Barbara Schett exklusiv zum Karriereende von Ex-US-Open-Champion Dominic Thiem: "Eine riesige Erleichterung"

Dominic Thiem beendet im Anschluss an das ATP-Turnier in Wien seine Karriere als Tennisprofi. Barbara Schett blickt im Interview auf den beeindruckenden Weg des Österreichers zurück. Die Eurosport-Expertin adelt den 31-Jährigen, der mit einer positiven Bilanz gegen Roger Federer in den Ruhestand geht und nennt Gründe für die Erfolglosigkeit ihres Landmannes seit seinem Sieg bei den US Open 2020.

Auf einer Stufe mit Muster: Eurosport-Expertin Schett adelt Thiem

Quelle: Eurosport

Dominic Thiem hat in seiner Laufbahn 17 Titel auf der ATP Tour gewonnen und ist in der Weltrangliste bis auf Rang drei geklettert.
Der in Wiener Neustadt geborene Österreicher erreichte drei Grand-Slam-Finals (French Open 2018, Australian Open 2020 und US Open 2020) und feierte mit dem Triumph in New York in einem epischen Duell gegen Alexander Zverev den größten Triumph seiner Karriere.
Seither blieben die Erfolge aus. Thiem zog sich folgenschwere Handverletzung zu, von der er sich nicht mehr hundertprozentig erholte. Mentale Probleme sowie die Suche nach der Form taten ein Übriges.
Das ATP-Turnier in Wien (19. bis 27. Oktober 2024) wird Thiems letzter Aufgalopp vor heimischem Publikum.
Barbara Schett, ehemalige Weltranglistensiebte, ordnet das sportliche Lebenswerk ihres erfolgreichen Landsmannes im Exklusiv-Interview mit Eurosport.de ein.
Frau Schett, welche Bedeutung hat Dominic Thiem in der Geschichte des österreichischen Sports?
Barbara Schett: Eine riesig große Bedeutung. Wir erinnern uns an Thomas Muster, der einst Nummer eins der Welt war und die French Open gewonnen hat - und daneben steht Dominic Thiem. Der erste Österreicher nach Muster, der einen Grand-Slam-Titel geholt hat. Das Finale der US Open 2020 werden vor allem auch die deutschen Fans noch vor Augen haben. Es war ein unglaublicher Kampf gegen Alexander Zverev, den Dominic in fünf Sätzen gewonnen hat. Dann hat sich sein Leben verändert. In diesem Moment hat er das große Ziel, worauf er über seine ganze Laufbahn hinweg hingearbeitet hat, erreicht. Die Nummer eins blieb ihm zwar verwehrt, aber er hat trotzdem einen Boom ausgelöst.
Welche Auswirkungen hatte dieser Triumph auf die Alpenrepublik?
Schett: Die Menschen haben wieder zum Schläger gegriffen, kleine Kinder haben beim Tennis reingeschnuppert und die Hallen in Kitzbühel und Wien waren voll. Dafür sind wir ihm dankbar, vor allem ich. Tennis ist meine große Liebe, es ist ein wunderbarer und schöner Sport und wird auf der gesamten Welt betrieben. Aus einem kleinen Land wie Österreich zu kommen und es während der Zeit der Big Three bis in die Weltspitze zu schaffen - da sind wir sehr, sehr stolz auf ihn.
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"Ein Traumschlag": Schett erklärt, was Thiems Spiel so besonders macht

Quelle: Eurosport

Was hat Thiem zu einem besonderen Spieler gemacht?
Schett: Er hat ein wunderschönes Tennis gespielt. Seine Rückhand longline war immer wieder ein Traumschlag. Dominic hat mit ästhetischem Tennis beeindruckt, mit seiner aggressiven Vorhand hat er den Platz geöffnet. Er war ganz oben - und das war seit seiner Kindheit hart erarbeitet. Während seiner guten Zeit war er stets ein positiver und fairer Spieler, abseits des Platzes ist er bodenständig geblieben, vielleicht sogar etwas schüchtern im Vergleich zu seiner Spielweise. In den vergangenen Jahren war dies aber leider nicht mehr so.
Aber man darf nicht vergessen: Dominic hat außergewöhnlich viele Siege (16; Anm. d. Red.) gegen die Big Three eingefahren. Eine positive Bilanz gegen Roger Federer, sechs Siege gegen Rafael Nadal, fünf gegen Novak Djokovic: So viele Erfolge sind nur ihm gelungen. Das bedeutet auch etwas.
Sie haben Thiem gerade als harten Arbeiter bezeichnet. Thomas Muster war auch ein nahezu versessener Sportler. Die Bilder von ihm, als er sich mit einer schweren Beinverletzung auf ein Holzgestell abgelegt und Tennis gespielt hat, sind noch sehr präsent. Liegt dieser unbedingte Wille in der österreichischen Mentalität?
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Dominic Thiem am Ziel seiner Träume mit dem Sieg in Flushing Meadows 2020

