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Top-Segler Boris Herrmann exklusiv vor Ocean Race 2022-23: "Es gab die wildesten Geschichten"

Tobias Laure

Publiziert 07/01/2023 um 09:32 GMT+1 Uhr

Boris Herrmann bereitet sich dieser Tage auf eine der größten Herausforderungen vor, die der Segelsport zu bieten hat: The Ocean Race 2022-23, das über 32.000 nautische Meilen (~59.260 km) einmal um den Erdball führt. In Teil 1 des Exklusiv-Interviews mit Eurosport.de erklärt der 41-Jährige, worauf es ankommt, welche Gefahren drohen und warum er an Bord "nicht einmal einen eigenen Schlafsack" hat.

Top-Segler Herrmann exklusiv: Meine fünf Ziele für das Ocean Race

Hamburg. Boris Herrmann hat es sich bequem gemacht, sitzt im Warmen und wirkt sehr entspannt. Wohlwissend, dass er in gut drei Wochen ein Abenteuer in Angriff nimmt, bei dem er auf Komfort nahezu gänzlich verzichten muss.
Am 15. Januar sticht er mit einem fünfköpfigen Team und der Rennyacht Malizia - Seaexplorer in Alicante beim The Ocean Race 2022-23 in See.
Eine erdumspannende Reise ins Ungewisse, die am 25. Juni in Genua enden soll. "Das Einzige, dessen wir uns sicher sein können, ist, dass Überraschungen auf uns zukommen werden. Es wird nie so sein, wie man sich das erwartet", sagt Herrmann im Gespräch mit Eurosport.de.
Immerhin: Der Top-Segler aus Oldenburg kann auf einen großen Erfahrungsschatz zugreifen. Im November 2020 nahm er die Vendée Globe in Angriff. Bei der Non-Stop-Regatta segelte Herrmann komplett auf sich alleine gestellt in etwas mehr als 80 Tagen um die Welt. Bereits 2009 gewann er zusammen mit Felix Oehme das Portimão Global Ocean Race.
The Ocean Race im kommenden Jahr soll ein weiterer Meilenstein werden. "Das große Team, das neue Schiff, das Rennen mit seiner berühmten Geschichte, an dem ich nun erstmals teilnehme - da sind wir alle mit Herzblut dabei", betont Herrmann, dem aber auch klar ist, dass die Liste möglicher Risiken und Gefahren lang ist.
Das Interview führte Tobias Laure
Das Ocean Race versprüht nicht nur den Duft einer Sportveranstaltung, sondern - vielleicht mehr noch - von Abenteuer und großer Freiheit. Was überwiegt bei Ihnen als Skipper der Malizia - Seaexplorer?
Boris Herrmann: Das ist untrennbar in dieser Art von Sport miteinander verbunden. Das kann man ein bisschen mit der Rallye Dakar vergleichen, die ich als Jugendlicher gerne geschaut habe. Die Fahrer und Fahrerinnen kennen den genauen Streckenverlauf gar nicht immer, das sorgt für einen großen Abenteuerfaktor. Das ist bei uns ähnlich, wir wissen nicht, was da draußen auf uns zukommt. Winde, Wellen, technische Probleme. Das Einzige, dessen wir uns sicher sein können, ist, dass Überraschungen auf uns zukommen werden. Es wird nie so sein, wie man sich das erwartet. Dennoch wird es am Ende die beste Crew sein, die das Ocean Race gewinnt.
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Herrmann exklusiv: "Man hat nicht einmal einen eigenen Schlafsack"

