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Nationalmannschaft verliert in Österreich: Katerstimmung beim DFB - das Schlimmste ist nicht die Leistung

Dennis Melzer

Update 22/11/2023 um 19:55 GMT+1 Uhr

Die deutsche Nationalmannschaft beschließt das desolate Länderspieljahr quasi standesgemäß mit einer 0:2-Niederlage in Österreich. Im Anschluss hagelt es Spott und Häme vom Nachbarn, beim DFB und in der Bundesrepublik herrscht 206 Tage vor der Europameisterschaft im eigenen Land hingegen Kater- statt Aufbruch-Stimmung. Doch das Besorgniserregendste ist nicht die indiskutable Leistung des Teams.

Nagelsmann fordert Leistung: "Durch Spiele, nicht durch Labern"

Nach dem enttäuschenden Jahr 2022, inklusive Vorrundenaus bei der Weltmeisterschaft in Katar, sollte 2023 alles besser werden. Aufbruchstimmung wurde herbeigesehnt, immerhin steht im kommenden Jahr eine prestigeträchtige Heim-EM an. Mittlerweile ist klar: Es wurde alles nur noch schlimmer.
Drei Siege, zwei Remis und sechs Niederlagen – das ist die erschreckende Bilanz aus fünf DFB-Lehrgängen, die selbst gegen Mittelklasse-Gegner zu Lehrstunden wurden. Das letzte Länderspiel des Jahres ging am Dienstagabend in Österreich verdientermaßen 0:2 verloren. Schmach von Cordoba 1978, Schande von Gijon 1982 und nun der Schimpf von Wien.
Austria obenauf, Deutschland am Boden. Ein Sinnbild der jüngeren Fußball-Vergangenheit. Seit der WM 2018 taumelt der viermalige Weltmeister von Spiel zu Spiel, die wenigen ansprechenden Leistungen in jenem Zeitraum wirken im Nachgang lediglich wie rar gesähte Sonnenstunden in einem ewig anhaltenden Winter.
Dazwischen zeichneten drei Bundestrainer, namentlich Joachim Löw, Hansi Flick und Julian Nagelsmann verantwortlich. Löw, so der Tenor, hatte die Mannschaft irgendwann verloren, Flick gewann sie nie für sich und Neu-Coach Nagelsmann muss bereits nach vier Spielen (ein Sieg, ein Unentschieden, zwei Niederlagen) feststellen, dass er sich mit der Mission "Wiederbelebung der Nationalmannschaft" ein Mammutprojekt ans Bein gebunden hat.

"Deutsche Tugend" als Patentlösung?

Freilich waren alle Beteiligten im Nachgang an den blamablen Auftritt im Ernst-Happel-Stadion um Erklärungen bemüht, es wurde fleißig analysiert, was den Ausschlag für den endgültigen Tiefpunkt eines Tiefpunkt-Jahres gegeben hat. Die Quintessenz, so viel sei verraten, war: Die deutschen Tugenden haben gefehlt. Der Allgemeinplatz, wenn es nicht läuft.
"Ich weiß, das ist immer ein Begriff, ein Wort, das strapaziert wird – aber uns fehlen ein bisschen die deutschen Tugenden, dem Gegner wehzutun", erklärte beispielsweise Sportdirektor Rudi Völler. Wie bereits beim 2:3 in Berlin gegen die Türkei hätten erneut "fünf bis zehn Prozent Leidenschaft" gefehlt. Dabei sei das Ergebnis nebensächlich, vielmehr gehe es um die "Art und Weise."
Aussagen, die von jemandem, der seine "klassisch-männliche Haltung beibehalten" will und Latte Macchiato als "Frauengetränk" deklariert, nicht überraschend kommen. Doch Abwehrspieler Mats Hummels blies ins gleiche Horn. "Das Spiel hat sehr gut gezeigt, was uns fehlt – die klassischen deutschen Tugenden anzunehmen, in den Zweikämpfen dagegenzuhalten."
Selbst Nagelsmann, der bislang nun wirklich nicht als Verfechter konservativer Fußball-Werte in Erscheinung getreten ist, bemühte den Begriff. "Es geht nur über harte Arbeit und sogenannte deutsche Tugenden", weniger gehe es hingegen darum, "in Schönheit zu sterben."

Eine Reise in die Vergangenheit

Zumindest in diesem Verdacht steht das DFB-Team dieser Tage ohnehin nicht. Mit Schönheit hat das Ganze seit geraumer Zeit wirklich nicht viel zu tun. Wenn es mit der Schönspielerei nicht klappt, wird also die Mottenkiste mit den deutschen Tugenden hervorgeholt – und alles läuft vermeintlich wieder rund.
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Marcel Sabitzer (Österreich) bejubelt seinen Treffer gegen Deutschland

Fotocredit: Getty Images

Doch was sind eigentlich deutsche Tugenden? Disziplin, Kampf, Fleiß und, Achtung, Phrase - Mentalität? Die Siebzigerjahre haben angerufen und fordern ihre Voraussetzungen für erfolgreichen Fußball zurück.
Als die deutsche Nationalmannschaft zuletzt am Tiefpunkt angelangt war (2003 bis 2004), übrigens unter der personifizierten Tugend Völler, mangelte es nicht an Kampf und Fleiß, sondern schlicht am Fußballerischen.

