Die großen Olympia-Geschichten: John Akii-Bua - Gold-Märchen zwischen Ruhm und Tragödie

John Akii-Bua kam aus dem afrikanischen Niemandsland, er wurde Ugandas erster Olympiasieger und schrieb Geschichte. Mit seinem Sieg über die 400 Meter Hürden in München 1972 stieg er in Weltrekordzeit in die Weltspitze auf. Doch sein Leben, das zwischen Olympia und Diktatur, Ruhm und Tragik pendelte, endete viel zu früh. Eurosport präsentiert eine der großen Geschichten der olympischen Historie.

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Die großen Olympia-Geschichten: John Akii-Bua

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Das ein oder andere Interview, ein bisschen Archivmaterial, aber viel mehr wäre nicht bekannt geworden über das bemerkenswerte Leben und Laufen von John Akii-Bua.
Seine Kindheit im afrikanischen Busch, sein Aufstieg aus bitterer Armut, sein Ruhm vor dem Hintergrund von Krieg und Verfolgung, sein früher Tod - all das wäre in Vergessenheit geraten, hätte es nicht die persönlichen Tagebücher von Afrikas schnellstem Polizisten gegeben, die eindrucksvoll von diesem Leben erzählten.
Es war Mitte der 1980er-Jahre, als der Hürdenläufer nach dem Ende seiner viel zu kurzen Leichtathletikkarriere mit zwölf Notizbüchern an seinen ehemaligen Trainer, den Briten Malcolm Arnold, herantrat. Drei Jahre lang hatte Akii-Bua seine Lebensgeschichte zu Papier gebracht. Dann übergab er das, was ihn ausmachte, dem Mann, dem er am meisten vertraute.
Coach Arnold hütete diese Dokumente wie eine Reliquie. Nach dem frühen Tod seines Schützlings im Jahr 1997 beschloss der britische Leichtathletik-Trainer, das Leben des Mannes zu erzählen, den er zum Olympiasieger geformt hatte. Arnold gab die Notizbücher dem "Guardian"-Journalisten David Conn, Ghostwriter von Colin Jackson, auch einer von Arnolds Athleten.
Arnold versprach Conn die "atemberaubende Reise" von einem, der größte sportliche Höhen erklomm und zugleich dem Fegefeuer seiner kriegerischen Heimat nicht entkommen konnte. Die Aufzeichnungen Akii-Bua's bildeten auch die Grundlage für Daniel Gordons "BBC"-Dokumentation "The Story of John Akii-Bua, An African Tragedy". Ein bewegendes Zeugnis eines Champions, der nicht vergessen werden sollte.
Akii-Bua's Leben und Karriere ist eingebettet in die Geschichte seiner Heimat Uganda, die Gewaltherrschaft von Idi Amin und einer internationalen Friedenspolitik, die dem Diktator keinen Einhalt gebieten konnte. Bei den Olympischen Spielen 1972 in München schrieb ausgerechnet dieser junge, völlig unbekannte Ugander Geschichte mit einer Stadionrunde über zehn Hürden unter 48 Sekunden. Auch als Olympiasieger blieb er ein Gefangener seines Landes, seine sportlichen Träume wurden erstickt von Idi Amins Tyrannei.
Akii-Bua's Geschichte ist eine Geschichte von Schweiß, Blut und Tränen, wie aus einem Roman entnommen: Ruhm und Ehre führten bei Akii-Bua nicht zu Reichtum und Glück, sondern in einen Überlebenskampf zu Exil, Krankheit und einem frühen Tod. Als John Akii-Bua im Alter von 22 Jahren auf der Weltbühne des Sports auftauchte, hatte er beinahe schon die Hälfte seines Lebens hinter sich. Und das Schlimmste stand ihm noch bevor.
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Jean-Pierre Corval (Frankreich), David Hemery (Großbritannien) und John Akii-Bua (Uganda; von links) bei den Olympischen Spielen 1972 in München

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"Bei uns zuhause waren wir 43 Kinder"

