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FC Schalke 04 - Journalist Erik Wegener im Interview: "S04 muss sein Malocher-Image loswerden"

Eurosport
VonEurosport

Update 19/02/2021 um 07:55 GMT+1 Uhr

Der FC Schalke 04 taumelt dem Abstieg in die 2. Bundesliga entgegen. Erik Wegener, Schalke-Mitglied, Journalist und Buchautor, leidet seit Monaten mit seinem königsblauen Herzensverein. Im Interview mit Eurosport.de zeigt er potentielle Wege aus der Krise. Gleichzeitig aber kritisiert der Bundesliga-Kenner den alles lähmenden Identifikationsanspruch des Kultklubs aus Gelsenkirchen.

Die Profis des FC Schalke 04

Fotocredit: Getty Images

Eurosport.de: Herr Wegener, Schalke wird sich von Sportvorstand Jochen Schneider trennen. War dieser Schritt nicht überfällig?
Erik Wegener: Er war vor allem alternativlos! Schneider hat einfach zu oft danebengegriffen. Das Verhältnis zwischen Ex-Coach David Wagner und der Mannschaft war völlig zerrüttet, aber Schneider hat nicht reagiert. Ich finde übrigens, die Schalke-Fans haben ein Recht darauf, zu erfahren, was hier zwischen Wagner und dem Team vorgefallen ist. Dann holt er, wider besseren Wissens und obwohl alle ihn warnten, Manuel Baum, einen Trainer, der dieser Aufgabe nicht gewachsen war. Und Baum vergrault am Ende auch noch Vedad Ibisevic, der Schalke vielleicht zu zwei, drei wichtigen Siegen hätte knipsen können.
Schalke hat mit William und Mustafi nochmal Erfahrung dazubekommen. Hand aufs Herz: Rettet sich Schalke noch?
Wegener: Ein Derbysieg am Samstag wäre schon schön, aber der Klassenerhalt ist unrealistisch. Schalke müsste ja von 13 Spielen noch mindestens acht gewinnen. Wie soll das gelingen? Ganz ehrlich: Das Team ist nicht wettbewerbsfähig. Ein Abstieg wäre allerdings tragisch. Ich kann mir das auch kaum vorstellen. Schalke gehört ja in die Bundesliga. Dennoch: die Fans bleiben treu, da bin ich sicher. Die 2. Liga ist am Ende auch gar nicht das Problem. Der Fehler liegt in der hochkomplexen DNA des Vereins. Schalke steht sich einfach immer selbst im Weg. Schuld ist das völlig überdrehte, überhitzte Selbstbild.
Das müssen Sie erklären.
Wegener: Auf Schalke zählen nur Emotionen und Nostalgie. Diese ruhmreiche Geschichte um Papa Fritz Unkel, der Schalker Kreisel, die Meisterschaften in der 30ern, Szepan und Kuzorra, das vielzitierte Malocher-Image, dieser Bergarbeiter-Mythos und die 1.000 Anekdoten vom Schalker Markt. Alle müssen immer auf Kohle geboren worden sein. Dabei ist der Steinkohle-Bergbau längst Geschichte. Das ist vorbei. Wir leben im Jahr 2021! Das ist doch verrückt! Es gibt auf der ganzen Welt keinen weiteren Klub, der sich selbst so behindert durch sein überstrapaziertes Selbstbild vom tollsten, weil authentischsten Fußballverein.
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Klaas-Jan Huntelaar - FC Schalke

Fotocredit: Getty Images

Sie sagen, der riesige und neurotische Identitätsanspruch überstrahlt alles.
Wegener: Natürlich hat der Klub seine Geschichte. Aber irgendwann ist auch mal gut. Doch Schalke reitet pausenlos darauf rum. S04 ertrinkt im Stolz. Das blockiert doch die Birne! Von einer langfristigen Strategie will im Verein offenbar niemand etwas wissen. Dafür braucht man doch Ruhe und seriöse Entscheidungen. Und einen klaren Kopf. Zum Beispiel Huntelaar. Als er verpflichtet wurde, sind die Fans durchgedreht. Ich mag ihn auch, aber der "Hunter" ist 37. Und Schalke hat niemanden, der ihn zuverlässig mit Flanken füttert. Fit ist er auch nicht. Alles reine Nostalgie. Aber das will niemand hören.
Aber die Historie ist doch prägend, darüber definiert sich der Verein doch?
Wegener: Das ist ja auch toll. Aber das blockiert alles, es behindert jede konzeptionelle Weiterentwicklung. Es benebelt die Sinne. Schalke schleppt das wie eine Erbkrankheit mit sich rum, das geht nie weg. Klares Denken, Analysen, sachliche Kritik, Vorausplanung - das alles ist nicht möglich. Manchmal hat man den Eindruck: Leistung zählt in Gelsenkirchen nicht. Weil man sich immer sagt: Uns kann nichts passieren. Wir sind ja schon der geilste Klub der Welt. Wir haben sowieso die besten Fans. Mit der größten Inbrunst. Fuhr Schalke zum Auswärtsspiel, hatte man oft den Eindruck: Eigentlich müssen die uns sowieso die Punkte überlassen. Schließlich sind wir Schalke 04. Absurd!
Und wer schürt diese Emotionen immer wieder?
Wegener: Es kommt von allen Seiten, das ist ja das Schlimme. Zuallererst ist da Clemens Tönnies, der dieses Image oft bedient. Er hat offenbar immer noch gehörigen Einfluss. Die Marketingabteilung auch, denn mit diesem Image verdient der Verein Geld. Hinzu kommen natürlich die Fans. Neulich meinte sogar ein Fernsehreporter, Trainer Christian Gross wäre der Falsche, er verstehe den Klub nicht. Ex-Trainer Domenico Tedesco bekam Sympathiepunkte, nur weil er aus Aue kam und das Steigerlied kannte, da im Erzgebirge auch Bergbau betrieben wird. Das muss man sich mal vorstellen!
Der Klub hat eine irre Bedeutung. Er hat Millionen Fans, ist vom Interesse her die Nummer drei in Deutschland und hat mehr als 160.000 Mitglieder.
Wegener: Schalke hat tatsächlich eine irre Wucht, nur zeigt sich das leider nie da, wo es am allerwichtigsten ist: Auf dem Platz! Und das ist traurig. Ich gehe doch als Fan ins Stadion, weil ich erstklassigen Fußball sehen will. Ich will mich begeistern lassen mit schönen Spielzügen. Ich will Torraumszenen. Ich will das sehen, was Mannschaften wie Frankfurt, Freiburg, Union und Stuttgart momentan auf den Rasen zaubern. Leidenschaft, Spiele drehen, Siegeswillen, Spieler, die alles dafür tun, um erfolgreich zu sein. Bei Schalke ist das seit Jahren ein Krampf. Abgesehen vielleicht von den ersten fünf Monaten unter David Wagner.
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Sead Kolasinac - FC Schalke 04

