nicht jeder ist dazu in der Lage. Um an die Spitze zu kommen, müssen Kinder und Jugendliche ihre kleinen Körper täglich an seine Grenzen führen, bis zu dem Punkt, an dem das Training auch Wachstum und Pubertät, die Gesundheit der Kinder beeinträchtigt.
Karolyi war bekannt für seinen kompromisslosen Trainingsstil. Er erwartete von seinen Schülern die totale Hingabe an den Sport. Karolyi war ein großer Mann mit ungepflegtem Schnurrbart und hartem Akzent. Er schlief nur vier Stunden, am liebsten von ein bis fünf Uhr morgens und verbrachte den größten Teil des Tages in der Turnhalle. Seine Philosophie war einfach: Wer am härtesten arbeitet, wird später am meisten belohnt.
Von den rund 500 Mädchen, die seine Akademie besuchten, arbeiteten nur die besten sechs - "Karolyis Sixpack" - direkt mit ihm und seiner Frau Marta zusammen. Strug war eine der "happy few", in denen er das meiste Potenzial sah. Nicht nur wegen ihres Talents, sondern auch wegen ihrer Fähigkeit, härteste Belastungen ertragen zu können. "Turnen ist nicht zum Spaß", war Karolyis Credo Anfang der 90er Jahre. "Es ist nicht Golf. Ich glaube, dass alles, was sich wirklich lohnen soll, vorher auch beschwerlich sein muss. Als Trainer muss man immer fordern, immer nach mehr fragen, Milde hilft da nicht weiter. Wenn man der Beste sein will, muss man aus jeder Trainingsminute das Beste herausholen."
/origin-imgresizer.eurosport.com/2021/06/15/3153652-64628768-2560-1440.jpg)
Strugs Trainer: Bela Karolyi
Fotocredit: Eurosport
Ruhm - aber zu welchem Preis?
Für viele erwies sich dieser Ausleseprozess als unüberwindlich. Viele seiner Schützlinge haben sich später über Karolyis unbarmherzige Methoden beschwert. Richtig ernst genommen wurden diese Beschwerden aber erst nach Bekanntwerden des Skandals um Larry Nassar. Der Arzt der US-Turn-Nationalmannschaft arbeitete viele Jahre in Karolyis Akademie und wurde im Februar 2018 zu lebenslanger Haft verurteilt, schuldig gesprochen Hunderter sexueller Übergriffe auf Athlet*innen, die ihm anvertraut waren. Die Zeugenaussagen vieler Turnerinnen haben seitdem den systematischen Missbrauch enthüllt, den Bela Karolyi zu verantworten hat. Ihm wurde vorgeworfen, dass die brutalen Trainingsmethoden seine Schützlinge quälten, sie in Essstörungen trieben und viele kein Selbstwertgefühl entwickeln konnten. Der Skandal führte dazu, dass Karolyi seine Akademie 2018 schließen musste.
Dominique Moceanu, eine von Strugs Turnkollegin aus der Goldmannschaft von Atlanta, hatte Bela und Marta Karolyi schon länger vorgeworfen, junge Mädchen körperlich und verbal misshandelt zu haben. Allerdings haben viele von Karolyis prominentesten Sportlern, darunter auch Kerri Strug, ihren Trainer vehement gegen diese Vorwürfe verteidigt. Strug, wie viele andere Turnerinnen, musste mit einem inneren Gewissenskonflikt klarkommen. Je härter er sie trainierte, desto größer war die Chance, dass sie selbst zum Star reiften. Das war der Deal, den sie eingegangen waren. Strug mochte Karolyi als Person "nicht wirklich", trotzdem fühlte sie sich ihm gegenüber verpflichtet. "Ich habe mich entschieden, mit ihm zu trainieren. Er ist nicht da, um mein bester Freund oder eine Vaterfigur zu sein. Er ist da, um mich dazu zu bringen, die bestmögliche Turnerin zu werden. Es ist sein Job, mich jeden Tag über meine Komfortzone hinaus zu bringen."