So beginnen Akii-Bua's Tagebücher, die auf den ersten Seiten seine Kindheit im Norden Ugandas beschreiben. Geboren 1949, wuchs Akii-Bua in einem kleinen Dorf im Stammesgebiet der Langi mit 42 Brüdern und Schwestern auf. Sein Vater, ein Gemeindehäuptling, hatte neun Ehefrauen, und "lebte ein legendäres Leben", wie es sein Sohn in seinen Aufzeichnungen nannte. Über die Familie kam John in Kontakt mit der Leichtathletik. Einer seiner älteren Brüder, der Dreispringer Lawrence Ogwang, nahm 1956 an den Spielen in Melbourne teil.
"Ich erinnere mich daran, dass unser Vater mit uns Kindern Rennen um Süßigkeiten veranstaltete. Ich hatte lange Beine, war aber nicht schnell genug, um mir die Sieger-Bonbons zu verdienen." Den Tod des Vaters erinnert der 15-Jährige als "härtesten Schlag meines jungen Lebens. Ich musste die Schule verlassen und Verantwortung übernehmen, Geld verdienen und meiner Mutter helfen, uns Kinder zu ernähren."
Im Uganda der 1960er Jahre kamen nur wenige Kinder über die Grenzen ihres Dorfes hinaus. Geschweige denn hatten sie die Möglichkeit, die Welt zu entdecken. Dass es bei John anders war, war der Entschlossenheit seiner Mutter zu verdanken, erklärte sein Bruder Paul Bua in der "BBC"-Dokumentation. "Sie sagte zu ihm: 'Du bist ein junger Mann. Wenn du hierbleibst, wirst du verrotten. Geh hinaus in die Welt und versuche dein gottgegebenes Talent zu entwickeln.'"
So wie seine Heimat Uganda strebte auch Akii-Bua in die Unabhängigkeit. John verließ sein Dorf und zog in die Hauptstadt Kampala. Wegen seiner mangelnden Schulbildung konnte er sich zunächst nicht viel leisten und hauste in einem Slumviertel, sein sportliches Talent aber öffnete ihm bald viele Türen. Das erste Mal machte er bei einem Fußball-Auswahltest auf sich aufmerksam, an dem er barfuß teilnahm und seine Gegenspieler gekonnt um kurvte. Prompt rekrutierte ihn die staatliche Polizei, die immer auf der Suche war nach körperlich trainierten, disziplinierten jungen Männern. Akii-Bua's Vorliebe galt dem Fußball, aber seine große Begabung war die Leichtathletik.
In seinen Tagebüchern notierte er: "Meine Reise zu sportlichem Ruhm begann, als ich dem Leichtathletikklub der Polizei beitrat. Wir standen jeden Morgen um 5:45 Uhr auf, ich sammelte meine Kräfte, ich besann mich auf meine Stärken und in meinem Kopf blitzten die Gedanken, was noch möglich ist. Bei den nächsten Polizeimeisterschaften wurde ich für sieben Disziplinen gemeldet - und ich gewann fünf."
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Die großen Olympia-Geschichte: Der Aufstieg und Fall von John Akii-Bua

Ein britischer Sportlehrer in Kampala

Anfang 1968, Akii-Bua war gerade 18 Jahre alt, begann er von den Olympischen Spielen zu träumen, die im Oktober des gleichen Jahres in Mexiko-City stattfanden. Etwa zu diesem Zeitpunkt landete der Brite Malcolm Arnold in Kampala. Der 27-Jährige war Sportlehrer an einem Gymnasium in Bristol und nebenbei Leichtathletiktrainer. Arnold hatte sich auf eine Stellenanzeige des ugandischen Verbandes im Fachmagazin "Athletics Weekly" beworben, die mit Blick auf die Spiele von Mexiko einen Nationaltrainer für Leichtathletik suchten. Arnold wurde zu einem Vorstellungsgespräch geladen, bekam den Job und zog mit seiner Frau und zwei Kindern nach Kampala. Er nannte es später "das verrückteste Abenteuer meines Lebens".
Uganda war für den Briten eine neue Welt. Abgesehen von den einfachen Lebensbedingungen und der großen Armut gab es außer überwucherten Grasbahnen kaum eine intakte Infrastruktur für professionelles Leichtathletik-Training. Uganda war Lichtjahre von internationalen Standards entfernt. In seinen Aufzeichnungen schreibt Akii-Bua, wie er 1968 am Rand der Laufbahn einen Mann bemerkte, der ihnen wortlos beim Training zusah. "Ich hielt mich zurück, schließlich war ich ja kein Star. Der Name dieses Mannes war schwierig für uns, also nannten wir ihn einfach 'Mzungu', ein Kiswahili-Wort für 'weißer Mann'."
Was Arnold an Erfahrung fehlte, machte er mit guten Ideen wett. Mzungu hatte es anfangs schwer, von den Sportlern akzeptiert zu werden. Die ersten Tage beobachtete er die Sportler nur, die ihn wiederum misstrauisch beäugten. Akii-Bua war das größte Talent in der Trainingsgruppe, Arnolds Aufgabe musste es sein, ihn für sich zu gewinnen. Innerhalb weniger Wochen hatte sich tatsächlich ein Vertrauensverhältnis zwischen den beiden entwickelt. "Malcolm Arnold schaffte es geschickt, unsere Mauer aus Abneigung und Vorsicht gegen ihn aufzubrechen. Einer nach dem anderen begannen wir uns auf ihn einzulassen", so Akii-Bua.
Als guter Allrounder sah sich Akii-Bua vor allem auf der Kurzstrecke über die Hürden. Für eine Olympiaqualifikation war seine Saisonbestzeit von 14,30 Sekunden aber nicht gut genug. Über die 110 Meter-Hürden fehlte ihm die natürliche, explosive Geschwindigkeit eines Sprinters. Dafür hatte er genug Kraft, Ausdauer und eine enorme physische Stärke (er war 1,80 m groß und wog 78 kg), um über die 400 m Hürden ganz vorne landen zu können. Mzungu begann Akii-Bua davon zu überzeugen, dass gerade hier seine Zukunft lag.
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Malcolm Arnold (links), der Mann, dem John Akii-Bua so viel verdankte, hier 1992 mit Colin Jackson

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400 m Hürden - die ultimative Herausforderung

Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, dass die 400 m-Hürden eine der anspruchsvollsten und komplexesten Disziplinen in der Leichtathletik sind. Nominell eine Sprintdisziplin, dennoch wird die Muskulatur sowohl aerob als auch anaerob beansprucht. Die "400 Hürden" erfordern Schnelligkeit und Ausdauer plus eine exzellente Hürdentechnik, ein gutes Raumgefühl, totale Schrittkontrolle und hohe Konzentrationsfähigkeit. Die Einteilung der Kraftreserven über die Renndistanz wird millimetergenau geplant. Ähnlich wie bei einem Formel-1-Rennwagen, der mit dem letzten Tropfen Benzin im Tank über die Ziellinie fährt, um ja nicht zu viel Ballast mit sich herumzuschleppen.
Dieser subtile Balanceakt im Austarieren zweier gegensätzlicher Kräfte ist das uralte Oxymoron der Leichtathletik: mit den Kräften haushalten und gleichzeitig alles geben. Das Überwinden der letzten Hürden und der Sprint auf den letzten 100 Metern der Strecke ist eine mentale und physische Tortur, wenn die Milchsäure in den Körper einschießt und die Muskulatur zu lähmen beginnt.
Kriss Akabusi, englischer Bronzemedaillengewinner über die 400 m-Hürden bei den Spielen von Barcelona 1992, sagte in der Akii-Bua-Doku: "Du tickst wie ein Metronom. Und wenn deine Lunge schreit und deine Beine nicht mehr können, muss dein Verstand immer noch hellwach ticken: tick-tock, tick-tock, tick-tock." Akii-Bua's anfängliche Zurückhaltung vor der Aufgabe war durchaus nachvollziehbar, aber nach monatelangem Zögern akzeptierte er den Rat seines Trainers.
Seinen ersten internationalen 400-m-Hürdenlauf bestritt der Ugander 1970 bei den Commonwealth Games in Edinburgh, Prinz Philip saß auf der Tribüne. Akii-Bua wurde Vierter, in einer akzeptablen Zeit von 51,10 Sekunden. Das war nicht spektakulär, aber Arnold hatte genug gesehen, um zu wissen, dass es die richtige Entscheidung war. Akii-Bua notierte: "Nach dem Rennen war ich ziemlich entspannt. Ich sagte meinem Trainer, dass ich nicht müde sei, ich hätte noch genug Energie gehabt". Mzungu hatte recht: Er war ein Naturtalent.
Bei einem Meeting in Kampala im Mai 1971 brach Akii-Bua den afrikanischen Rekord und war der erste afrikanische Hürdenläufer, der die 400 Meter unter 50-Sekunden lief. Journalisten aus Kenia, dem Mutterland des Laufsports, konnten das gar nicht glauben. Einer scherzte, ob die Behörden manipulierte Stoppuhren benutzt hätten. Einige Wochen später gewann Akii-Bua bei einem Nationenwettkampf zwischen USA und Afrika die 400 Meter Hürden in 49 Sekunden glatt. Es war die bis dato sechstschnellste Zeit überhaupt.
"Die Mär von der manipulierten Stoppuhr war damit aus der Welt", schrieb Akii-Bua. Er war nun weniger als eine Sekunde vom Weltrekord von 48,10 Sekunden entfernt, der vom Briten David Hemery gehalten wurde. Die internationale Konkurrenz begann Ugandas "Flying Cop" ernst zu nehmen.
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John Akii-Bua

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Idi Amin, der blutrünstige Despot

Im gleichen Jahr erlebte Uganda einen Wendepunkt in seiner Geschichte. Idi Amin Dada ergriff nach einem Militärputsch am 25. Januar 1971 die Macht. Amins Machtübernahme wurde zunächst im In- und Ausland begrüßt, der Westen war der Meinung, dass der vormalige Präsident Milton Obote Uganda zu nahe an die Sowjetunion herangeführt hatte. Ein internes Memo des britischen Geheimdienstes, das später öffentlich wurde, beschrieb Amin als "großartigen Typen und guten Rugbyspieler".
Der neue starke Mann war selbst leidenschaftlicher Sportler. Amin war ein sehr guter Schwimmer, ein ehemaliger nationaler Boxchampion und Fan von Autorennen. Mithilfe sportlicher Erfolge von ugandischen Athleten wollte er die Legitimität seiner Macht und sein persönliches Prestige im ganzen Land festigen. Amin zahlte ihnen dafür Geld und gewährte ihnen Freiraum. Im Gegenzug sollten sie das Land und damit sein Regime besser noch ihn selbst als Galionsfigur international bekannt machen.
John Akii-Bua aber machte sich nicht viel aus Politik. Aber es dauerte nicht lange, bis der verrückte Amin zu einem wahnsinnigen Diktator wurde, der nach dem Blut seiner Gegner verlangte und sein Land in Spaltung und Verzweiflung stürzte.
Das alles sah Akii-Bua noch nicht kommen, er hatte nur Augen für die nächsten Olympischen Spiele. Mit 22 Jahren war Akii-Bua nun einer der Weltbesten in seiner Disziplin. Trotzdem würde er als Außenseiter in die olympischen Rennen von München 1972 gehen. Niemand wusste davon, dass er während einer Trainingseinheit in Kampalas Wankulukuku-Stadion den Weltrekord gebrochen hatte. Auch Coach Arnold behielt das Geheimnis für sich. Die Stadionrunde über die Hürden auf einer unbefestigten Bahn in 48 Sekunden, wer würde ihm das schon abnehmen?