Fotocredit: Getty Images

Am Kader kann es nicht liegen, der ist viel zu gut für einen Absteiger.
Wegener: Der Kader ist teuer, das stimmt. Aber wer sind denn wirklich technisch exzellente Fußballer? Da hat Schalke nur zwei oder drei: Harit, Serdar und Mascarell. Und wenn die ausfallen, ist da nicht mehr viel. Dann muss Uth das Spiel lenken. Uth ist aber ein Stürmer, kein Regisseur! Da sind wir wieder beim Scouting und bei der Kaderplanung, wo man offenbar jahrelang planlos agiert hat. Andere Vereine graben Juwelen wie Silva, Mateta, Silas und Baku aus. Aber das Problem liegt viel tiefer. Der Kader ist einfach schlecht zusammengestellt, ohne Strategie. Charaktertypen fehlen, Leader fehlen und eklige Typen, die dem Gegner wehtun. Schalke leidet immer noch unter den Fehlgriffen von Horst Heldt und Christian Heidel.
Was kann Schalke denn nun tun?
Wegener: Schalke muss sich freimachen vom Bergarbeiter-Kult. Es geht doch nicht um Folklore, es geht um Fußball. Man muss das Leistungsprinzip wieder obenan stellen. Ohne Wenn und Aber. Mit welchem Trainer, mit welchen Spielern kann ich mein Ziel erreichen? Welchen Fußball will ich spielen?
Und wer wäre dafür der Richtige?
Wegener: Ich würde Ralf Rangnick holen. Er hat Hannover, Hoffenheim und Leipzig in die Bundesliga geführt. Er weiß also, wie es geht. Rangnick würde alle wichtigen Positionen im Verein kompetent besetzen. Er hat ja auch Schalke-Stallgeruch, er holte 2011 den Pokal mit S04. Es gibt in der Liga so viele gute Sportdirektoren: Ruhnert, Bobic, Schmadtke, Eberl, Mislintat, Arabi, Schröder. Schalke schafft es aber nie, einen wirklich fähigen Experten zu installieren und ihn in Ruhe arbeiten zu lassen. Wahrscheinlich sagen sich viele Topkandidaten von vorneherein: "Schalke mit all‘ seinen Befindlichkeiten - nee, das tue ich mir nicht an!" Und für Königsblau bleiben dann immer die Falschen übrig.
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Amine Harit in Mitten von Gegenspielern - FC Schalke 04 vs. FC Bayern München

Fotocredit: Getty Images

Ist es ein Zufall, dass sich große Traditionsvereine besonders schwertun?
Wegener: Natürlich nicht. 1. FC Köln, 1860 München, der Hamburger SV, Hertha BSC, Kickers Offenbach - Negativbeispiele gibt es genug. Tradition belastet. Das sieht man auch daran, wie frei Leipzig, Hoffenheim und Wolfsburg arbeiten und aufspielen können.
Wie sieht ihre Prognose aus?
Wegener: Die 2. Bundesliga kann eine Chance sein - für einen echten Neustart. Die Millionen-Verdiener werden gehen, der Kader kann also entschlackt und neu aufgebaut werden. Ein junger Trainer, eine agile Taktik und dann Angriff! Klarer Fokus: Wiederaufstieg in ein bis zwei Jahren. Schafft es Schalke aber nicht, sich auf die fußballerische Weiterentwicklung zu fokussieren, dann droht ein ähnlich bitteres Schicksal wie das des 1. FC Kaiserslautern. Der Fritz-Walter-Klub, ein Gigant im Südwesten, ist ähnlich gestrickt wie S04 und wird ebenso von Emotionen beherrscht. Die Pfälzer steigen vermutlich nochmal ab, diesmal in die Regionalliga. Das sollte allen Schalkern Warnung genug sein. Man muss die Vergangenheit ruhen lassen! Sonst kicken die Knappen irgendwann in der Nostalgie-Liga.

Zur Person Erik Wegener:

Erik Wegener ist Autor des Schalke-Romans "11 Feinde" und des Trainerbuchs "Weiter, immer weiter", für das er Legenden wie Ottmar Hitzfeld, Peter Neururer und Huub Stevens interviewt hat. Als Journalist und Fan verfolgt er das Bundesliga-Geschehen seit 35 Jahren.
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