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Vuelta 2023 - Jens Voigt exklusiv: Sepp Kuss im Roten Trikot kann für Jumbo-Visma "zum Problem werden"

Jonas Klinke

Update 05/09/2023 um 15:55 GMT+2 Uhr

Ein spannendes Duell zwischen Remco Evenepoel und Jumbo-Visma, Führungswechsel im Gesamtklassement, ein Edelhelfer in Rot und ein deutscher Etappensieg - die erste Woche der 78. Vuelta a España hatte einiges zu bieten. Eurosport-Experte Jens Voigt blickt im Interview auf die ersten neun Tage in Spanien zurück und erklärt, wer für ihn im Kampf um Rot den bisher stärksten Eindruck gemacht hat.

Highlights: Kämna stürmt mit Ausrufezeichen zum Triple

Lennard Kämna (Bora-hansgrohe) hat am Sonntag mit seinem Etappensieg bei der 78. Vuelta a España zum Abschluss der ersten Woche für einen deutschen Paukenschlag gesorgt. Mit diesem Erfolg hat er sogar Eurosport-Experte Jens Voigt überrascht, wie der 51-Jährige im Exklusiv-Interview zugab.
"Beim 'Predictor' haben zwei Kollegen Lennard Kämna als Etappensieger getippt. Da dachte ich mir: 'Nein, ich glaube, der ist müde. Der ist den Giro schon gefahren, er hat schon eine so lange Saison hinter sich.' Aber glücklicherweise lag ich ja falsch", so Voigt am ersten Ruhetag. Und dem 26-Jährigen traut er im Laufe der Rundfahrt sogar noch einen weiteren Coup zu.
Kämnas Sieg war aber nicht die einzige spannende Geschichte aus der ersten Woche. Denn wie erhofft elektrisierte das Duell Primoz Roglic und Jonas Vingegaard gegen Remco Evenepoel die Radsport-Fans. Das Rote Trikot trägt nach den ersten neun Etappen aber keiner der drei. Stattdessen führt momentan mit Sepp Kuss ausgerechnet der Jumbo-Edelhelfer die Gesamtwertung an.
Voigt sieht diese Konstellation durchaus zweischneidig. "Das kann in der Tat zum Problem werden, aber auch zum Riesenbonus", erklärt der zweimalige Deutschland-Tour-Sieger.
Herr Voigt, Lennard Kämna hat am Sonntag auf der 9. Etappe einen herausragenden Triumph errungen und damit sein Grand-Tour-Triple erreicht. Wie ist dieser Meilenstein zu bewerten?
Jens Voigt: Zunächst muss ich sagen: Asche auf mein Haupt. Wir haben vorher mit den Kollegen geredet und beim "Predictor" haben zwei davon Lennard Kämna als Etappensieger getippt. Da dachte ich mir: "Nein, ich glaube, der ist müde. Der ist den Giro schon gefahren, er hat schon eine so lange Saison hinter sich." Aber glücklicherweise lag ich ja falsch und Lennard hat nochmal bestätigt, dass er einer der besten deutschen Fahrer ist. Kämna ist nicht nur ein Riesentalent, sondern jetzt auch ein richtiger Leistungsträger. Er hat deutlich unterstrichen, dass er nicht nur ein junger hoffnungsvoller Rennfahrer ist, sondern dass er auch wirklich abliefern kann. Zudem hilft dieser Erfolg der Mannschaft Bora-hansgrohe. Sie haben nun einen Etappensieg bei jeder großen Landesrundfahrt. Das ist eine starke Sache.
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Als Solist zum Triple-Coup: Kämna triumphiert bei Bergankunft

