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Martin Schmitt exklusiv zu Betrugsdebatte: "Zu viel Anzugspringen, zu wenig Skispringen"

Christoph Niederkofler

Update 08/02/2023 um 17:31 GMT+1 Uhr

Die Debatte um einen vorsätzlichen Betrug bei den Materialkontrollen im Skisprung-Weltcup schlägt weiter hohe Wellen. Olympiasieger Martin Schmitt zeigt sich im exklusiven Interview mit Eurosport von den Vorwürfen nicht überrascht und hebt die Nebenwirkungen des aktuellen Reglements hervor. "Meiner Meinung nach ist es momentan zu viel Anzugspringen und zu wenig Skispringen", führt er aus.

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Die Aussagen eines noch aktiven Skispringers aus der Schweiz haben vor wenigen Tagen für Unruhe im Skisprung-Weltcup gesorgt. Dank spezieller Tricks sei es sowohl ihm als auch der Konkurrenz möglich gewesen, bei der Materialkontrolle zu schummeln und mit einem nicht regelkonformen Sprunganzug an den Start zu gehen.
"Das Thema kostet alle wahnsinnig viel Kraft, der Anzug hat im Skispringen derzeit einfach eine enorme Bedeutung", erklärt der ehemalige Gesamtweltcupsieger Martin Schmitt im exklusiven Interview mit Eurosport. Für einen entscheidenden Eingriff sei es mittlerweile zu spät, "jetzt muss man mit diesem Reglement leben", führt er weiter aus. Nichtsdestotrotz könne man die Kontrollen laut Schmitt deutlich schärfer gestalten.
Letzten Endes müsse man aber auch den Teams, welche "das Maximale aus dem Reglement herausholen", für "ihre Findigkeit Respekt zollen".
Das Interview führte Christoph Niederkofler
Herr Schmitt, wie schätzen Sie die aktuelle Debatte um die Materialkontrollen ein?
Martin Schmitt: Wenn man den Sport beobachtet, dann überrascht mich - und wahrscheinlich auch niemand anderen - die Debatte nicht. Fakt ist, dass der Sprunganzug bei der Kontrolle vermessen wird. Dort wird er aber in einer anderen Position vermessen, als er schlussendlich auf der Schanze gesprungen wird. Und das ist das Bestreben der Teams: Sie versuchen nicht, den Anzug für den Sprung regelkonform zu machen, sondern ihn durch die Kontrolle zu bekommen und dennoch so viel Auftriebsfläche wie möglich zu generieren. Das wird von den Teams trainiert, da wird getüftelt. Daher gibt es auch eine gewisse Diskrepanz zwischen dem Reglement und der Realität auf der Schanze.
Den Springern und Teams "Schummeln" vorzuwerfen wäre demnach also unangebracht?
Schmitt: Es kommt auf die Regelauslegung an. In diesem Jahr sucht der verantwortliche Kontrolleur Christian Kathol wieder mehr den Dialog mit den Teams und kommuniziert seine roten Linien. Wenn man sich die Anzüge der Spitzenteams anschaut, dann hat man den Eindruck, dass es eine Linie gibt und niemand einen entscheidenden Vorteil hat. Es fällt aber auf, dass einige Teams oder einzelne Sportler Nachteile haben und dadurch nicht rankommen. Ich kann es nur aus der Sicht des Nachwuchsbereiches sagen: Wenn ich mir ohne besonderes Know-How dem Reglement gemäß einen Anzug anfertigen lasse, dann habe ich einen ungeheuerlichen Nachteil gegenüber dem top ausgereiften Sprunganzug eines Spitzenteams. Da steckt wahnsinnig viel Arbeit und Know-How drin. Da war man in dieser Saison wohl auch überrascht davon, was das aktuelle Reglement letztlich hergibt. Ich glaube nicht, dass es vorgesehen war, dass die Anzüge so groß wirken.
Hier muss man anbringen, dass die Anzüge groß aussehen und Falten werfen, sobald die Athleten auf dem Balken sitzen. Darauf habe ich den Materialkontrolleur angesprochen und er hat meinen Eindruck geteilt. Er meinte aber, dass er nachmisst und die Anzüge passen. Man fragt sich, wie das geht - aber sie passen.
Aber meiner Meinung nach ist es momentan zu viel Anzugspringen und zu wenig Skispringen. Der Anzug hat einen wahnsinnigen Effekt auf das Ergebnis.
Welche Konsequenzen werden aus der momentanen Unruhe im Skisprung-Weltcup gezogen?
Schmitt: Ich glaube, man wird zu dem Schluss kommen, dass die Regeländerungen im vergangenen Frühjahr nicht die richtigen waren und womöglich das Gegenteil des gewünschten Effekts zutage gebracht haben. Jetzt muss man mit diesem Reglement leben. Im Frühjahr wird es sicher weitere Diskussionen und Überlegungen geben. Ich habe die Hoffnung, dass die Verantwortlichen das Thema in den Griff bekommen. Gerade mit Blick auf den Nachwuchs ist das mit sehr viel Aufwand und Mühe verbunden. Um halbwegs chancengleiches Material zu erreichen, muss man derzeit zu viel investieren.
Natürlich kann man sagen, dass es Spitzensport ist. Aber meiner Meinung nach ist es momentan zu viel Anzugspringen und zu wenig Skispringen. Der Anzug hat einen wahnsinnigen Effekt auf das Ergebnis. Das heißt nicht, dass sich jemand einen unerlaubten Vorteil verschafft - es gibt ja die Kontrollen. Das Problem ist eher, dass nicht alle Athleten kontrolliert werden können und nur Stichproben genommen werden. Wenn jemand nicht kontrolliert wird, kann er also durchkommen. Zudem gab es bereits bei einer Mannschaftsführersitzung die Aussage, dass aufgefallen sei, dass einige Anzüge zu groß waren. Mit dem Hinweis an die Teams, dass sie nachjustieren sollten. Es wurde also nicht sofort zur Disqualifikation gegriffen, sondern großzügig mit Gelben Karten umgegangen. Da sollte man zum direkten Rot zurückgehen - sonst bekommt man das Problem nicht in den Griff.
Stichwort: Zu viel Anzugspringen, zu wenig Skispringen - Markus Eisenbichler behauptete jüngst, dass sich die anonyme Schweizer Quelle auf das Wesentliche konzentrieren solle und ein Zentimeter in der Endabrechnung nicht viel ausmache. Wie groß ist der Effekt aber wirklich?
Schmitt: Ein Zentimeter ist nicht entscheidend, aber darum geht es ja gar nicht. Ich denke, einige Sportler haben schon bei der Ausgangsmessung zu viel verloren, bei der neben der Körpergröße die Oberkörperlänge und damit auch das Schrittmaß bestimmt wird. Bei einigen Athleten aus dem Schweizer Team hat man das Gefühl, dass sie nicht auf Augenhöhe sind. Das war besonders zu Beginn der Saison auffällig, vielleicht war man hier nicht ausgebufft genug.
Natürlich freut man sich nicht, wenn mit so einer anonymen Geschichte Unruhe in den Sport gebracht wird. Aber ich denke, es zeigt auch die Frustration in Teilen des Feldes. Und mit diesen Sportlern möchte ja auch niemand seinen Anzug tauschen. Das Thema kostet alle wahnsinnig viel Kraft, der Anzug hat im Skispringen derzeit einfach eine enorme Bedeutung. Das Know-How wird man immer nutzen können, die Frage ist, inwiefern man das einschränken kann. Mir persönlich ist die Fläche im Schrittbereich zu groß. Das ist für mich zu viel Wingsuit. Beim letzten Wettkampf hat man gesehen, dass die Thematik auch in der Wettkampfsteuerung extreme Probleme mit sich bringt. Ich glaube nicht, dass man da auf einem guten Weg ist.
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Markus Eisenbichler hat sich zur Debatte um die Sprunganzüge geäußert