Das Training mit Karolyi war ein Zehnstunden-Tag, sechs Tage die Woche. Die einzigen freien Tage waren die Sonntage, der 4. Juli und drei Tage an Weihnachten. Und selbst an diesen Feiertagen wurde die Ernährung der Mädchen streng kontrolliert. Pizza war immer nur ohne Käse erlaubt. Sein Fokus auf das Gewicht der Turnerinnen führte dazu, dass manche nur noch 900 Kalorien pro Tag zu sich nehmen durften. Strug aber war hungrig nach Erfolg und sie klammerte sich an ihren Traum. 1992, fünfhundert Jahre nachdem Kolumbus zum ersten Mal einen Fuß auf den amerikanischen Kontinent gesetzt hatte, überquerte Strug den Atlantik in die entgegengesetzte Richtung, auf der Suche nach olympischem Gold. Gerade einmal 14 Jahre alt, war Strug die jüngste Olympia*teilnehmerin der Sommerspiele von Barcelona, ihren Platz hatte sie bei den US-Trials in Baltimore ergattert. All die Opfer, die sie tagtäglich erbracht hatte, sollten sich nun auszahlen. Am Ende reichte es für eine Bronzemedaille im Team-Wettbewerb hinter der Mannschaft der ehemaligen Sowjetrepubliken und Rumänien, den beiden Supermächten im Turnsport. Für den Einzel-Mehrkampf konnte sich Strug nicht qualifizieren, in der internen Ausscheidung scheiterte sie an ihrer Teamkollegin Kim Zmeskal.
/origin-imgresizer.eurosport.com/2021/06/15/3153653-64628788-2560-1440.jpg)
Kerri Strug bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona
Fotocredit: Eurosport
Wilde Jahre nach bittersüßer Bronze
Kerri Strug war unzufrieden mit ihrer Ausbeute, vor allem, weil es für eine Einzelmedaille nicht gereicht hatte. "Dass ich in Barcelona nicht das bekommen habe, was ich mir vorgenommen hatte, führte dazu, dass ich es in Atlanta umso mehr gewollt und umso härter dafür gearbeitet habe", erinnerte sie sich am 20. Jahrestag ihres Atlanta-Erfolges 2016 – Ihre Stimme war noch genauso schrill und laut wie die als Teenager. "Das Ziel Einzelmedaille war der Grund, warum ich nach Barcelona noch vier Jahre drangehängt habe."
Kerri Strug war unzufrieden mit ihrer Ausbeute, vor allem, weil es für eine Einzelmedaille nicht gereicht hatte. "Dass ich in Barcelona nicht das bekommen habe, was ich mir vorgenommen hatte, führte dazu, dass ich es in Atlanta umso mehr gewollt und umso härter dafür gearbeitet habe", erinnerte sie sich am 20. Jahrestag ihres Atlanta-Erfolges 2016 – ihre Stimme war noch genauso schrill und laut wie die als Teenager. "Das Ziel Einzelmedaille war der Grund, warum ich nach Barcelona noch vier Jahre drangehängt habe."
Für einen Teenager müssen sich vier weitere Jahre harter Arbeit und Entbehrung wie eine Ewigkeit anfühlen, aber Strug hatte noch eine Rechnung offen. Ihre größte Sorge: Bela Karolyi, gerade fünfzig geworden, wollte sich nach den Spielen 1992 vom Leistungssport zurückzuziehen. Strug stand plötzlich ohne Trainer und Mentor da. Die Dinge gerieten außer Kontrolle. Für Strug waren es "die schlimmsten Jahre meines Lebens". Sie wollte Houston verlassen, sie suchte nach Trainingsgruppen, sie versuchte sogar, zu ihrem ersten Trainer, Jim Gault, zurückzukehren, aber es passte einfach nicht mehr.
