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Martin Schmitt exklusiv: Das steckt hinter dem Sensationsstart der DSV-Adler um Andreas Wellinger

Tobias Laure

Update 29/11/2023 um 12:22 GMT+1 Uhr

Skisprung-Legende Martin Schmitt analysiert im Exklusiv-Interview mit Eurosport.de den überragenden Weltcup-Auftakt der DSV-Adler in Ruka. Der 45-Jährige ist begeistert vom Niveau des gesamten Teams. Allerdings werde die "Konstellation, wie wir sie aktuell im deutschen Lager haben, dem einen oder anderen zu schaffen machen", betont Schmitt und spielt damit auf den internen Konkurrenzkampf an.

Wellinger krönt erfolgreichen DSV-Auftakt mit Podestplatzierung

Drei Podien in den ersten beiden Weltcupspringen, die Führung im Nationen Cup und sechs Athleten auf Topniveau - die DSV-Adler haben im finnischen Ruka einen Start in den Winter hingelegt, der die kühnsten Erwartungen übertraf.
"Alle haben sich technisch nochmal verbessert", lobt Eurosport-Experte Martin Schmitt, der während seiner Karriere zweimal den Gesamtweltcup gewann und um die Jahrtausendwende zusammen mit Sven Hannawald einen Skisprung-Boom in Deutschland auslöste.
Es sei beeindruckend gewesen, wie gut der gesamte Kader mit den speziellen Bedingungen umgegangen sei und sich angepasst habe. Die deutsche Mannschaft habe sich "sehr gut auf die Saison vorbereitet, die Hausaufgaben wurden gemacht", stellt Schmitt fest.
Der Mann, den es in diesem Winter zu schlagen gelte, sei indes Stefan Kraft. "Er ist das Maß der Dinge." Es gebe aber auch im DSV-Team mindestens einen Mann, der in der Lage sei, zum österreichischen Überflieger aufzuschließen, unterstreicht Schmitt im Gespräch mit Eurosport.de:
Hand aufs Herz: Wie sehr waren Sie vom überragenden Saisonstart der DSV-Adler in Ruka überrascht?
Martin Schmitt: Ich wusste, dass die deutsche Mannschaft kompakt ist, das Niveau sehr ordentlich und mehrere Springer auf Augenhöhe sind - aber auch ich war natürlich positiv überrascht. Es war beeindruckend, wie das gesamte Team das Level auf die Schanze gebracht hat. Zumal die DSV-Athleten in Ruka ihre ersten Schneesprünge des Winters absolvierten. Trainiert haben die Jungs ja im Hybridmodus. Sie sind auf Eis angefahren und auf der Matte gelandet. Und dann fährt die Mannschaft nach Finnland und findet bei Temperaturen von etwa minus 20 Grad komplett andere Bedingungen vor. Der Anzug ist plötzlich etwas steifer, man selbst nicht ganz so geschmeidig. Von daher ist es überraschend, dass ausnahmslos alle in der DSV-Auswahl derart schnell die Anpassung geschafft haben.
Nach zwei Springen finden sich sechs deutsche Springer in den Top 15 der Weltcupwertung, im Nationencup führt Deutschland vor Österreich. Mehr als nur eine Momentaufnahme?
Schmitt: Was man sieht: Die deutsche Mannschaft ist sehr gut auf die Saison vorbereitet, die Hausaufgaben wurden gemacht, die Einstellung auf das neue Anzugsreglement ist gelungen. Darüber hinaus wurde ja auch die Standhöhe reduziert. Die DSV-Adler haben sich auf all diese Dinge gut eingestellt. Die Basis ist, dass die Sprünge technisch sauber laufen, die Energie mitgenommen wird, das Setup passt. Das gefällt mir sehr gut.
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Kraft in eigenen Sphären: Das Finale in Ruka