Fotocredit: Getty Images

Sie haben angemerkt, dass im Frühjahr die Regeln geändert werden müssen. Welche Möglichkeiten hätte der Verband, kurzfristig in das Material-Reglement einzugreifen?
Schmitt: Das Reglement hat Bestand und es gibt keine Möglichkeit, da während der Saison einzugreifen. Was man aber machen kann: Die Auswüchse schärfer kontrollieren. Es wird immer wieder jemanden geben, der es darauf anlegt. Dem kann nur vorgebeugt werden, indem das Reglement härter durchgesetzt wird. Davon profitieren letztendlich alle.
Man muss vielleicht an schwierigen Punkten noch genauer messen. Zum Beispiel ganz oben am Oberschenkel und nicht mit fünf Zentimetern Abstand zum Schrittkreuz. Während der Schrittmessung könnte auch die Taille genauer kontrolliert werden. Es fällt ja auf, dass im Hüftbereich viel Stoff vorhanden ist. Natürlich wird der Anzug, wie vom Schweizer Sportler beschrieben, für die Schrittmessung nach oben gezogen, aber damit rutscht auch dieses Volumen nach oben. Daher muss immer gleichzeitig an verschiedenen Stellen kontrolliert werden, ob das Volumen dann noch in Ordnung ist. Christian Kathol hat mir in unserem Gespräch bestätigt, dass dies alles geprüft wird. Aber ich wäre wirklich mal gerne bei einer Kontrolle dabei. An dieser Stelle muss man den Teams vielleicht für ihre Findigkeit Respekt zollen, wie sie das Maximale aus dem Reglement herausholen.
Mit dem Wissen von heute würde man natürlich noch einmal gern zurückgehen.
Wie war das während Ihrer aktiven Laufbahn? War der Umgang mit den Materialmessungen damals auch so "ausgebufft" wie heute?
Schmitt: Man hat schon den Eindruck, dass der Spielraum größer geworden ist. Vergleicht man die Anzüge aus dem Jahr 2010, als wir im Reglement ein Umfangsmaß von sechs Zentimetern über dem Körpermaß hatten, mit den Modellen von heute mit nur 4 Zentimetern, fällt es einem schwer, nachzuvollziehen, wie ein Anzug, der im Hüftbereich zwei Zentimeter kleiner ist, größer aussehen kann. Früher wurden die sechs Zentimeter ja auch ausgereizt. Heute schauen die Anzüge im Schritt und Hüftbereich trotzdem größer aus. Das verwundert - aber offenbar gibt es einen Weg. Mit dem Wissen von heute würde man natürlich noch einmal gern zurückgehen (lacht).
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Windchaos in Willingen: Zajc stürzt bei unglaublichen 161,5 Metern

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