Am Ende des Winters 1993 erlitt sie eine Verletzung, die sie weit zurückwarf. Der Riss eines Bauchmuskels hielt sie sechs Monate vom Turnen ab. Kerri verlor viel Muskelmasse und als sie wieder zu Hause in Arizona war, folgte eine weitere sechsmonatige Verletzungspause - bei einem Sturz vom Stufenbarren hatte sie sich schwer den Rücken verletzt. Sensiblere Gemüter hätten ihren Olympiatraum lange aufgegeben, nicht so Kerri Strug. Trotz der schweren Verletzungen verlor sie ihr Ziel nicht aus den Augen: Olympia, Atlanta, Medaille. Als Karolyi beschloss, seinen Vorruhestand zu beenden, um die neuen Wunderkinder Kim Zmeskal und Dominique Moceanu zu trainieren, letztere gewann bei den nationalen Meisterschaften 1995 das Mehrkampffinale, war auch für Strug die Leidenszeit vorbei. Strug nahm das Training bei ihm wieder auf und sicherte sich das Olympia-Ticket für Atlanta.
/origin-imgresizer.eurosport.com/2021/06/15/3153654-64628808-2560-1440.jpg)
Kerri Strug (l.) 1992 in Barcelona
Fotocredit: Eurosport
Ost gegen West
Die Spiele in Atlanta waren Jubiläumsspiele, 100 Jahre nach den ersten der Neuzeit. Die Hauptstadt des US-Bundesstaates Georgia hatte sich bei ihrer Bewerbung ausgerechnet gegen Athen durchgesetzt, es war eine Entscheidung für den amerikanischen Traum gegen den ursprünglichen olympischen Geist. Seit Barcelona waren vier Jahre vergangen, aus dem Kind Kerri war der Teenager Strug geworden, es war Zeit, ihren Medaillentraum mit Leben zu füllen. Vier Jahre später war es nicht mehr die gedämpfte Atmosphäre des Palau Sant Jordi auf dem Montjuïc, sondern der Hexenkessel des Georgia Dome, der eigens für die Turnwettbewerbe umgebaut wurde. Die amerikanische Öffentlichkeit erwartete vor allem eines: Goldmedaillen für den Gastgeber USA, insbesondere auch im Turnen.
Dieser patriotische Durst nach Medaillenerfolgen peitschte eine ohnehin schon parteiische Zuschauermenge auf und schuf eine Atmosphäre, die es so seit dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs nicht mehr gegeben hatte. Die Athleten aus dem Osten sahen sich klar im Nachteil. Die ehemalige Sowjetunion hatte zwischen 1952 und 1988 jedes Mannschaftsgold der Frauen im Turnen gewonnen, mit Ausnahmen der boykottierten Olympischen Spiele 1984 in Los Angeles - Rumänien holte souverän den Titel - und 1992 in Barcelona, als es die UdSSR nicht mehr gab und die Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) triumphierte.
Ihr bestes Ergebnis erzielten die Amerikaner 1984 auf heimischem Boden, als sie in Abwesenheit der Sowjets Silber gewannen. Die Bronzemedaille 1992 hatte dem Team USA Auftrieb gegeben, zumal die Frauen-Turnmannschaft so talentiert besetzt war wie niemals zuvor. Die Medien schrieben bewundernd von den "Magnificent Seven" oder "Mag 7". Die magischen Sieben hatten als Team die perfekte Mischung aus erfahrenen Turnerinnen, Newcomern und Wunderkindern. Kerri Strug passte eigentlich in keine der Gruppierungen und blieb intern ein Außenseiter. Die schüchterne 18-Jährige, die Karolyi einmal einen "heiligen Vogel" nannte und die oft in Tränen ausbrach, war dafür bekannt, dass sie das Rampenlicht nicht mochte. Aber ihre Vielseitigkeit, ihre Verlässlichkeit und ihr Teamgeist machten sie zu einer idealen Mannschaftsturnerin. Sie war ein echter Teamplayer. "Kerri war wie ein laufender Motor, aber kein sanft laufender Motor, sondern einer, der aggressiv aufheult", so beschrieb sie Karolyi. "Ich sah in ihren Augen das Feuer, den Wunsch und den Hunger wie nie zuvor. Sie war fest entschlossen, in Atlanta ihre Medaille zu holen und das zeigte sie jeden Tag in der Halle."