Im Schnelldurchlauf zum Finale

München, der 2. September 1972. Als Sieger seines Vorlaufs und des Halbfinals - in einer Zeit von 49,25 Sekunden - steuerte Akii-Bua souverän ins Finale. Das zweite Halbfinale wurde dadurch berühmt, weil dem DDR-Läufer Christian Rudolph auf der Zielgeraden die Achillessehne riss. Bei seinem Sturz nahm er seinen Cousin aus dem Westen, Dieter-Wolfgang Büttner, mit zu Boden. Rudolph, einer der großen Favoriten auf Gold, betrat danach nie wieder eine Tartanbahn, das bittere Ende einer Karriere.
Akii-Bua war während der Spiele extrem nervös, nachts fand er nicht in den Schlaf, unternahm lange Spaziergänge durch das olympische Dorf und wurde oft in der Disco gesehen, die vor allem von den Athleten besucht wurde, die ihre Wettkämpfe bereits hinter sich hatten. Als er sich das erste Mal auf Tanzfläche begab, hatten seine Wettkämpfe noch gar nicht begonnen. Einmal traf er dort eines seiner großen Idole, John Carlos, der amerikanische 200 Meter-Sprinter, der durch seinen Black Power-Gruss mit der gestreckten Faust auf dem Siegerpodium in Mexiko weltberühmt wurde.
Einmal musste Coach Arnold seinen Schützling aus dem Nachtklub holen, um ihn um Mitternacht ins Bett zu schicken. Sein Trainer versuchte den jungen Ugander zu beruhigen und erinnerte ihn an seine entbehrungsreiche und harte Vorbereitung in den steilen Hügeln von Kabale, wo er mit einer zehn Kilo schweren Gewichtsweste und unerbittlichem Intervalltraining alles für seinen Olympiatraum geopfert hatte.
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John Akii-Bua bei den Olympischen Spielen 1972 in München

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Albtraum Innenbahn

Am Vorabend des Finales suchte ihn sein Trainer in seinem Zimmer auf. Arnold hatte vier Piccolo Fläschchen deutschen Sekt und einen Zettel dabei. Darauf stand das Ergebnis der Auslosung: Innenbahn. Bei den 400 Hürden ist Bahn eins ein Albtraum. "Mein Körper wurde ganz steif, so als ob mich jemand geschlagen hätte", schrieb Akii-Bua in seinen Memoiren. Arnold reichte Akii-Bua zwei Flaschen, um die bittere Pille zu verdauen. "Auf Bahn eins zu laufen, ist fast wie ein Fluch", erklärt Edwin Moses, der zweifache Olympiasieger im 400-m-Hürdenlauf, in der "BBC"-Dokumentation über Akii-Bua.
"Da geht es vor allem um Physik. Du läufst mit hoher Geschwindigkeit in die Kurve. Weil der Radius auf Bahn eins kleiner ist, musst du viel mehr Druck auf das äußere Bein bringen, um dich mit jedem Schritt auf der Ideallinie zu halten. Du verbrauchst also viel mehr Kraft und Energie. Akii-Bua fühlte sich vermutlich benachteiligt und wusste, dass es ein extrem enges Rennen werden würde."
Eurosport-Kommentator Stéphane Caristan, der 20 Jahre nach München selbst in einem olympischen Finale über 400 m Hürden stand, kann das nur bestätigen. "Es gibt viele Läufer, die sagen sich: Das war's! Bahn eins, keine Chance!" Caristan muss es wissen: 1992 wurde er in Barcelona auf Bahn Eins Siebter und Vorletzter - allerdings in einem legendären Rennen: Olympiasieger Kevin Young lief neuen Weltrekord, Caristan immer noch die beste Zeit seiner Karriere: 48,86 Sekunden.
"Es gibt einen unbestreitbaren psychologischen Aspekt bei der Frage", erklärt Caristan. "Man muss sich mental vom Stigma der Bahn eins lösen und auf sein eigenes Rennen konzentriert bleiben. Die Gefahr ist, dass man zu viel daraus macht und der eigene Wettkampfinstinkt verloren geht."

Coach Arnold findet die richtigen Worte

Auch in der Nacht vor dem Finale in München war für John Akii-Bua - trotz Piccolo - nicht an Schlaf zu denken. Ein Albtraum namens David Hemery plagte ihn, der große Favorit. "Sein Bild in meinem Traum erschreckte mich", schrieb Akii-Bua später. Am nächsten Morgen, am wichtigsten Tag seines Lebens, brachte er beim Frühstück kaum einen Bissen herunter.
"Mir wurde kalt und ich begann zu zittern, als ich meinen Trainingsanzug anzog." Nervös zündete er sich Zigaretten an - manchmal auch am falschen Ende, erinnerte sich Akii-Bua - während Arnold seinen Schüler immer wieder fragte, ob mit ihm alles in Ordnung sei. "Zehn Minuten vor dem Finale sagte Mzungu einen Satz, den ich nie vergessen werde. Fast ein Befehl, der alle meine Nervosität und Ängste beiseite wischte. Er sagte: 'Du bist im Finale! Eine davon ist deine.' Das Wort Medaille hat er dabei nie ausgesprochen."
In weniger als 50 Sekunden würde Akii-Bua wissen, was wirklich in ihm steckte. Talent, Technik und harte Arbeit mögen einen schnell laufen lassen, aber um einen großen Titel, eine Goldmedaille zu gewinnen, braucht man mehr als das - gerade über die 400 Hürden. Kriss Akabusi erklärt das so: "Wenn du zu einem Finale ins Stadion kommst, gibt es wenige, die das Talent haben, sich so zu fokussieren und zu kanalisieren, dass sie am Ende Gold mit nach Hause nehmen. John Akii-Bua und David Hemery hatten diese Fähigkeit."
Als Akii-Bua an diesem Tag auf die Bahn des Olympiastadions trat, wollte er der Welt zeigen, aus welchem Holz er geschnitzt ist. Während seine Konkurrenten angespannt wirkten, winkte Akii-Bua seinen Freunden zu und tänzelte vor dem Finale auf der Bahn. Das letzte, was sein Trainer ihm unmittelbar vor dem Rennen mitgab: "Du weißt, warum du hier bist. Schau niemanden an, lauf dein Rennen".
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John Akii-Bua küsst seine Olympische Goldmedaille, nachdem er den Weltrekord über die 400m Hürden 1972 in München pulverisierte