Wie sehen Sie seinen Erfolg im Hinblick auf den weiteren Vuelta-Verlauf? In der Bergwertung ist Kämna mit elf Punkten Rückstand Sechster. Könnte er die Freiheiten bekommen, ums Bergtrikot zu kämpfen?
Voigt: Aleksandr Vlasov hält sich ja sehr eisern und fährt vorne mit. Für ihn sind die Top Ten oder sogar Top sechs möglich. Cian Uijtdebroeks ist ein bisschen weiter hinten. Vielleicht wäre jetzt der Moment, die Strategie zu überdenken, dass man sagt: Vlasov darf weiter probieren, sein Top-Ten-Ergebnis zu erzielen - auch im Hinblick auf die Punkte, die es dafür für die Mannschaftswertung gibt. Und man schwenkt vielleicht mehr auf Etappensiege um und greift mit Lennard, wenn er die Freiheiten bekommt, das Bergtrikot an. Darüber muss die Mannschaft am Ruhetag reden und die Vorgehensweise besprechen: Was ist für uns noch realistisch? Was können wir noch erreichen? Wovon träumen wir? Lennard im Bergtrikot ist aber auf jeden Fall eine interessante Option. Es kommen ja noch ein paar Etappen, wo es richtig viele Punkte gibt und da könnte er mit einem Ritt das Trikot auch holen.
Hat Kämna denn aus Ihrer Sicht realistische Chancen aufs Bergtrikot?
Voigt: Ja, hat er. Ums Bergtrikot werden jetzt auch nicht 20 Mann fahren. Die Konkurrenz ist überschaubar. Eduardo Sepulveda (Führender im Bergtrikot, Anm. d. Red.) sieht aus meiner Sicht nicht so stark aus wie Lennard, der leidet doch schon ganz schön. Er war am Anfang ja auch bereits zweimal in den Fluchtgruppen und hat da viel Kraft investiert. Sepulveda hat Lennard also im Griff.
Aber?
Voigt: Es besteht immer die große Gefahr, dass die Klassementfahrer viele Punkte machen. Weil diese Jungs bei einer Bergankunft am Ende ja immer vorne sind. Das gab es ja auch schon einige Male beim Giro d’Italia oder der Tour de France, dass der Gesamtsieger auch in der Bergwertung weit vorne lag.
Lassen Sie uns zur Gesamtlage der Vuelta kommen. Wie bewerten Sie die ersten neun Tage Vuelta?
Voigt: Bisher ist es spannend und abwechslungsreich. Ich kann ja mal Primoz Roglic zitieren, der in einem Videoclip selbst gesagt hat, dass auch Sepp Kuss die Vuelta gewinnen kann.
Wie schätzen Sie das ein?
Voigt: Kuss hat jetzt immer noch mit 2:22 Minuten eine Menge Vorsprung auf Evenepoel. Diesen Rückstand muss er erstmal zufahren. Also ich glaube nicht, dass Kuss im Zeitfahren drei Minuten verliert, auch wenn der Belgier ja ein guter Zeitfahrer ist. Kuss muss nun eben schauen, dass er seine Karten gut ausspielt, dann kann er im Gesamtklassement weit vorne landen. Aber Roglic ist der Kapitän bei Jumbo-Visma, für den gefahren wird.
Wie haben Sie Titelverteidiger Remco Evenepoel wahrgenommen?
Voigt: Ich werde aus ihm noch nicht so richtig schlau. Mal denke ich: "Er ist der neue Eddy Merckx." Und dann denke ich wieder: "Nein, man spürt doch, dass er bis 18 Jahre noch Fußball gespielt." Die Routine fehlt. Das, was man das tägliche Geschäft nennt, fehlt ein bisschen. Weil er nicht so eine lange Lernphase hatte, wie andere, die schon mit zwölf Jahren Rad gefahren sind. Ich bin auch nicht sicher, er hat schon Rundfahrten spektakulär gewonnen, ist in diesem Jahr aber auch beim Giro ausgeschieden. Gut, da ist er zwar mit Corona raus, aber bei dem Rennen ist er auch zweimal gestürzt. Beim Giro vor zwei Jahren musste er ebenfalls nach einem Sturz aufgeben. Er ist immer so ein bisschen unberechenbar. Langweilig ist er aber nie, er ist immer hü oder hott, heiß oder kalt. Durchschnittlich ist er niemals. Egal was er macht, er ist immer spektakulär.
Wie haben sich denn die Favoritenrollen um Roglic, Vingegaard und Evenepoel entwickelt, wer hat in Ihren Augen den stärksten Eindruck hinterlassen?
Voigt: Individuell betrachtet wahrscheinlich Evenepoel. Er war oft am letzten Berg alleine, hat sich darum aber keinen großen Kopf gemacht oder ist in Panik verfallen. Stattdessen ist er vorne einfach Tempo gefahren. Am Sonntag beispielsweise fuhr er Tempo, obwohl mit Roglic, Vingegaard und Kuss drei Jumbo-Fahrer an ihm dran hingen. Anscheinend hatte er überhaupt keine Angst, dass sie oben drüberfahren und ihn abhängen könnten.
Was sagt das über den Belgier aus?
Voigt: Er hat auf jeden Fall Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein. Er sagt sich: "Wenn ich keine Helfer mehr habe, mache ich es eben alleine." Ob das bis zum Ende gut geht, weiß ich nicht. Jonas Vingegaard hält sich bisher ein bisschen zurück, sucht noch seinen Rhythmus. Primoz Roglic fährt auch schon offensiv und auf den Etappensieg. Aber im Moment sieht Evenepoel ein kleines bisschen stärker aus als der Rest. Ob das bis zum Ende so bleibt, kann ich nicht sagen.
Wie schätzen Sie generell die Kapitänslage bei Jumbo-Visma mit Roglic, Vingegaard und nun auch Sepp Kuss im Roten Trikot ein? Kann das für das Team im Kampf mit Evenepoel noch zum Problem werden?
Voigt: Es kann in der Tat zum Problem werden, aber auch zum Riesenbonus. Weil Evenepoel muss immer gewinnen, egal ob Kuss, Roglic oder Vingegaard fährt. Jumbo muss nur einmal gewinnen. Egal wer von den dreien durchkommt, Jumbo steht stets als Sieger da. Remco muss immer gewinnen, weil er gegen die drei alleine ist. Das macht es ein bisschen schwieriger. Die Konstellation kann bei Jumbo aber auch eine gewisse Uneinigkeit erzeugen.
Inwiefern?
Voigt: Weil du natürlich, wenn du als Helfer im Roten Trikot bist, insgeheim doch davon träumst, den Gesamtsieg mit nach Hause zu nehmen. Auch wenn du das vielleicht nicht sagen würdest, aber tief in dir drin, wenn du mit deiner Familie telefonierst, redest du bestimmt darüber. Wobei ich glaube, dass Kuss dazu zu loyal ist. Er wird für die Mannschaft und den ursprünglichen Plan alles geben. Zudem hatte er schon zu viel Erfolg und Freiheiten bekommen und ist seinem Team dafür auch sehr dankbar. Daher denke ich, egal, was sie sagen und was wir glauben: Aus meiner Sicht lautet der Plan Roglic.
Sie glauben also, dass das Team für den Slowenen fährt?
Voigt: Vingegaard wird aus alter Verbundenheit als Edelhelfer dabei sein und Kuss wird als Helfer agieren, auch wenn er momentan in einer sehr guten Position ist. Und wenn ich das so analysieren kann, dann kann dies sicherlich auch Evenepoel analysieren. Was zudem interessant ist: In der gesamten Radsport-Geschichte ist es bisher keiner Mannschaft gelungen, in einem Jahr alle drei großen Landesrundfahrten zu gewinnen. Selbst zu Eddy Merckx‘ oder Bernard Hinaults Zeiten gab es das nicht. Es ist einmal mit Großbritannien einer Nation geglückt. 2018 gewann Chris Froome den Giro, Geraint Thomas die Tour und Simon Yates die Vuelta. Aber ein Team hat es noch nie geschafft. Daher mal schauen, ob Jumbo da ein Meilenstein in Radsport gelingt.
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Sepp Kuss (r.) ist bei den Grand Tours traditionell der Edelhelfer im Team Jumbo-Visma. Nach der ersten Vuelta-Woche trägt er nun selbst das Rote Trikot des Gesamtführenden. Links neben ihm der eigentliche Team-Kapitän Primoz Roglic