Die Stars des Teams, Newcomerin Dominique Moceanu und die fünffache Olympiasiegerin und Weltmeisterin Shannon Miller, genossen die mediale Aufmerksamkeit, Strug hielt sich dagegen im Hintergrund. Die Mädchen des Teams USA wohnten nicht im olympischen Dorf und bereiteten sich fernab des Rampenlichts an der Emory University in Atlanta vor.
Werden die "magischen Sieben" plötzlich nervös?
Der Tag der großen Entscheidung, der 23. Juli 1996, rückte näher. Bis zur letzten Rotation an den Geräten war für das Team USA alles gut gelaufen. Jetzt fehlten noch die GUS-Athleten am Boden und die Amerikaner am Sprung. Das gastgebende US-Team hatten einen souveränen Vorsprung von 0,897 Punkten vor ihrem Erzrivalen. Nur ein Sturz hätte ihnen Gold noch nehmen können. Spürten die "Magnificent Seven" den historischen Moment? Machte er sie nervös?
Die ersten vier Turnerinnen - Jaycie Phelps, Amy Chow, Shannon Miller und Dominique Dawes - hatten ihre Sprünge absolviert und in den Stand gebracht, wenn auch mit Wacklern. Dann kam Moceanu, die mit einer Wertung von 9,493 den Sieg für die USA hätte besiegeln können. Obwohl sie mit einer Stressfraktur des Schienbeins zu den Spielen antrat, flitzte das kleine Wunderkind des US-Turnens mit einem Selbstvertrauen über die Anlaufbahn, das mit jedem ihrer Schritte schwand. Bei beiden Sprüngen stürzte sie zum Entsetzen des Publikums bei der Landung. Ihre Wertungen von 9,137 und 9,200 machten die Entscheidung im Mannschaftsgold zu einem Thriller des Turnsports.
Auch Kerri Strugs Nerven begannen zu flattern. "Als Dom das erste Mal fiel, dachte ich: 'Das kann doch nicht wahr sein, sie fällt nie'", erklärte Strug nach dem Wettkampf. Der Pferdsprung war eine von Moceanus großen Stärken, nur eben an diesem Abend nicht, als der Druck der Erwartung die Gesetze der Schwerkraft aushebelte. "Ich dachte: 'Auf keinen Fall wird sie zweimal fallen'. Dann sah ich, wie sie genau denselben Sprung noch einmal machte und wieder hinfiel. Das Rumoren in meinem Bauch wurde lauter und lauter.'" Viele Jahre später, Kerri Strug trat öffentlich als Motivationsrednerin auf, erklärte sie diesen besonderen Moment ihres Lebens so: "Uns schien am Schluss alles zu entgleiten, ich redete auf mich selbst ein: 'Du hast so hart für diesen Augenblick trainiert, du bist absolut in der Lage, diesen Sprung zu stehen, also reiß dich zusammen und mach' es noch einmal.'"
Das war der Moment, auf den Strug ihr ganzes Sportlerleben lang gewartet hatte. Zum ersten Mal stand sie im Rampenlicht, im Mittelpunkt – und patzte auch. "Ich habe genau den gleichen Fehler gemacht wie meine Teamkollegin, ich habe bei der Drehung zu früh aufgemacht und konnte den Sprung nicht stehen. Es war ein Albtraum, ich habe mich so geschämt. Das waren die Olympischen Spiele, ich hatte die Gelegenheit, der Welt zu zeigen, wie hart ich dafür gearbeitet hatte und plötzlich fühlte ich mich wie gehemmt."