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Weltrekord und Olympiasieg

Der Startschuss. Der amtierende Weltmeister und Weltrekordhalter Hemery katapultierte sich auf Bahn fünf mit höchstem Tempo aus dem Block. Der Engländer passierte die 200-Meter-Marke bei 22,80 Sekunden, aber immer noch Schulter an Schulter mit dem Amerikaner Ralph Mann. Am Ende der Kurve erlebte Hemery einen Schock: Akii-Bua, nun auf der Innenbahn in seinen Augenwinkeln sichtbar, war auch noch da.
Und dann geschah das Unmögliche: Zwischen der achten und neunten Hürde sah es so aus, als würde der Ugander deutlich beschleunigen. Eine optische Täuschung: Im letzten Renndrittel wird bei den 400 m-Hürden keiner mehr schneller - die anderen wurden aber langsamer. Während Hemery auf den letzten Metern verkrampfte, behielt Akii-Bua seinen Schwung und seine Lockerheit.
Titelverteidiger David Hemery wurde auf Platz drei durchgereicht, Akii-Bua flog regelrecht als Erster über die Ziellinie. Im Eifer des Gefechts rannte der Ugander einfach weiter und sprang ein zweites Mal über die erste Hürde, ehe er innehielt, auf die Anzeigetafel blickte und sich selbst verblüffte: ein neuer Weltrekord in 47,82 Sekunden. Es war der erste Weltrekord der Leichtathletik bei den Münchner Spielen. Nachdem 1956 die 50-Sekunden-Marke über die 400 Hürden geknackt worden war, hatte es weitere zwölf Jahre gedauert, bis der Rekord unter 49 Sekunden fiel.
Akii-Bua war nach gerade einmal zweieinhalb Jahren Disziplintraining der erste Mann, der die 400 Hürden unter 48 Sekunden lief und in eine neue Ära führte. "Er hat das alles wunderbar hinbekommen", resümierte Arnold den Lauf seines Schützlings von 1972 in der "BBC"-Dokumentation. "Ich war wirklich erstaunt über den beträchtlichen Vorsprung, den er hatte. Und das auf Bahn eins. Er hat es perfekt gemacht."

Der Erfinder der Ehrenrunde

Experten gehen davon aus, dass die Innenbahn etwa zwei bis drei Zehntelsekunden langsamer sein könnte, genaue Berechnungen dazu gibt es nicht. Akii-Bua's Leistung von München macht das nur noch größer. Bis heute ist es nur einem anderen 400 Hürden-Läufer gelungen, ein olympisches Finale von Bahn eins aus zu gewinnen: Angelo Taylor in Sydney 2000. Akii-Bua‘s Zeit von 1972 - 47,82 Sekunden - hätten ihm in neun der elf olympischen Finals seit seiner Krönung von München eine Medaille eingebracht.
Nachdem er seine Zeit auf der Anzeige realisiert hatte, joggte der Champion die Gegengerade hinunter und sprang über imaginäre Hürden, eine nach der anderen, während er dem Publikum zuwinkte. Voller Energie und mit der ugandischen Flagge eines Zuschauers in der Hand lief er zur Freude des Publikums noch einmal eine ganze Stadionrunde, während seine Konkurrenten am Boden kauerten und sich von der Anstrengung erholten.
Ohne es zu wissen, hatte Akii-Bua damit die Tradition der Ehrenrunde der Sieger begründet, die es so zuvor nicht gab. Nach der zweiten Stadionrunde fand er schließlich auch seinen Trainer, Malcolm Arnold, auf den Rängen. "Als ich ihn sah, begann ich zu weinen", schrieb Akii-Bua über seine Gefühle im größten Moment seines Lebens.
Für die große Mehrheit der internationalen Presse war dies der Tag, an dem sie zum allerersten Mal den Namen von John Akii-Bua hörten. Bei seinen Interviews nach dem Sieg erzählte der neue Olympiasieger unbefangen von den neun Ehefrauen seines Vaters und den zahlreichen Brüdern und Schwestern, die er hatte. Er sprach über seine harte Trainingsfron und zeigte eine Bescheidenheit, die man so bei einem großen Champion selten gesehen hatte.
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John Akii-Bua 1972 in München