Fotocredit: Getty Images

Am Dienstag geht es nach dem Ruhetag mit einem Einzelzeitfahren (ab 14:15 Uhr live im Free-TV bei Eurosport 1 und auf discovery+) weiter. Wer hat da die besten Karten?
Voigt: Es wird super interessant. Mit Filippo Ganna ist ein Ex-Weltmeister im Zeitfahren dabei, Remco Evenepoel ist der aktuelle Zeitfahr-Weltmeister und Primoz Roglic ist der amtierende Olympiasieger. Und Jonas Vingegaard dürfen wir auch nicht vergessen, er hat ja bei der Tour ein unglaublich starkes Zeitfahren absolviert. Es sind schon einige Hochkaräter am Start. Aus den Reihen der Klassementfahrer ist Evenepoel der Favorit.
Warum sehen Sie den Titelverteidiger in der Pole Position?
Voigt: Die Strecke ist relativ flach, so wie beim Giro. In Italien hat er die beiden Zeitfahren überlegen gewonnen. Der Kurs in Valladolid ist technisch nicht so schwierig und hat viele flache sowie schnelle Passagen. Das sehe ich Remco leicht im Vorteil. Insgesamt betrachtet wird natürlich auch Filippo Ganna weit vorne sein, aber mit Blick aufs Gesamtklassement spricht die Strecke für Remcos Fahrertyp.
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Vuelta-Strecke, 10. Etappe: Kampf um Rot beim Zeitfahren in Valladolid

Was erwarten sie sonst noch in den kommenden beiden Wochen der Spanien-Rundfahrt?
Voigt: Das Sprintertrikot scheint mir sicher auf den Schultern von Kaden Groves zu liegen. Er ist der Schnellste und wenn er mal einen rabenschwarzen Tag hat wie auf der 7. Etappe am Freitag, dann wird er Fünfter. Aber dass er ganz aus den Punkten rausfliegt und seine Kontrahenten Andrea Vendrame oder Alberto Dainese 50 Zähler holen, sehe ich nicht. Daher kann ich mir nicht vorstellen, dass die anderen da dichter an ihn herankommen. Das Bergtrikot ist noch ganz offen, weil sich jetzt langsam Fahrer herauskristallisieren, die die Bergwertung als neues Ziel ausgeben. Sie sehen vielleicht, dass aus Etappensiegen oder dem Gesamtklassement nichts mehr wird, weshalb sie nun aufs Bergtrikot setzen. Und die Gesamtwertung müssen wir nach dem Zeitfahren nochmal neu eruieren - je nachdem wie dicht Evenepoel ans Rote Trikot herankommt oder wie er im Vergleich zu Roglic fährt. Weil einer der beiden muss dann im weiteren Verlauf attackieren.
Vielen Dank, Herr Voigt.
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"Ein Stück aus dem Lehrbuch": Groves gelingt der Doppelschlag

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Kämna: "Ich bin komplett über mein Limit gegangen"

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