Sie werden rund ein halbes Jahr unterwegs sein. Da wird der Abschied von Familie und Freunden anders ausfallen als bei einem Fußballprofi, der zum Auswärtsspiel fährt.
Herrmann: Bestimmt. Das Ocean Race ist dazu ein Etappenrennen. Meine Frau und meine Tochter kommen dann zum Beispiel nach Kapstadt, wo wir uns sehen werden. Aber: Loszusegeln und einen Ozean zu überqueren, ist keine Routine! Ich möchte damit den Fußballprofis nicht unterstellen, dass etwa eine Auswärtspartie in der Champions League Routine wäre, aber bei uns ist der Abenteuerfaktor höher. Im Stadion hat man Regen, mal Schnee. Bei uns gilt es, sich mit allen nur denkbaren Naturgewalten auseinanderzusetzen, denn wir sind dem komplett ausgesetzt. Dieses Ausgeliefertsein macht das Segeln für mich so reizvoll.
Duschen können wir gar nicht, allenfalls in den Tropen gießt man sich von Zeit zu Zeit einen Eimer Wasser über den Kopf. Die Toilette wird in einen Eimer oder direkt über Bord erledigt. Das war's.
Nehmen Sie uns doch einmal mit auf die Malizia - Seaexplorer. Was macht dieses Boot so besonders?
Herrmann: Es ist eine Rennmaschine, alles ist zweckoptimiert, um möglichst schnell segeln zu können. Da gibt es keine Sofas mit Polster oder einen Kühlschrank, den man aufmacht und sich was rausnimmt. Das Leben an Bord der Malizia - Seaexplorer ist wie Camping. Du hast eine Isomatte, einen Schlafsack, einen Gaskocher. Auf diesem Komfort-Niveau bewegen wir uns da ...
... und es gibt weder Küche noch Toilette oder fließend Wasser, wie man hört.
Herrmann: Ja, wir haben stattdessen eine Seewasserentsalzungsanlage und Solarpaneele auf dem Dach. Mit diesem Strom entsalzen wir das Seewasser. Daraus entsteht unser Trinkwasser. Natürlich haben wir eine kleine Notration dabei, falls die Technik versagt. Wenn wir essen, schütten wir dieses Wasser in unseren Camping-Gaskocher und anschließend in aufreißbare Tüten mit Nahrung. Duschen können wir gar nicht, allenfalls in den Tropen gießt man sich von Zeit zu Zeit einen Eimer Wasser über den Kopf. Die Toilette wird in einen Eimer oder direkt über Bord erledigt. Das war's, mehr ist da nicht.
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Die Malizia - Seaexplorer vor der Küste von Lorient / (c) Antoine Auriol

Fotocredit: Eurosport

Wie sind da die Aufgaben an Bord innerhalb der Crew verteilt?
Herrmann: Wir sind relativ gleichberechtigt. Vier Segler, darunter mindestens eine Frau, plus der On-board-Reporter, der sich an den Segelmanövern nicht beteiligt. Zwei Leute sind immer aktiv, die anderen beiden ruhen sich aus, kochen, essen oder lesen. Wir haben einen vierstündigen Wach-Rhythmus. Bedeutet aber: Wenn wir ein Manöver wie eine Wende oder Halse fahren, dann sind alle an Deck und arbeiten zusammen. Generell segelt man das Schiff mit zwei Leuten, die in dieser Zeit alles machen müssen. Wetter im Auge behalten, Konkurrenz beobachten, Technik warten. Bei Letzterem helfen oft die anderen beiden Crew-Mitglieder, die eigentlich ruhen, aus. Denn letztlich muss der Fokus darauf liegen, so schnell wie möglich zu segeln.
Irgendwas ist immer. Entweder ist der Wind zu stark, zu schwach, kommt aus der falschen Richtung oder die anderen sind schneller - und haben sowieso immer den besseren Wind.
Wie ist es da um den Schlafhaushalt bestellt? Sie werden ja kaum acht Stunden durchschlafen, zumal auf der 3. Etappe von Kapstadt nach Itajaí in Brasilien mit 12750 nautischen Meilen das längste Teilstück der Ocean-Race-Geschichte ansteht.
Herrmann: Durch das vierstündige Wach-System bist du theoretisch zwölf Stunden "off" am Tag. Aber es ist natürlich nicht so, dass du zwölf Stunden lang die Türe hinter dir zumachst und schläfst. Wir haben das Problem, dass wir beim Liegen häufig geschüttelt oder hin- und hergeworfen werden. Die Qualität des Schlafes ist oft sehr gering oder gar nicht erst möglich. Die Pausen würde ich daher mehr als Erholung oder Stand-by-Zeit bezeichnen. Als Außenstehender ist es schwer nachzuvollziehen, wie anstrengend das ist.
Wird bei allem Stress und aller Konkurrenz auch die Zeit sein, hin und wieder die Natur zu genießen?
Herrmann: Zum Glück schon, wobei nicht alle Profisegler einen Sinn dafür haben. Bei mir selbst beobachte ich, dass er mir in bestimmten Phasen abhandenkommt. Wenn das Schiff nicht segelt, wie es soll, wenn ich Letzter bin, wenn der Wind von vorne kommt. Irgendwas ist immer. Entweder ist der Wind zu stark, zu schwach, kommt aus der falschen Richtung oder die anderen sind schneller - und haben sowieso immer den besseren Wind (lacht). Es verlangt einem sehr viel moralische Kraft ab, dann guter Dinge zu sein und sich zu sagen: 'Jetzt öffne ich mal die Augen für das, was mich umgibt.' Sonnenuntergänge oder die Sterne. In den Passat-Regionen ist der Himmel unglaublich klar und man kann die Sterne fantastisch sehen. Das ist ganz anders als an Land. Diese schönen Momente sind für viele unter uns ein großer Antrieb.
Dazu gehören bestimmt auch Begegnungen mit Walen und Delfinen.
Herrmann: Ja, ich mag diese Momente sehr. Wale sehen wir leider nur sehr selten. Ich bin kein Wissenschaftler, habe aber den Eindruck, dass es - zumindest in den Regionen, in denen wir segeln - weniger geworden sind. In den vergangenen Jahren habe ich keinen gesehen, obwohl sich die Populationen in bestimmten Gebieten offenbar erholen. Delfinen begegnen wir häufiger. Vor allem, wenn man mit kleineren und langsameren Booten unterwegs ist, kommen die Tiere nah heran. Gerade so bei sechs bis acht Knoten Geschwindigkeit schwimmen Delfine gerne nebenher.
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Das Team im Einsatz auf der Malizia - Seaexplorer / (c) Antoine Auriol