Es kam noch schlimmer. Während Moceanu bei ihrer Landung nur ausgerutscht war, hatte sich Strug bei der Landung den Knöchel schwer verletzt. Sie nahm ein Knacken wahr, als sie aufstand, durchzuckte der Schmerz ihr Bein und sie konnte ihren linken Fuß nicht mehr belasten. Mit schmerzverzerrtem Gesicht humpelte sie zurück zur Startbahn und machte dabei ein tapferes Gesicht. Sportmoderator John Tesh kommentierte die Entscheidung im US-Fernsehen live: "Kerri ist verletzt. Sie humpelt. Das sind wirklich schlechte Nachrichten. Kerri Strug ist in Schwierigkeiten."
Strugs Wertung von 9,162 bedeutete, dass die USA die Goldmedaille mathematisch immer noch nicht sicher hatten, zumal die GUS-Athleten zeitgleich am Boden noch turnten. Die Menge verstummte, ein leises Raunen ging durch die Halle. Einige Russen schöpften plötzlich wieder Hoffnung und waren den Tränen nahe angesichts der Aussicht, vielleicht doch wieder Gold mit nach Hause nehmen zu können.
Strug war eine Kämpfernatur. Ihre Punkte an den Geräten hatten dazu beigetragen, die USA an die Spitze des Feldes zu bringen. Die Aussicht, ihre Mannschaftskameraden und eine ganze Nation im Stich zu lassen, konnte sie nicht ertragen. Druck war nichts Neues für sie, und Karolyi hatte, zumindest nach außen hin, keinen Zweifel daran, dass sie der Situation gewachsen war. "Schüttle es ab! Du schaffst das!", rief er seinem Schützling von der Seite zu.
Während Strug ihren Knöchel rieb und mit Eis kühlte, fragte sie ihren Coach: "Brauchen wir die Punkte noch?" Die Antwort des beinharten Karolyi war eindeutig: "Kerri, wir brauchen dich noch einmal für Gold. Du musst noch mal raus, du kannst es schaffen!" Das Schicksal über Gold und Silber, über Triumph und Niederlage, lag in ihren lädierten Füßen. Kerri Strug war entschlossen zu springen, koste es was es wolle, unabhängig davon, wie viel Druck ihr Trainer machte. "Ich bin 18 Jahre alt und ich kann meine eigenen Entscheidungen treffen", sagte sie sich. "Als Dominique bei beiden Sprüngen stürzte, wusste ich, dass uns Gold entgleiten würde. Ich wollte nicht, dass all unsere harte Arbeit von vier Jahren in ein paar Sekunden zunichtegemacht wurde. Ich hatte das Gefühl, dass ich es allen schuldig war." Dann wartete sie auf ihren nächsten Adrenalinschub und zog es durch.
Es war ein faustischer Pakt, auf den sie sich eingelassen hatte. Ihre Aufopferung und ihr Schmerz könnten den Triumph bedeuten - oder das Nichts. Ihr Trainer Bela Karolyi erklärte später, dass er in Wahrheit nie gedacht hätte, "dass Kerri es schaffen würde. Sie war nie das härteste Mädchen der Truppe. Sie wäre die Letzte, von der ich gedacht hätte, dass sie dem Druck standhalten könnte." Zu ihr selbst sprach er vor dem entscheidenden Sprung natürlich ganz anders, er ließ sie im Glauben, dass sie Berge versetzen konnte, wenn sie nur wollte.
