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Leichtathletik-WM 2023 - Rico Freimuth schlägt aus deutscher Sicht Alarm: "Im Grunde kann es nur ein Desaster werden"

Tom Müller

Update 18/08/2023 um 15:32 GMT+2 Uhr

Die Absagen-Flut von Top-Athleten wie Malaika Mihambo, Bo Kanda Lita Baehre, Konstanze Klosterhalfen und Co. treibt Leichtathletik-Deutschland vor WM-Start in Budapest Sorgenfalten auf die Stirn. Auch Ex-Zehnkämpfer Rico Freimuth schlägt im Eurosport-Interview Alarm und warnt nach Eugene 2022 vor dem nächsten Debakel. Hoffnungen hat er im Zehnkampf, in dem der DLV zwei heiße Eisen im Feuer hat.

Eurosport-Experte Rico Freimuth (r.), Malaika Mihambo (l.)

Fotocredit: Getty Images

Ab Samstag schaut die Leichtathletik-Welt gespannt nach Budapest. Im brandneuen Stadion "Nemzeti Atlétikai Központ" am östlichen Ufer der Donau messen sich bei der WM vom 19. bis 27. August (live auf Eurosport und im Stream bei discovery+) die besten Athleten der Welt.
Die deutsche Auswahl geht dabei schwer gehandicapt in den Kampf um die Medaillen. Mit Malaika Mihambo (Weitsprung), Andreas Hofmann (Speer), Bo Kanda Lita Baehre (Stabhochsprung), Lea Meyer (Hindernislauf), Konstanze Klosterhalfen (Langstrecke), Alexandra Burghardt und Lisa Mayer (Sprint-Staffel), um nur einige zu nennen, ist die Liste prominenter Absagen lang.
Der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) gibt sich zwar kämpferisch. Ex-Zehnkämpfer und Eurosport-Experte Rico Freimuth schlägt aufgrund der langen Verletztenliste jedoch Alarm und befürchtet ein ähnlich schlechtes Abschneiden wie beim historischen Debakel 2022 in Eugene, als man nur zwei Medaillen holte.
"Im Grunde kann es nur ein Desaster werden", sagt Freimuth, WM-Silbermedaillengewinner von 2017, im exklusiven Gespräch mit Eurosport.de. Verletzungspech lässt der 35-Jährige dabei nicht als einzige Ausrede gelten. Vielmehr prangert er das System in der deutschen Leichtahtletik an. Fehlende Gelder und der Föderalismus würden die Ausbildung von Top-Athleten erschweren. Stattdessen bedürfe es langfristig einer "sinnhaften Zentralisierung".
Hoffnungen machen ihm dagegen die Leistungen von zwei deutschen Zehnkämpfern, denen er in der ungarischen Hauptstadt viel zutraut.
Herr Freimuth, fangen wir trotz der jüngsten Hiobsbotschaften und der langen Ausfallliste positiv an: Was stimmt Sie aus deutscher Sicht optimistisch im Hinblick auf die WM in Budapest?
Rico Freimuth: Das ist eine gute Frage. Wir haben viele Leistungsträger, die wegfallen, vor allem mit Malaika Mihambo. Sie ist das Gesicht der deutschen Leichtathletik der vergangenen Jahre. Um ehrlich zu sein, stimmt mich nicht viel positiv, wenn ich die Nominiertenliste durchgehe. Natürlich freut mich als ehemaliger Zehnkämpfer, wenn in dieser Disziplin mit Niklas Kaul und Leo Neugebauer gleich zwei ambitionierte Medaillenkandidaten an den Start gehen. Realistisch gesehen, können wir aber mit drei Medaillen schon froh sein. Das ist eine Vorausschau, die nicht besonders glücklich stimmt.