Fotocredit: Eurosport

Eine Herausforderung dürften die beengten Verhältnisse an Bord sein. Haben Sie Befürchtungen, dass es in sechs langen Monaten zu zwischenmenschlichen Problemen kommt, die den Erfolg gefährden?
Herrmann: Um diese beengten Verhältnisse deutlich zu machen: Man hat keinen eigenen Schlafsack und kriecht immer in die Koje des anderen, der gerade an Deck ist, und benutzt dieselbe Isomatte und denselben Schlafsack. Das war immer schon so auf Renn-Yachten ...
... und klingt gewöhnungsbedürftig.
Herrmann: Mag sein, aber die Sache hat Vorteile. Wenn so ein Schlafsack in der feuchten Luft ein paar Stunden rumliegt, wird er klamm. Körperwärme hält ihn dagegen trockener. Das ist natürlich sehr spartanisch, aber es entsteht eine Kameraderie. Was das Zwischenmenschliche bei uns einfacher macht, ist dieses eine gemeinsame Ziel: das Boot so schnell wie möglich zu machen. Dazu steht fest, wer die letzte Entscheidung fällt. Das bin nicht immer unbedingt ich, sondern hängt davon ab, um welches Thema es geht. Jeder hat seinen Bereich. Ich bin schon häufiger lange Strecken mit Mannschaften gesegelt, unter anderem dreimal um die Welt, und es sind in dieser Hinsicht keine gravierenden Schwierigkeiten aufgetaucht.
Ist das typisch für den Segelsport?
Herrmann: Man weiß von früheren Auflagen des Ocean Race, dass es massive Spannungen an Bord gab. Allerdings waren die Teams in diesen Zeiten deutlich größer. Wir sind jetzt erstmals mit nur vier Seglern, darunter eine Frau, unterwegs. Früher waren es acht bis zwölf Leute oder gar noch mehr. Da herrschte eine eher militärische Hierarchie, es entstanden Rangeleien um Kompetenzen und Entscheidungsprozesse. Wir haben dagegen eine flache Hierarchie und beraten uns mehr. Ich sehe in unserer Mannschaft wenig Potenzial für Konflikte, auch, weil wir das Team sorgfältig ausgewählt haben.
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Mit Greta Thurnberg über den Atlantik - so hat Herrmann die Reise erlebt

