Jens Voigt im Interview zum Start der Vuelta a España: "Für einige Fahrer eine Strafexpedition"

Jens Voigt verrät im Interview mit Eurosport.de, warum es zu kurz gedacht ist, in Dreifachsieger und Titelverteidiger Primož Roglič den Topfavoriten bei der Vuelta zu sehen. "Carapaz, Geoghegan Hart, Yates und Evenepoel schätze ich stärker ein", sagt der einstige Radprofi. Nicht alle Profis betrachten die Spanien-Rundfahrt aber als Höhepunkt, meint Voigt. Für manche sei es "eine Strafexpedition".

Harter Showdown in Spanien - die Vuelta

Fotocredit: Getty Images

Die Vuelta Ciclista a España ist nach Giro d'Italia und Tour de France traditionell die letzte Grand Tour im Saisonkalender. Ein Fakt, der dafür sorgt, dass die Fahrer mit durchaus gemischten Gefühlen auf die rund 3300 km lange Strecke gehen.
"Für manche, die im Frühjahr nicht so stark waren, ist es eine Strafexpedition", erklärt Jens Voigt, der bei Tour und Giro drei Etappensiege einfuhr. Für Routinier Alejandro Valverde könne das Rennen in diesem Jahr dagegen zu einem besonderen Highlight werden.
Knifflig sei die Frage nach den Favoriten. Überflieger Primož Roglič traue er den vierten Sieg in Serie nicht zu. Auch, weil der Slowene nicht einmal mehr im eigenen Team der Beste sei.
Aus deutscher Sicht schmerze der Ausfall von Emanuel Buchmann, dennoch gebe es einen spannenden Fahrer, den es im Auge zu behalten gelte: Jonas Koch.
Das Interview führte Tobias Laure
Herr Voigt, bei der Vuelta ruhen die Blicke natürlich auf Primož Roglič, der die vergangenen drei Auflagen für sich entschieden hat. Allerdings steht hinter seiner Form ein Fragezeichen: Der Slowene trainiert erst seit Kurzem wieder, die Tour de France brach er mit Rückenschmerzen ab ...
Jens Voigt: Ganz klar: Die Vuelta wird das Luxustrostpflaster für Roglič - so wie in den anderen Jahren auch. Nach dem Motto: 'Bei der Tour gestürzt - dumm gelaufen. Gut, dann nehme ich eben die Vuelta.' Primož würde im Leben nicht die Spanien-Rundfahrt angehen, wenn er vorher die Tour de France gewonnen hätte. Das aber hat bei ihm noch nicht geklappt. Mal kam ein Sturz dazwischen, mal wurde er knapp Zweiter.
Ist er bei dieser Vuelta siegfähig?
Voigt: Wenn es gut läuft, dann wird er Dritter. Anders gesagt: Aus meiner Sicht gewinnt Roglič in seiner Karriere keine große Rundfahrt mehr!
Weil?
Voigt: Er stürzt für meinen Geschmack häufig einmal zu oft. Die Sturzquote bei Roglič ist sehr hoch, zu hoch. Hinzu kommt: Die Unfälle waren mitunter übel, taten weh und er büßte dabei eine Menge Haut ein. Im vergangenen Jahr hat er Paris-Nizza noch auf der Schlussetappe verloren, weil er zweimal gestürzt ist. Die Tour de France musste er bereits zweimal wegen Stürzen abbrechen, 2020 hat er sie dann am vorletzten Tag im Bergzeitfahren aus der Hand gegeben. Als er in dieser Saison beim Critérium du Dauphiné triumphierte, war er nicht stärker als sein bester Helfer Jonas Vingegaard. Ich traue Roglič immer noch Etappensiege, ein Bergtrikot oder Top-fünf-Plätze bei Giro, Tour und Vuelta zu - ein Siegfahrer ist er aber nicht mehr.
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Quelle: Eurosport