Fotocredit: Getty Images

Schett: Bis zu einem gewissen Grad. Es hängt immer davon ab, wie hart man an sich selbst arbeitet. Ein Roger Federer hat das auch gemacht, aber bei ihm nahm man das nicht in dieser Form wahr. Ich habe am selben Ort trainiert wie Thomas Muster. Der hat geschrien und gestöhnt, dass es alle mitbekommen haben. Für mich war er ein Mensch, der richtig an seine Grenzen gehen konnte - und es jetzt noch in anderen Dingen tut. Zum Beispiel kommt er in die Wiener Stadthalle und beschließt einfach, dass er die ganze Woche nichts essen wird. Er sagt: "Da gibt es so viel gutes Essen, da ist es besser, ich esse gar nichts." Bei ihm ist immer alles extrem.
Wie drückt sich das bei Thiem aus?
Schett: Bei Dominic war es zwar nicht so, aber er hat ein unglaubliches Pensum abgespult. Gerade in den vergangenen Jahren hätte ich erwartet, dass er zumindest einen Teil seines Trainingsplans ändert. Mit 28 Jahren kann man nicht mehr so trainieren wie mit 18. Da muss etwas justiert werden. Das hat er meiner Meinung nach nicht gemacht, sondern darauf vertraut, dass er durch Grenzüberschreitungen im Training auch im Match besser spielt. Ohne Fleiß kein Preis. Wenn du nicht an deine Grenzen gehen kannst, gewinnst du auch keinen Grand Slam.
Diesen Grand Slam hat er vor vier Jahren gewonnen, sein größter und letzter Titel. Wäre in seiner Karriere mit seinem Talent, seiner Klasse und Leidenschaft noch mehr möglich gewesen?
Schett: Das ist die große Frage: Hat er sein komplettes Talent ausgeschöpft? Er hat in der schwierigsten Ära der letzten 20 Jahre gespielt. Nadal, Federer und Djokovic haben den Sport dominiert, da gab es nicht so viele andere Grand-Slam-Sieger. Wir haben Stan Wawrinka und Andy Murray, danach wird es aber bereits dünn.
Als Dominic den Titel schließlich geholt hat, wollte er sicher noch mehr gewinnen. Aber ich vermute, dass bei ihm ein bisschen die Luft raus war.
Woran kann das liegen?
Schett: Das ist eine schwierige Situation. Sich immer wieder von Neuem motivieren, noch größere Ziele setzen - das ist etwas, was die Big Three unglaublich gut umgesetzt haben. Wenn man daran nicht hundertprozentig glaubt, dann erreicht man die Ziele auch nicht. Bei Federer, Nadal und Djokovic war es so, bei Dominic war die Luft wohl nach diesem Sieg leicht raus. Zum Jahresende stand er noch im Endspiel der ATP Finals, erreichte mehrere Grand-Slam-Finals, holte insgesamt 17 ATP-Titel. Eine unglaubliche Karriere des kleinen Jungen aus Lichtenwörth, der einen großen Traum hatte.
Die Handgelenksverletzung hat seinen Rhythmus gestört, er hat sein Selbstvertrauen eingebüßt, an sich gezweifelt und wahrscheinlich auch den Spaß am Tennis verloren. Das Wichtigste ist, dass er mit sich selbst zufrieden ist. Man darf sich nie im Nachhinein Vorwürfe machen.
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Verzweifelt und desillusioniert: Dominic Thiem konnte in den letzten Jahren nicht mehr an alte Erfolge anknüpfen

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Hat er aus Ihrer Sicht Fehler begangen bei der Trainerwahl, der Zusammenstellung seines Teams und der Entscheidung, das angeschlagene rechte Handgelenk nicht operieren zu lassen?
Schett: Damals hat er sich dafür entschieden, es konventionell zu versuchen und einer Operation aus dem Weg zu gehen. Immerhin war es nicht die erste Sehne, die auf der ATP-Tour gerissen ist, also hat er sich bei den anderen umgehört. Dominic hat diese Variante gewählt und dann auch einige Veränderungen in seinem Team vorgenommen. Die Trainerfrage ist immer eine individuelle Angelegenheit. Als Außenstehender hinterfragt man die Entscheidungen, aber Dominic hatte seine Gründe. Es ist schwierig, jetzt hier zu sitzen und darüber nachzudenken, wie die Karriere mit einer Operation verlaufen wäre. Was für mich jedoch feststeht: Seine Leidenschaft war irgendwann weg.
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Hat Thiem sein komplettes Talent ausgeschöpft? Das sagt Schett

Quelle: Eurosport

Was könnte die Ursache dafür gewesen sein?
Schett: Das kann mit dem Handgelenk zusammenhängen, aber auch mental war die Luft raus, weil er so hart daran gearbeitet hat. In gewisser Hinsicht kann ich das nachvollziehen. Mein großes Ziel waren damals die Top Ten. Dann wollte ich immer weiter nach vorne - aber das war nur eine halbherzige Sache. Das Handgelenk war ein riesiger Rückschlag. Teilweise hat er lustlos gewirkt, er war zurückgezogen und introvertiert.
Für ihn ist es mit Sicherheit eine riesige Erleichterung, dieses neue Kapitel aufzuschlagen und das alte hinter sich zu lassen. Er ist ein Typ, der eigentlich nicht gern im Rampenlicht steht, daher passt das für ihn. Von außen kann man natürlich sagen, dass in seiner Karriere mehr möglich gewesen wäre.
Wie wird Thiem in seiner Heimat Österreich in Erinnerung bleiben?
Schett: Als ein sehr liebenswerter und bodenständiger Österreicher, der immer ein Lächeln auf den Lippen und Zeit für seine Fans hatte. Ein Sportler, der uns unglaubliche Stunden an Tennis beschert hat, wo ganz Österreich mit ihm mitgefiebert hat. Menschen, die keine Ahnung von diesem Sport hatten, wollten Dominic Thiem sehen. Sie werden ihn positiv in Erinnerung halten. Aber ich gehe auch davon aus, dass er dem Sport auf eine gewisse Art und Weise erhalten bleibt und wir ihn bei dem ein oder anderen Turnier sehen werden. In Österreich gibt es niemanden, der schlecht über Dominic redet. Sie lieben ihn alle und sind sehr stolz auf seine Errungenschaften.
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Djokovic lobt Thiem: "Sehr wichtiger Spieler für unseren Sport"

Quelle: Perform


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