Stichwort Gefahren. Was gilt es neben Wetter und Wellengang noch im Auge zu behalten?
Herrmann: Die Gesundheit ist ein großes Thema. Da gab es in den 50 Jahren, die das Ocean Race inzwischen alt ist, die wildesten Geschichten. Von Leuten, die sich den Blinddarm mit der Konservendose herausoperiert haben. So nach dem Motto. Oder dass die australische Marine mit einem Zerstörer tagelang jemanden suchen musste. Neben den gesundheitlichen Risiken kann die Technik tückisch werden. Und: Kollisionen sind eine reale Gefahr. Sei es mit Treibgut oder kleineren Booten in Küstennähe, die keinen Transponder haben und nachts kein Licht anhaben. Die siehst du manchmal erst im letzten Moment. Eisberge muss man ebenfalls auf dem Schirm haben. Der Veranstalter versucht diese Gefahr zwar zu minimieren, in dem er Zwangswegepunkte setzt, die wir passieren müssen und die uns aus der gefährlichsten Zone heraushalten sollen. Das wird vorher anhand von Satellitendaten geprüft, aber die Situation auf dem Meer ist dynamisch und kann sich schnell ändern. Der Eisberg selbst ist übrigens gar nicht das große Problem, denn wir bekommen ihn in der Regel auf dem Radar mit. Wenn sich aber Bruchstücke lösen, kann sich eine Lage wie auf einem Minenfeld entwickeln, denn die können wir nicht sehen.
Sie sind ein erfahrener Skipper, haben unter anderem das Portimão Global Ocean Race gewonnen und die Vendée Globe bestritten. Welchen Stellenwert nimmt das Ocean Race in Ihrer Vita als Segler ein?
Herrmann: Es ist ohne Frage ein sportlicher Höhepunkt meiner Karriere. Das große Team, das neue Schiff, das Rennen mit seiner berühmten Geschichte, an dem ich nun erstmals teilnehme - da sind wir alle mit Herzblut dabei. Was sportlich herauskommt, ist allerdings schwer einschätzbar.
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Will Harris auf der Malizia - Seaexplorer / (c) Antoine Auriol

Fotocredit: Eurosport

Bei einer Fußball-WM kristallisieren sich im Vorfeld Favoriten heraus, andere Mannschaften gelten als Außenseiter. Kann man das aufs Ocean Race übertragen?
Herrmann: Man kann die fünf Boote zumindest einordnen. Das 11th Hour Racing Team aus den USA hat sich am längsten auf den Wettbewerb vorbereitet, und im Unterschied zu den anderen Crews ausschließlich auf das Ocean Race. Dazu wurden die größten Ressourcen eingesetzt. Da wurde erst ein Schiff zu Trainingszwecken angeschafft, dann ein neues gekauft. Wenn nicht etwas ganz Besonderes passiert, muss 11th Hour das Race gewinnen. Damit ist die Favoritenrolle vergeben. Das Gegenteil ist das Guyot Team Europe mit dem ältesten, aber auch zuverlässigsten Schiff. Darin liegt eine Stärke, denn somit kann die Crew am härtesten von allen pushen. Die übrigen drei Teams setzen auf relativ neue Schiffe - was ein Nachteil werden kann, weil man das Material noch nicht so gut kennt und die eine oder andere Kinderkrankheit beheben muss. Die Schweizer Equipe Holcim kann für sich verbuchen, dass Skipper Kevin Escoffier die vergangene Auflage des Ocean Race für sich entschieden hat. Genau wie Paul Meilhat von Biotherm Racing segelt er ohne Rücksicht auf Verluste.
Was Sie nicht tun?
Herrmann: Ich bin eher das Gegenteil, ein zurückhaltender Segler, der versucht, nichts kaputtmachen. Wir pushen sicherlich weniger und gehen nicht dermaßen ins Risiko. Das mag eine fragwürdige Strategie für das Rennen sein, aber vielleicht sind wir es, die am Ende die lachenden Zweiten oder Dritten sind. Von der Papierform sehe ich uns nicht vorne, weil wir eben nicht alles auf eine Karte setzen.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Herrmann.
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The Ocean Race 2023: "Ein magisches Rennen!"

The Ocean Race 2022-23: Die Route im Überblick

  • 1. Etappe (Start am 15. Januar): Alicante (Spanien) bis Kap Verde, Distanz: 1900 Seemeilen (3518 Kilometer)
  • 2. Etappe (Start am 25. Januar): Kap Verde bis Kapstadt (Südafrika), Distanz: 4600 Seemeilen (8519 Kilometer)
  • 3. Etappe (Start am 26. Februar): Kapstadt bis Itajaí (Brasilien), Distanz: 12.750 Seemeilen (23.613 Kilometer)
  • 4. Etappe (Start am 23. April): Itajaí bis Newport (Rhode Island), Distanz: 5500 Seemeilen (10.186 Kilometer)
  • 5. Etappe (Start am 21. Mai): Newport bis Aarhus (Dänemark), Distanz: 3500 Seemeilen (5556 Kilometer)
  • 6. Etappe (Start am 8. Juni): Aarhus bis Den Haag (Niederlande), Distanz: 800 Seemeilen (1481 Kilometer)
  • 7. Etappe (Start am 15. Juni): Den Haag bis Genua (Italien), Distanz: 2200 Seemeilen (4074 Kilometer)
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Herrmann macht den Favoritencheck: Dieses Team hat die besten Karten

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