Ihr Anlauf zum zweiten Sprung war zielstrebig, der Yurchenko mit eineinhalbfacher Drehung, nahe an der Perfektion, ihre Landung außergewöhnlich mutig. Und dann? "Es war, als ob eine Bombe eingeschlagen hätte", erinnert sich Kerri. Die Landung erfolgte quasi auf einem Bein. Sobald sie den Kontakt zur Matte spürte, hob Kerri Strug reflexartig den linken Fuß an. Mit Schmerz verzerrtem Gesicht grüßte sie das Publikum und die Kampfrichter, von denen viele sichtlich erschrocken waren. Mitten im Applaus brach Strug zusammen, sie fiel auf die Knie und ihre Tränen begannen zu fließen. Später im Krankenhaus wurde bei ihr eine schwere Zerrung des linken Knöchels und zwei Bänderrisse diagnostiziert. Die Ärzte kamen zu dem Schluss, dass die Verletzung beim ersten Sprung entstanden sein musste und der zweite Sprung diese nur verschlimmert hatte.
Ihre Punktzahl auf der Anzeigetafel: 9.712. Das reichte endgültig! Die USA waren zum ersten Mal Mannschafts-Olympiasieger im Frauenturnen. Der Jubel von Strugs Teamkolleginnen fiel allerdings gedämpfter aus als erwartet, ihretwegen, Kerri musste von zwei Physiotherapeuten des Teams gestützt wurde. Sie, die immer von einer Einzelmedaille geträumt hatte, war nun diejenige, die Mannschaftsgold gerettet hatte. Ihre Spiele waren vorbei, sie hatte ein ganzes Land auf ihren Schultern getragen, genauer gesagt auf ihren Füßen und selbst eine Verletzung konnte sie nicht stoppen.
"Das kleine, sensible Mädchen, das sich immer darum sorgte, was alle anderen über sie dachten, spürte die Last der Verantwortung", so ihr Vater im Rückblick. "Sie wollte nicht in Erinnerung bleiben als die, die auf den Hintern gefallen ist, sondern als die, die sprichwörtlich standgehalten hat. Mit dem besten Sprung für ihr Team."
Tatsächlich hätte "Team USA" auch dann die Goldmedaille gewonnen, wenn Strug keinen zweiten Sprungversuch mehr unternommen hätte. Etwa zur gleichen Zeit von Kerris zweitem Sprung verpatzten Dina Kochetkova und Rozalia Galiyeva, die beiden Stars des russischen Teams, ihre Bodenübungen, die Amerikaner lagen uneinholbar vorne. Das war nicht vorhersehbar, aber was war schon vorhersehbar an diesem Abend.
/origin-imgresizer.eurosport.com/2021/06/15/3153655-64628828-2560-1440.jpg)
Die "Magnificent Seven" 1996 in Atlanta
Fotocredit: Eurosport
In den Armen von Karolyi
Für den Moment wollte Kerri Strug einfach nur mit ihrer Medaille auf dem Podest stehen. Dafür hatte sie so viele Opfer gebracht. Sie wollte nicht so schnell ins Krankenhaus, um aus ihren Turnschuhen herausgeschnitten zu werden. Sie würde sie ja noch brauchen für den Einzel-Mehrkampf-, die Boden- und Sprung-Finals, das Adrenalin in ihrem verletzten Körper befeuerte ihren völlig unrealistischen Optimismus. Nachdem ihr Knöchel und ihre Wade mit einer Schiene versorgt waren, war Strug fest entschlossen, allein aufs Podium zu kommen und nicht im Rollstuhl. Doch schon bald dämmerte es ihr, dass sie es nicht ohne Hilfe schaffen würde. Trost fand sie ausnahmsweise in den Armen des Mannes, der sie schinden konnte wie kein Zweiter: Bela Karolyi. "Mach dir keine Sorgen, du wirst auf dem Podium stehen, das garantiere ich dir", versprach er ihr mit einem Lächeln, das seine sonst so eisige Miene verdrängte. Er packte seine Athletin und trug sie in inniger Umarmung hoch zur Medaillenvergabe. In der Eile hatte sie ganz vergessen, sich ihre Trainingshose anzuziehen, mit einem breitem Grinsen stand sie neben ihren Teamkolleginnen, sie waren zurecht die "Magnificent Seven." "Kerri war das schüchternste Mädchen von allen. Aber sie konnte der ganzen Welt zeigen, dass sie das Herz eines Tigers hat", sagt Karolyi heute über Kerri Strug.