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Held unter Beobachtung

John Akii-Bua war der erste ugandische Olympiasieger in der Geschichte seines Landes - und der erste afrikanische Leichtathlet, der eine Goldmedaille auf einer Kurzstrecke (unter 800 m) gewann. Er widmete seine Medaille "dem Team und ganz Uganda". Mit fiebrigem Stolz auf sein kleines Land erzählte er Reportern: "Ich habe für Uganda gewonnen. Im Medaillenspiegel wird stehen: Uganda hat eine Goldmedaille gewonnen, nicht Akii-Bua hat eine Goldmedaille gewonnen."
Bei seiner Rückkehr nach Hause wurde John wie ein Held gefeiert. Idi Amin sagte in einer Ansprache an die Nation: "Der Name von Akii-Bua muss zum Wohle zukünftiger Generationen am Leben erhalten werden." Das ganze Land lag Akii-Bua zu Füßen, der Präsident schenkte ihm Geld und ein Auto, benannte eine Straße nach ihm sowie eine Tribüne im Stadion seiner Heimatstadt. Außerdem schenkte er ihm ein Haus in Kampala, das von da an unter besonderer Beobachtung stand.
Der Champion wurde zum Bauernopfer degradiert, in einem politischen Strategie- und Ränkespiel des präsidialen Diktators, das Akii-Bua selbst kaum durchschauen konnte. Das Leben, in das er in Kampala zurückkehrte, war ein anderes als das, was er zuvor gekannt hatte. Sein Mentor und Trainer kehrte nach Olympia in seine Heimat Großbritannien zurück, Heimweh und die zunehmend eskalierende Gewalt in Uganda machten ihm die Entscheidung leichter. Akii-Bua war von nun an sportlich auf sich allein gestellt.
Trotz seiner Goldmedaille war Akii-Bua noch kein fertiger 400 Hürden-Läufer, der in Abwesenheit seines Trainers an seiner Technik feilen musste. Wäre Coach Arnold geblieben, um seinem Star den letzten Schliff zu geben, wer weiß, was er noch erreicht hätte? Tatsächlich aber war Akii-Bua nie wieder schneller als 1972. In den nächsten vier Jahren ließen seine Bestzeiten sukzessive nach: 48,54 Sekunden im Jahr 1973, als er den Titel bei den afrikanischen Meisterschaften gewann; 1975 in 48,67 Sekunden und 48,58 Sekunden vor den Spielen in Montreal 1976. Respektable Zeiten, aber keine magischen mehr.
Die politischen Ereignisse in Uganda taten ihr übriges. Idi Amin wurde zunehmend misstrauisch gegenüber Akii-Bua‘s Popularität. Im Ausland kannte man Uganda vor allem wegen Akii-Bua und Amin - in der Reihenfolge. Der Olympiasieger geriet unter psychischen Druck. Er fühlte sich bedroht und wurde bei Beförderungen in der Polizei übergangen. Akii-Bua's Stamm war das hauptsächliche Ziel von Amins ethnischen Säuberungen. Seine Popularität konnte ihn nur noch eine Zeit lang schützen, das wusste Akii-Bua. Drei seiner Brüder wurden in dem Jahr, in dem John in München Olympiasieger wurde, von Amins Truppen ermordet. "Ich glaube, Amin wollte mich mehrfach ins Gefängnis stecken, aber er traute sich nicht, weil ich schon zu bekannt geworden war", so Akii-Bua in der Rückschau.

Eine verpasste Chance in Montreal

Die Verteidigung seiner Goldmedaille in Montreal 1976 war Akii-Bua's nächstes großes sportliches Ziel. Leichtathletik-Weltmeisterschaften gab es noch keine (erst ab 1983), die Sommerspiele waren für die Weltleichtathletik das Nonplusultra. Die politische Großwetterlage aber zerstörte Akii-Bua's Traum vom olympischen Double. Weniger bekannt als die Olympia-Boykotte von Moskau und Los Angeles 1980 und 1984, beraubte der Boykott der Spiele von Montreal 1976 Athleten aus 16 afrikanischen Nationen ihrer Chancen auf Gold, Silber und Bronze.
Der Protest richtete sich gegen das teilnehmende Neuseeland, das im Vorfeld der Spiele im Rugby gegen das Apartheid-Südafrika angetreten war und damit den internationalen Sportbann unterlaufen hatte. Uganda schloss sich dem Boykott erst an, als seine Delegation mit allen Athleten bereits in Kanada gelandet waren. So menschenverachtend das südafrikanische Regime auch war, dass sich ausgerechnet der ugandische Diktator Idi Amin zum Kämpfer gegen Menschenrechtsverletzungen stilisierte, war an Heuchelei kaum zu überbieten.
Durch den afrikanischen Olympia-Boykott wurde die Sportwelt um die Aussicht auf das vielleicht größte Duell in der Geschichte des 400-m-Hürdenlaufs gebracht: der ugandische Titelverteidiger Akii-Bua gegen den amerikanischen Shootingstar Edwin Moses. Der 20-jährige Physikstudent Moses hatte aufgrund seiner akademischen, nicht seiner sportlichen Leistungen ein Stipendium bei einer namhaften US-Universität erhalten und träumte davon, Ingenieur zu werden.
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John Akii-Bua im Gespräch mit Fans

