Vuelta 2023: Sepp Kuss zum Abschuss freigegeben - Jonas Vingegaard und Primoz Roglic greifen Teamkollegen an

VonMarc Hlusiak

Update 13/09/2023 um 23:11 GMT+2 Uhr

Die 78. Vuelta a España verkommt immer mehr zum teaminternen Krimi bei Jumbo-Visma. Wie schon auf der 16. Etappe wurde der Gesamtführende Sepp Kuss auch am schweren Schlussanstieg auf dem 17. Teilabschnitt von seinen eigenen Teamkollegen stehen gelassen und muss nun doch noch um seinen größten Karriereerfolg zittern. Ein Vorgehen, das bei Experten und Fans für Unverständnis sorgt.

Gnadenlos: Vingegaard und Roglic hängen Kuss am Geburtstag ab

Seinen 29. Geburtstag hatte sich der Mann im Roten Trikot sicherlich etwas anders vorgestellt.

"Ich dachte, ich hätte es verloren", gestand Sepp Kuss im Ziel der 17. Etappe seiner Ehefrau, nachdem er am steilen Schlussanstieg hinauf zum legendären Alto de L'Angliru genau wie am Vortag einen brutalen Angriff aus den eigenen Reihen über sich ergehen lassen musste.

Zwei Kilometer vor dem Ziel entschieden sich Jonas Vingegaard (Gesamtzweiter) und Primoz Roglic (Gesamtdritter) ohne Not, das Tempo noch einmal zu erhöhen und den US-Amerikaner an den steilen Rampen seinem Schicksal zu überlassen.

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"Zum Zeitpunkt meines Angriffs war es so hart, so steil, da ich bin einfach mein eigenes Tempo gefahren", rechtfertigte sich der spätere Etappensieger Roglic. Der Slowene gab zu, dass es "etwas komisch" gewesen sei, seinen im Roten Trikot fahrenden Teamkollegen zurückfallen zu sehen. "Ich habe mit ihm (Sepp Kuss, Anm. d. Red.) gesprochen. An solchen steilen Anstiegen fährt jeder so schnell wie er kann."

Kuss stehengelassen - Roglic: "Ein komisches Gefühl"

"Unser Ziel war es, die Etappe heute zu gewinnen. Wir sind Erster, Zweiter und Dritter im Gesamtklassement, genauso haben wir es gewollt", gab ein ob der Brisanz der Gemengelage etwas unterkühlt wirkender Vingegaard zu Protokoll und fügte an, glücklich zu sein, "dass Sepp noch im Roten Trikot ist".

Dabei, so die Meinung vieler Experten, sollte der Kampf um das Führungstrikot doch ohnehin längst entschieden sein.

Kuss gab Roglic und Vingegaard das Go

"Sepp Kuss ist ganz klar stärker als alle anderen", stellte Eurosport-Experte Jens Voigt während der Live-Übertragung fest. Die einzigen, die ihn gefährden könnten, seien seine beiden Mannschaftskameraden, die auch genau das taten - zum Unverständnis des ehemaligen Radprofis: "Es scheint ihnen einfach egal zu sein. Ich finde das schon erstaunlich."

Bereits am Vortag hatten User in den sozialen Medien ihr Unverständnis für den Angriff Vingegaard auf Kuss am Schlussanstieg in Bejes zum Ausdruck gebracht, den Dänen sogar als Bösewicht hingestellt, der dem eigentlichen Edelhelfer Kuss seinen größten Karriere-Coup verhageln wolle. Einen Tag später konnte man diesen Eindruck erneut gewinnen.

Dass sich Jumbo - Visma der fragwürdigen Außendarstellung des teaminternen Dreikampfs gewahr ist, zeigt ein Post auf "X" kurz nach der Etappe. So verriet der Rennstall, dass Kuss im Teamfunk ein "Go Guys" gesendet habe, als er merkte, dass er nicht mehr mithalten konnte. Teamchef Grischa Niermann, der besagten Funkspruch im Auto nicht vernommen hatte, bestätigte, dass man sich zu Beginn der Woche auf freie Fahrt für alle geeinigt hatte.

Verwirrung um Kuss-Funkspruch: "Haben ihn nicht gehört"

Doch Angriffe auf den eigenen Teamkollegen, gerade wenn sie ohne Druck von anderen Teams erfolgen, haben nun mal einen faden Beigeschmack. Vor allem, wenn es sich bei dem Teamkollegen um jemanden handelt, dem man selber nicht gerade wenig zu verdanken hat.

Kuss verhalf Roglic und Vingegaard zu großen Erfolgen

"Das ist Sport, kein Märchen mit Happy End und klar soll der Beste gewinnen", sagt Voigt, schränkt dann aber deutlich ein. "Roglic hat den Giro d'Italia dieses Jahr gewonnen, weil er in Kuss den loyalsten Helfer hatte. Auch Vingegaard hat dieses Jahr die Tour de France unter anderem nur deshalb gewonnen, weil er in Kuss den loyalsten Helfer hatte. Und jetzt wäre der perfekte Moment, etwas Loyalität zurückzugeben."

Roglic, dreimaliger Sieger der Spanien-Rundfahrt (2019, 2020, 2021), und der zweimalige Tour-de-France-Sieger Vingegaard (2022, 2023) seien beide "sehr erfolgreich", haben große Rennen gewonnen und jede Menge Geld verdient. "Wäre es da jetzt vermessen, etwas von dem Glück an den Fahrer abzugeben, der sich für seine Kapitäne in diesem Jahr jeweils 3500 Kilometer den Rücken krumm gemacht hat?!"

In die gleiche Kerbe schlug auch Eurosport-Experte Robert Bengsch: "Ich hätte gedacht, dass sie warten. Das wäre jetzt ein großes Statement gewesen, nach dem Motto: 'Du bist so oft für uns gefahren, jetzt haben wir die Vuelta für dich vorbereitet'. Heute hätten sie ganz groß rauskommen können."

Vingegaard: "Würde gerne sehen, dass Kuss die Vuelta gewinnt"

Vor den laufenden TV-Kameras gaben sich Roglic und Vingegaard unschuldig und voller Mitgefühl und Sympathie für ihren Kollegen. "Ich habe ihm gesagt, er soll weiter kämpfen und an sich glauben. Dann wird er es schaffen", habe Roglic dem eigentlichen Edelhelfer in Rot nach dem Rennen gesagt. Vingegaard habe "gehofft, dass Kuss das Rote Trikot behält. Ich würde es gerne sehen, dass er die Vuelta gewinnt."

Vingegaard: "Hoffe, dass Kuss die Vuelta gewinnt"

Wichtigste, weil einzige Erfüllungsgehilfen dieses gar nicht allzu frommen Wunsches sind Vingegaard und Roglic selber. Beide müssen nichts weiter tun, als an den verbleibenden Tagen der Rundfahrt die Füße still zu halten und an der Seite des US-Amerikaners das eigene Ego hintenanzustellen.

"Ganz klar: Unter meiner Regie wäre das Rennen heute nicht so gelaufen", sagt Voigt. "Aber wir leben in einer freien Welt und es gibt sicher eine gemeinsame Teampolitik, eine gemeinsame taktische Richtung und ich habe bei Jumbo nichts zu entscheiden."

So bleibt es zunächst ein seltsames Spiel, das Jumbo-Visma spielt und das eine Menge Zündstoff beinhaltet - vor allem auf zwischenmenschlicher Ebene.

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