Haben Sie Angst, die WM könnte nach dem historisch schwachen Abschneiden in Eugene 2022 (nur zwei Medaillen) das nächste Desaster werden?
Freimuth: Die Frage ist, womit wir uns vergleichen. Eugene war ein Desaster – und jetzt können wir auch nicht auf mehr Medaillen hoffen. Im Grunde kann es nur ein Desaster werden. Man kann daher nur hoffen, dass einige Leute über sich hinauswachsen. Zum Beispiel Joshua Hartmann, der über 200 Meter deutschen Rekord gelaufen ist. Das ist individuell eine klasse Leistung, aber ist er damit international konkurrenzfähig? Ich glaube nicht. Wir haben Talente, aber am Ende muss man sich im internationalen Vergleich mit den weltweit Besten messen – und das wird leider eine sehr schwere Aufgabe. Die Probleme sind ja schon seit Jahren bekannt, gefühlt passiert aber nicht viel. Den Athleten, das möchte ich betonen, kann man keinen Vorwurf machen.
Die European Games in München im vergangenen Sommer waren dagegen mit 16 deutschen Medaillen ein großer Erfolg.
Freimuth: Das ist, als würde man einen Filter bei Instagram benutzen. Die EM war schön, die Stimmung in München toll. Mit den Leistungen hätten wir bei der WM aber trotzdem nur zwei Medaillen geholt. Das vergessen viele, die sagen, in München war alles super. Das muss man realistisch einordnen.
Wenn man kein Top-Athlet in der Leichtathletik ist, dann sitzt das Geld nicht so locker.
Welche Schlüsse wurden aus den Großereignissen im vergangenen Jahr gezogen?
Freimuth: Welche Konsequenzen innerhalb des Verbandes gezogen wurden, kann ich nicht sagen. Aber dem DLV ist ein riesiger Fehler passiert – schon wieder.
Was meinen Sie konkret?
Freimuth: Es wurden etliche Gelder versprochen, die aber am Ende nicht kommuniziert wurden. Dann kam der nächste Brief, in dem Stand, ihr bekommt die Gelder doch nicht. Das stimmt die Athleten natürlich nicht zufrieden. Wenn man kein Top-Athlet in der Leichtathletik ist, dann sitzt das Geld nicht so locker. Die meisten müssen mit 1500 – 2000 Euro im Monat zurechtkommen. Dann kann man keine Weltklasse-Leistungen erwarten, weil der Kopf nicht frei ist und nebenbei noch andere Dinge forciert werden müssen, die den Fokus vom Sport wegrücken. Die Bezahlung der Athleten ist das Problem. Was kriegt man denn von den Verbänden, von der Sporthilfe und vom DLV? Da kommt nicht viel rum.
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Rico Freimuth holte 2015 und 2017 WM-Bronze - und Silber im Zehnkampf