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Moses beschrieb Akii-Bua einmal als "den ultimativen Hürdenläufer" und sagte, es sei "tragisch" gewesen, dass die beiden in Montreal nicht gegeneinander laufen konnten. Bevor Akii-Bua Kanada verließ, hatten sich die beiden auf der Stadiontribüne getroffen und der Ugander hatte den Amerikaner ermutigt, seinen Weltrekord zu brechen. "Er sagte: 'Wenn du es tun willst, ist dies der richtige Ort dafür'", erinnert sich Moses in der "BBC"-Dokumentation an die Worte seines verhinderten Konkurrenten.
Moses war ein Ästhet und ein begnadeter Athlet, der immer allein trainierte und in der Olympia-Saison nur an einem 400m-Hürdenlauf teilgenommen hatte. Ähnlich wie Akii-Bua bevorzugte er zunächst die kurze Hürdendistanz. Im Finale brach Moses den Weltrekord von Akii-Bua und gewann in einer Zeit von 47,64 Sekunden die Goldmedaille. Montreal war die Geburtsstunde des wohl größten 400-m-Hürden-Spezialisten in der Geschichte der Leichtathletik. Für Akii-Bua wurde Montreal eine Wunde, die nicht heilen wollte.
Während Moses‘ Stern aufging, saß Akii-Bua in zehntausend Metern Höhe in einem Flugzeug zurück nach Afrika. Als er landete, erzählte ihm ein befreundeter Journalist, dass Edwin Moses gewonnen hatte. "Dein Rekord ist weg", sagte er. Akii-Bua war zwar erst 26, aber seine Karriere schien ihm zu entgleiten. Er begann zu rauchen und zu trinken, manchmal schluckte er schon tagsüber Whisky direkt aus der Flasche. Akii-Bua schaffte es nicht, nach dem Triumph von 1972 mit der größten Enttäuschung seiner Karriere vier Jahre später klar zu kommen. Einer Enttäuschung, für die er selbst keine Schuld trug.
John Akii-Bua's große Popularität in Uganda bedeutete, dass er nicht einfach ins Exil gehen konnte, Amin konnte ihn aber auch nicht einfach loswerden. Er war Gefangener im eigenen Land. Im Ausland geriet der Olympiasieger von München allmählich in Vergessenheit, während Idi Amin zunehmend unberechenbarer wurde und die Schlagzeilen bestimmte. Nachdem er sich 1975 zum Präsidenten auf Lebenszeit erklärt hatte, wurde er zusehends verrückter. Sein Geheimdienst, das State Research Bureau, war nichts anderes als ein Killerkommando, das Massaker verübte. Man schätzt, dass Idi Amins Regime in den neun Jahren seiner Herrschaft etwa 300.000 Menschenleben gefordert hat.

Krieg und Flucht

1979 war Uganda ein Land in Trümmern. Abgeschnitten vom Westen waren die für das Land so wichtigen Kaffeepreise zusammengebrochen. Amin hatte Zehntausende von Asiaten und ehemalige Kolonialherren vertrieben, die viele der wichtigsten Unternehmen des Landes führten. In letzter Verzweiflung fiel Amin in Tansania ein. Der Gegenangriff wurde mithilfe von ugandischen Exilanten durchgeführt, in großer Zahl Guerillakämpfer von Akii-Bua's Langi-Stamm. Sie zerschlugen Amins Armee und zwangen den Präsidenten im April zur Flucht.
Aus Angst, mit dem Regime in Verbindung gebracht zu werden - als öffentlicher Kritiker seines Präsidenten war Akii-Bua nie groß in Erscheinung getreten - entschied auch er sich zur Flucht. Zusammen mit seinem Cousin Denis Abua, einem Fußballspieler der ugandischen Nationalmannschaft, fuhr er nach Tororo an die kenianische Grenze. Dort warteten seit zwei Wochen Akii-Bua's schwangere Frau Joyce und ihre drei gemeinsamen Kinder auf ihn. Ihr Auto fuhr in einem Konvoi der deutschen Botschaft, ehe sie am Owen Falls Dam von der tansanischen Armee angehalten wurden. Solche Straßensperren waren zu der Zeit lebensgefährlich.
"In Kampala hatten wir von Menschen gehört, die in das tosende Wasser des Viktoria-Nils geworfen wurden. Andere wurden aufgereiht und aufgefordert, hineinzuspringen. Meine Gedanken begannen zu rasen. Ich dachte, ich würde jetzt sterben. Würden sie mich mit gefesselten Händen und Beinen ins Wasser werfen? Ich wusste, dass man meine Leiche nie finden würde, dass man nie erfahren würde, wer mich getötet hat. Ich dachte an meine Frau und meine Kinder und konnte die Vorstellung von ihrem Leben ohne mich nicht ertragen."
John und sein Cousin überlegten, nach ihren Schusswaffen zu greifen, doch dann erkannte einer der Beamten Denis und die Stimmung änderte sich schlagartig. Denis meinte, sie würden nur ein paar Kisten Bier holen und nach Kampala zurückbringen, man könne sich ja später auf einen Drink in der Offiziersmesse treffen. Den Olympiasieger erkannte niemand. Nach weiteren 100 Kilometer Richtung Westen erreichten sie Tororo und Akii-Bua's Familie. Gemeinsam gelang es ihnen, die Grenze zu überqueren. Die Strapazen der Flucht führte bei Akii-Bua's Frau zu einer Frühgeburt, die das Baby nicht überlebte.
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John Akii-Bua und seine Familie