Wer sind dann die Favoriten bei der Vuelta?
Voigt: Tao Geoghegan Hart von Ineos Grenadiers ist einer davon, zumal die Mannschaft mit Richard Carapaz noch einen extrem guten Flügelmann hat. Dann ist da Jai Hindley von Bora-hansgrohe. Er bringt das nötige Selbstvertrauen mit und hat mit dem Giro d’Italia in diesem Jahr schon eine große Rundfahrt gewonnen. Simon Yates von BikeExchange-Jayco habe ich ebenfalls auf dem Zettel. Fehlt noch Remco Evenepoel von Quick-Step Alpha Vinyl. Generell: Carapaz, Geoghegan Hart, Yates und Evenepoel schätze ich allesamt stärker ein als Roglic. Außenseiterchancen dürfte zudem João Almeida von UAE Emirates haben.
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Quelle: Eurosport

Worauf dürfen sich die deutschen Zuschauer freuen, nachdem Bergspezialist Emanuel Buchmann das Rennen leider kurzfristig absagen musste?
Voigt: Ich bin ein großer Fan von Jonas Koch, der für Bora-hansgrohe dabei ist und viel mehr kann, als er bislang zeigen konnte. Er fährt oft schon vorne mit, es fehlt ihm lediglich noch die taktische Cleverness und eine Portion Abgebrühtheit, um den richtigen Moment abzupassen. Ich hoffe, dass er jetzt seinen Durchbruch schafft. Koch ist einer, auf den wir uns bei der Spanien-Rundfahrt freuen können.
Kann es sein, dass Sie selbst die Vuelta nicht gemocht haben?
Jens Voigt: Nein, ich habe sie durchaus wertgeschätzt. Es hat nur zeitlich nie gepasst. In meinem ersten Jahr 1998 beim Team Crédit Agricole war ich Neuprofi und hatte schon viele Rennen in den Beinen. Daher war ich nicht dabei. Mein Team ist dann hingefahren. Nach drei Tagen sind drei Fahrer von uns nach Hause, nach fünf Tagen noch einmal drei - und etwa zur Hälfte des Rennens hatten wir niemanden mehr im Feld. Da haben die spanischen Veranstalter gesagt: 'Wisst ihr was, ihr nehmt nie mehr an der Vuelta teil.' Deshalb sind wir während meiner folgenden fünf Jahre bei Crédit Agricole die Spanien-Rundfahrt nicht mehr gefahren. Später beim Team CSC-Saxo Bank bin ich immer viel im Frühjahr und Sommer gefahren, dann war im Herbst der Ofen aus. Da die Vuelta zeitlich nahe an der WM liegt, wollten diejenigen, die da teilnehmen, unbedingt vorher in Spanien fahren. Bei uns im Team hatte ich immer eine Menge Kollegen, die bei den Weltmeisterschaften antreten wollten - also habe ich verzichtet. Dadurch hat sich das nie ergeben.
Bereuen Sie das?
Voigt: Es wäre eines der wenigen Dinge, die ich anders machen würde, wenn ich noch einmal eine Karriere starten könnte. Zum einen, um es abgehakt zu haben, zum anderen, weil ich es vielleicht in den exklusiven Klub derer geschafft hätte, die bei jeder der drei großen Rundfahrten eine Etappe gewonnen haben.
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Jens Voigt, Juan Manuel Garate - Giro d'Italia 2006

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Welche Bedeutung hat die Vuelta generell im Fahrerlager? Es ist ja die letzte große Rundfahrt der Saison.
Voigt: Pauschal kann man das nicht beantworten, denn die Vuelta hat für die Fahrer ganz unterschiedliche Relevanz. Für manche, die im Frühjahr nicht so stark waren, ist es eine Strafexpedition. Für andere ist es ein aktiver Urlaub oder auch eine hochwertige WM-Vorbereitung. Die Spanier wiederum betrachten das Rennen als Ehre. Ich denke an Alejando Valverde von Movistar, für den es vielleicht der letzte große Höhepunkt der Laufbahn ist. Für seinen Teamkollegen Enric Mas sieht die Sache ganz anders aus: Der Spanier galt lange Jahre als Hoffnungsträger für die großen Rundfahrten, muss aber jetzt den Schritt machen zu einem, der abliefert. Wenn du das im Radsport nicht schaffst, dann bist du eben ein Wasserholer oder wirst zum Edelhelfer. Für Mas ist der Zeitpunkt gekommen, an dem diese Frage geklärt wird. Das zeigt: Für jeden Profi hat die Spanien-Rundfahrt eine andere Bedeutung.
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Vuelta a España : stages profil

Quelle: Eurosport

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