Aus Tugend- wurde Jugendbewegung

So wollte sich Deutschland nicht zur Heim-WM 2006 rumpeln. Es wurde runderneuert, die Tugend- wurde zur Jugendbewegung. Technik statt Treterei, Kurzpass statt Langholz, ohne selbstredend die Grundeigenschaften zu vernachlässigen.
Deutschland hielt wieder mit im Konzert der Großen, spielte bei der WM in Südafrika 2010 vielleicht den ansehnlichsten Fußball, den das Land bis heute je gesehen hat, krönte sich 2014 zum Weltmeister, dazwischen zwei Halbfinal-Teilnahmen bei Europameisterschaften.
Kurz gesagt: Die Verjüngung und Anpassung an den Zeitgeist, das Abstreifen des Gewands mit der Aufschrift "deutsche Tugenden" fruchtete damals. Kampf und Leidenschaft werden im Sport vorausgesetzt, sind vor allem kein deutsches Phänomen. Ohne sie, ist Siegen schwierig, nur mit ihnen gewinnt man heutzutage keinen Blumentopf mehr. Dafür ist das Spiel zu komplex geworden.
Österreich dient dabei als Paradebeispiel. Trainer Ralf Rangnick hat in den vergangenen 18 Monaten eine klare Spielidee implementiert. Die Spieler haben das System verinnerlicht und begeistern die Fans mit gleichermaßen gutem wie erfolgreichem Fußball über die Maßen.

DFB-Team: Mehr Baustellen als Bauarbeiter

Ganz im Gegensatz zur deutschen Nationalmannschaft, die mehr Baustellen als Bauarbeiter hat. Dass unironisch die Tugend-Plattitüde ausgegraben wird, legt vor allem eine ganz große Problematik nahe. Eine Krux, die schlimmer ist als schwachen Leistungen auf dem Platz: Ratlosigkeit.
Egal welcher Trainer, egal welches Personal, niemandem gelang es zuletzt, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Weil offensichtlich der Schraubendreher für die viel zitierten Stellschrauben fehlt, weil der metaphorische Hebel zum Ansetzen an die mannigfaltigen Probleme abgebrochen ist.
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Ilkay Gündogan und Joshua Kimmich nach der Niederlage gegen Österreich in Wien

Fotocredit: Getty Images

Was wir nun immerhin wissen: Die Anfälligkeit in der Defensive wurde nicht behoben, obwohl jeder mit Dreier- oder Viererkettenerfahrung mal randurfte, Kai Havertz (auf den die Dreier- und Viererkettenerfahrung nicht zutrifft) ist nicht der Heilsbringer für die Linksverteidigerposition, auch dann nicht, wenn man ihn asymmetrischen Schienenspieler nennt – und die Einbindung einer echten Neun auf dem Papier ist auch nicht der Weisheit letzter Schluss, wenn sie auf dem Platz gar nicht eingebunden wird.
Die Nationalmannschaft wirkt in ihrer aktuellen Konstellation untrainierbar, die fußballerisch eigentlich hervorragend ausgebildete Generation um Joshua Kimmich, Serge Gnabry, Leon Goretzka, Leroy Sané oder Julian Brandt scheint titellos in die DFB-Annalen einzugehen.

Titelsammler im Klub, leere Hände beim DFB

Es ist unerklärlich, dass die Genannten im Zusammenspiel mit den WM-Helden von 2014 wie Mats Hummels oder Thomas Müller sowie vielversprechenden Top-Talenten wie Jamal Musiala und Florian Wirtz, nicht funktionieren. Zumal auf Vereinsebene bis zuletzt nachgewiesen wurde, dass die nötige Qualität vorhanden ist, das DFB-Team ist gespickt mit Champions-League-Siegern und weiteren Titelsammlern.
Für Aufbruch und Euphorie steht diese Mannschaft dennoch nicht. Bis zum nächsten Lehrgang stehen vier Monate der Ursachenforschung und Konzeptausarbeitung ins Haus. Es fehlt aber die Fantasie, dass es Nagelsmann und seinen Jungs gelingt, die Ratlosigkeit bis zur EM im Juni kommenden Jahres abzulegen.
Die Wiederbelebung der deutschen Tugend ist jedenfalls nicht die alleinige Lösung. Die Probleme sind noch viel grundlegender. Dass sie niemand benennen kann, zeigt das wahre Dilemma.
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Nach Sané-Ausraster: Nagelsmann fordert "Drecksack-Mentalität"

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