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Asyl in Deutschland

Ohne Geld und Perspektive wurde Akii-Bua Wochen später von der BBC in einem Flüchtlingslager gefilmt, wo er auf seine Abschiebung nach Uganda wartete. "Ich habe mich noch nie so elend gefühlt. Ich bin Sportler, Sie können sich nicht vorstellen, wie ernst die Situation in meinem Land ist", sagte er dem britischen Fernsehteam. Die Bilder gingen um die Welt.
Als Armin Dassler, Chef von Akii-Bua's Sponsor Puma, von dessen Notlage erfuhr, beschloss er ihm umgehend zu helfen. Dassler kümmerte sich persönlich um seinen Asylantrag für Westdeutschland. Akii-Bua bekam einen Job in der Sportmarketing-Abteilung von Puma, ausgerechnet in der Stadt, in der er weniger als acht Jahre zuvor Olympiasieger geworden war: München. Im Jahr darauf, bei den Spielen von Moskau 1980 versuchte John noch einmal ein Comeback, aber er kam nicht mehr über das Halbfinale hinaus. Seine Zeit von 51,10 Sekunden war weit entfernt von dem Mann, der einmal die 48-Sekunden-Marke geknackt hatte. Es war das Ende von Akii-Bua's sportlicher Karriere.
1983 kehrte er in ein befriedetes, aber instabiles Uganda zurück, das durch Jahre des Krieges und ziviler Unruhen schwer gezeichnet war. Ursprünglich wollte er ein Sportgeschäft eröffnen, was nicht funktionierte, also ging er zurück zur Polizei und wurde Nationaltrainer der ugandischen Leichtathletikmannschaft. Es war der Versuch, an seine glorreiche Vergangenheit anzuknüpfen. Es war auch die Zeit, als er seinen Mentor und Meistercoach Malcolm Arnold ein letztes Mal traf. In der "BBC"-Doku erinnert sich Arnold an diesen emotionalen Moment.
"John kam nach Wales, wo ich als Nationaltrainer arbeitete und er schenkte mir zwölf vollgeschriebene Schulhefte. Er präsentierte sie mir als seine Lebensgeschichte, alles mit Bleistift geschrieben, auf Englisch. Brillant geschrieben, wenn man bedenkt, dass es nicht seine Muttersprache war. Es war umwerfendes Material." Auf diesen Seiten stand sein ganzes Leben - von seiner Kindheit in seinem Dorf bis zu seiner Flucht nach Kenia. Er wollte, dass Arnold seine Geschichte für die Nachwelt aufbewahrt.

Edwin Moses: "Ohne ihn hätte es mich nicht gegeben"

John Akii-Bua starb 1997 im Alter von nur 47 Jahren. Er litt an Unterleibsschmerzen, die durch eine Leberzirrhose hervorgerufen wurden. Er war seit Monaten krank und trauerte noch immer um seine Frau, die zwei Jahre zuvor verstorben war. Er hinterließ elf Kinder, Vollwaisen in einem Land, das nicht über das Sicherheitsnetz eines Wohlfahrtsstaates verfügte. Uganda hielt für seinen ersten Olympiasieger ein Staatsbegräbnis ab. Malcolm Arnold erfuhr vom Tod seines Schützlings, während er die britische Mannschaft beim Europapokal betreute.
Der Ort der Veranstaltung verband das Schicksal beider Männer wie kein anderer: das Münchner Olympiastadion. Arnold wurde einer der erfolgreichsten Leichtathletik-Trainer der Welt. In seiner Karriere, die elf Olympische Spiele umfasste, trainierte er mehrere Olympiasieger, Welt- und Europameister, darunter Colin Jackson, den zweifachen Weltmeister und Silbermedaillengewinner über die 110 m-Hürden.
Aber keinen anderen bewunderte Arnold mehr als seinen ersten großen Läufer, John Akii-Bua. "Ich habe 20 Jahre lang mit Colin Jackson gearbeitet. Diese Chance hatte ich bei John nie", sagte er in der "BBC". "Hätte ich zehn Jahre mit ihm arbeiten können, was wäre noch möglich gewesen für ihn? Wenn man bedenkt, dass er nur zwei richtige Saisons hatte…"
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John Akii-Bua (mitte) und David Hemery bei der Siegerehrung 1972 in München

Fotocredit: Imago

Erst 2012 konnte Uganda eine zweite olympische Goldmedaille erringen, Stephen Kiprotich im Marathon auf den Straßen von London. Und wieder begannen sich die Menschen an John Akii-Bua zu erinnern, dem Daniel Gordon mit seinem Dokumentarfilm vier Jahre zuvor ein Denkmal gesetzt und ihn der Vergessenheit entrissen hatte.
Für Akii-Bua's erstem Trainer George Udeke ist das nur schwer zu verstehen: "Ich wünschte, die Leute würden sich daran erinnern, welches Vermächtnis John für Uganda hinterlassen hat. John hat das afrikanische Licht Olympias entzündet. Aber mit der Zeit vergessen die Leute, sie vergessen sehr schnell. Es ist bedauerlich, dass man in anderen Ländern mehr über John Akii-Bua weiß als wir. Das macht mich traurig. "
Edwin Moses hat nichts vergessen. Das Finale von München, das er sich als 17-Jähriger vor dem Fernseher sah, inspirierte ihn zu seiner eigenen Karriere. Der erste direkte Vergleich zwischen Akii-Bua und Moses fand am 31. August 1979 in London statt. Akii-Bua war nach seinem Asyl in Deutschland gerade erst wieder in den Wettkampfbetrieb eingestiegen und noch nicht in Form, am Ende wurde er Siebter, drei Sekunden hinter dem Sieger Moses.
Nach dem Rennen ging er auf Akii-Bua zu, packte ihn an den Schultern, umarmte ihn, beide unterhielten sich angeregt. Moses: "Ich habe den größten Respekt vor ihm. Wenn es ihn nicht gegeben hätte, hätte es mich nicht gegeben. John ist für immer eine historische Figur in der Geschichte der Leichtathletik."
Geschrieben von Maxime Dupuis, übersetzt von Thilo Komma-Pöllath

Der Podcast zur Story: John Akii-Bua

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