Fotocredit: Imago

Was macht im Hinblick auf Olympia 2024 in Paris Hoffnung?
Freimuth: In einem Jahr kann nichts mehr passieren. Das ist ein langfristiger Prozess und dauert meist ein bis zwei Olympia-Zyklen. Ich sehe das große Problem im Föderalismus in Deutschland. Die Briten haben es im Hinblick auf die Olympischen Spiele 2012 hervorragend gemacht. Sie fördern nicht mehr alle, sondern nur noch die Athleten mit den größten Medaillenchancen. 2016 waren sie sogar noch besser als 2012. Wenn man unter die Top drei der Welt möchte, dann muss der Fokus zu 100 Prozent auf dem Sport liegen – ohne Nebengeräusche. Die Top-Athleten können das, eine Malaika Mihambo muss sich da keine Sorgen machen. Aber bis sie dahin gekommen ist, war es auch für sie schwer. In Deutschland wird jeder ein wenig gefördert – und das führt zu keiner Top-Leistung.
Was muss sich langfristig ändern, um auch in der Breite wieder zur Weltspitze aufschließen zu können?
Freimuth: Eine sinnhafte Zentralisierung ist der Weg zum Erfolg. Wenn wir es in Deutschland schaffen würden, für jedes Bundesland, oder vielleicht sogar nur Ost, West, Nord und Süd eine Zentralisierung hinzubekommen, dann wäre damit viel geschafft. Orte, an denen sich Athleten einer oder mehrerer Disziplinen gebündelt aufhalten und gegeneinander trainieren, wo auch Ärzte und Physios etc. sitzen. Aktuell ist es so, dass jeder irgendwo alleine sein Ding macht. Man sieht sich im Trainingslager, dann fährt man wieder nach Hause und trainiert dort alleine mit dem Trainer und noch ein paar anderen. Das führt am Ende nicht zu der Top-Leistung, die man erreichen will. Andere Länder machen es dagegen vor. Wenn uns ein kleines Land wie Norwegen mittlerweile überrennt, dann liegt das nicht an den Athleten, sondern an den Strukturen.
Mit Niklas Kaul und Leo Neugebauer gehören zwei Zehnkämpfer zu den deutschen Hoffnungen in Budapest. Was trauen Sie dem Duo zu?
Freimuth: Niklas ist aus dem deutschen Trio der Stärkste. Er ist ein international gestandener Athlet und hat Nerven wie Drahtseile. Wenn der hintenraus weiß, dass er 78 Meter werfen oder 4:15 Minuten laufen muss, um eine Medaille zu holen, dann ist er so eiskalt und macht das. Darauf kann man sich verlassen. Ich traue ihm wieder eine Punktzahl um die 8600 Punkte und damit auch eine Medaille zu.
Neugebauer hat in diesem Jahr mit 8.836 Punkten einen neuen deutschen Rekord aufgestellt.
Freimuth: Ich habe ihm danach sofort geschrieben und ihn beglückwünscht. Aber seine Leistungen sind für mich schwer einzuschätzen. Ich weiß, dass bei den NCAA-Meisterschaften immer unglaublich gute Bedingungen für die Athleten vorherrschen. Ich finde, er ist ein sehr sympathischer Junge und hoffe, dass er die Leistung bestätigen kann. Und wenn ich ehrlich bin: Wer einen deutschen Rekord vor einer WM schafft, der muss eigentlich eine Medaille holen, alles andere wäre für die Zuschauer und für ihn selbst eine Enttäuschung. Wenn du 8800 Punkte machst, dann fährst du nicht hin und sagst: 'Der fünfte Platz ist cool.' Dann ist der Anspruch, ich will hier gewinnen oder zumindest eine Medaille.
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Leo Neugebauer bei den NCAA-Meisterschaften in Austin

Fotocredit: Getty Images

Wie schätzen Sie die Form der anderen Favoriten Kevin Mayer und Damian Warner ein?
Freimuth: Kevin hat wie immer im Laufe des Jahres noch keinen Zehnkampf bestritten, ist zur WM aber dann plötzlich da. Und er ist Weltrekordhalter, deshalb muss man ihn immer auf der Rechnung haben. Mein Favorit ist aber Pierce LePage aus Kanada, der vergangenes Jahr Vize-Weltmeister mit 8701 Punkten wurde. Dieses Jahr hat er vor Damian Warner in Götzis mit 8700 Punkten gewonnen. Er beeindruckt mich sehr und hat überhaupt keine Schwächen. Warner ist dagegen fast 34 Jahre alt und scheint nicht mehr in der Form von Olympia 2021 in Tokio zu sein.
Carolin Schäfer gewann bei der WM 2017 in London Silber im Siebenkampf. Wie schätzen Sie ihre Chancen auf einen erneuten Coup ein?
Freimuth: Ich würde es ihr wünschen, aber halte es für unrealistisch, dass sie eine Medaille holt. Mit Nafissatou Thiam hat die absolute Top-Favoritin abgesagt, deshalb scheint der Weg für Anna Hall frei zu sein, die mit 6988 Punkten in Götzis an der 7000-Punkte-Marke kratzte.
Welche weiteren DLV-Athleten dürfen sich in Ihren Augen Chancen auf eine Medaille ausrechnen?
Freimuth: Bei den Frauen sehe ich nur Shanice Craft und Kristin Pudenz, die im Diskus um die Medaillen mitwerfen können. Aber das Niveau ist sehr hoch und es wird sicherlich nicht einfach. Bei den Männern traue ich meinem guten Freund Julian Weber im Speerwurf viel zu. Nüchtern betrachtet ist er ein sicherer Medaillen-Kandidat. Ich hoffe, dass er sogar Gold mit nach Hause bringt. Dazu Kaul und Neugebauer im Zehnkampf. Eventuell noch Christopher Linke über 20 Kilometer Gehen.
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