Über Nacht waren die 18-Jährige und ihre Teamkolleginnen zu nationalen Idolen geworden. Ihr Stern brannte ein bisschen heller als der der anderen, was im Team zu einigen Zerwürfnissen führte. Sie war nie diejenige, die im Rampenlicht stehen wollte, aber jetzt war es Strug, die die meiste Aufmerksamkeit bekam und nach den Spielen mit Werbung auch das meiste Geld verdiente. Rund eine Million US-Dollar sollen es im Jahr nach den Spielen gewesen sein. Auf der anderen Seite sorgte ihre Verletzung auch dafür, dass ihr Karriereende viel früher kam als erwartet.
Bill Clinton, Jay Leno und Beverly Hills 90210
Strugs Eltern taten ihr Bestes, um ihrer Tochter ein normales Umfeld zu geben. Kerri schrieb sich als Studentin und Assistenztrainerin der Turnmannschaft an der Universität von Los Angeles ein, aber es war schwer, auf dem Campus anonym zu bleiben, wenn das eigene Gesicht auf jeder Wheaties-Müsli-Packung prangte - eine Ehre, die vielen großen amerikanischen Olympia-Sportlern zuteil wurde. Sie war Gast beim 50. Geburtstag von Präsident Bill Clinton, plauderte im Fernsehen mit Jay Leno und machte sich über ihre eigene schrille Stimme bei "Saturday Night Live" lustig. Sie zierte die Titelseite von "Sports Illustrated" und trat in einer Folge von "Beverly Hills 90210" auf, der legendären TV-Serie der neunziger Jahre. In einer Szene sieht man sie bei der Einschreibung auf dem Campus einer Universität, sie wird gefragt, ob sie ihre Goldmedaille bei sich trage. "Nein", sagt Kerri in der Serie, "ich würde sie gerne überall tragen, aber das würde ziemlich albern aussehen, oder?" Große Filmkunst war es nicht.
Und die sechs anderen Mitglieder der "Magnificent Seven"? Sie gingen gemeinsam auf Tournee - ohne Kerri Strug. Amerikas neuer Sportdarling musste unter der Woche an der Uni sein. Strug machte unterdessen die Runde bei den großen Talkshows oder absolvierte mit Nadia Comaneci und anderen großen Ex-Turnerinnen an den Wochenenden Showauftritte, für die sie bis zu 24.000 Dollar pro Abend kassierte. "Sie hatte nach Olympia andere Möglichkeiten, das war auch gut so, aber es hat uns auseinandergebracht", erklärte Dominique Moceanu in der Rückschau. "Wir waren ein Team, das hätten wir auch bleiben sollen", ergänzte Shannon Miller. Die Antwort von Leigh Steinberg, Strugs Agentin, klingt dagegen harsch: "Die anderen Mädchen sind nur neidisch." Zum ersten Jahrestag des ersten amerikanischen Mannschaftsgolds im Frauenturnen schrieb Kerri Strug allen ihren Teamkolleginnen einen persönlichen Brief, so erzählt es Strug heute nicht ohne Verbitterung, sie habe keine einzige Antwort bekommen. Das alles wegen eines einzigen Sprungs, der Gold ein- und eine Clique auseinanderbrachte. Aber wie gesagt: Verlust und Schmerz ist nicht selten die Kehrseite des amerikanischen Traums.
Geschrieben von Maxime Dupuis, übersetzt von Thilo Komma-Pöllath
Der Podcast zur Story: Kerri Strug - ein Sprung für die Ewigkeit
/origin-imgresizer.eurosport.com/2015/07/07/1633539-34668603-2560-1440.jpg)
Kerri Strug (l.) 1996 in Atlanta
Fotocredit: Imago
Ähnliche Themen
Werbung
Werbung