Es scheint so, als ob die Deutschen nach einer schwachen Vorsaison ihre Schwächen abgestellt hätten.
Schmitt: Alle haben sich technisch nochmal verbessert. Ruka ist eine Schanze, auf der du die Aerodynamik brauchst, den Sprung schnell übersetzen musst. Was also im vergangenen Winter beim einen oder anderen in der Mannschaft eine Schwäche war, gelingt nun sehr gut. Ruka war dahingehend ein echter Gradmesser. Nur sollte man sich keinen Illusionen hingeben: Die Konkurrenz schläft nicht, die Norweger etwa sind etwas unter Wert rausgegangen in Finnland. In der Vorbereitung, die bei den Norwegern in Lillehammer auf einer vereisten Schneespur stattfand, sah das deutlich besser aus. Dort ist der Anlauf etwas flacher als in Ruka. Am kommenden Wochenende wird in Lillehammer gesprungen und ich bin mir sicher, dass wir danach schlauer sind.
Meiner Meinung nach wird er das durchziehen und auch bei der Tournee in einem Monat in Topverfassung sein. Er ist das Maß der Dinge.
Pius Paschke stand in Ruka mit 33 Jahren erstmals auf dem Podest im Weltcup. Eine Premiere, die in diesem Alter noch niemandem zuvor gelang. Nun ist von außen betrachtet häufig schwer zu erkennen, was ein Springer verändert hat, warum er gerade jetzt im Aufwind segelt. Können Sie Licht ins Dunkel bringen?
Schmitt: Pius war in Finnland nach dem Absprung sehr schnell in der Flugposition. Sein System ist gut abgestimmt, er musste wenig eingreifen. Das ist die Herausforderung in unserem Sport: Bei der körperlichen Dynamik nach vorne fungiert der Ski als Widerlager und muss das aushalten. Das ist einerseits eine technische Angelegenheit und andererseits eine der Materialabstimmung. Das Ganze wurde durch diverse Regeländerungen eher erschwert, aber Pius macht das hervorragend. Er hat einfach gut gearbeitet. Man sieht außerdem, dass er sich im Sommer mit vielen guten Sprüngen eine Basis aufgebaut hat und jetzt das nötige Selbstvertrauen hat.
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Pius Paschke (.) und Stephan Leyhe bejubeln Rang zwei und drei beim Weltcup-Auftakt in Ruka

Fotocredit: Getty Images

Andreas Wellinger setzt indes seinen Aufwärtstrend aus der vergangenen Saison fort. Ist er derjenige, der dem alles überragenden Stefan Kraft die Stirn bieten wird? Darf man vorsichtig schon vom Tourneesieg oder dem Gesamtweltcup träumen?
Schmitt: Bei aller Euphorie darf man nicht übersehen, dass Kraft im zweiten Wettbewerb am Wochenende fast 30 Punkte vor Wellinger lag. Das ist eine Menge. Das kann auf der Rukatunturi-Schanze zwar schnell mal passieren, aber Stefan ist in außergewöhnlicher Form. Meiner Meinung nach wird er das durchziehen und auch bei der Tournee in einem Monat in Topverfassung sein. Er ist das Maß der Dinge. Ich bin mir allerdings sicher, dass es Springer geben wird, die bis dahin zu ihm aufgeschlossen haben - und ich würde mich freuen, wenn Andi Wellinger einer davon ist.
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Showdown in Ruka: Wellinger und Kraft kämpfen um den Sieg

Mit Wellinger, Paschke, Stephan Leyhe, Karl Geiger, Philipp Raimund und Martin Hamann haben sich gleich sechs DSV-Profis in hervorragender Verfassung präsentiert. Bundestrainer Stefan Horngacher scheint in diesem Winter die Qual der Wahl zu haben, wenn es um die Aufstellung geht. Ist dieser interne Konkurrenzkampf ein Plus fürs Team?
Schmitt: Es ist ein Plus, keine Frage. Es hat sich bereits in der Vorbereitung auf die Saison gezeigt, dass ein hohes Gruppenniveau förderlich ist. Du kannst es dir nicht leisten, nachzulassen, bist permanent gefordert. Dazu entwickelt sich in der Mannschaft ein ganz anderes Selbstbewusstsein.
Diese Konstellation, wie wir sie aktuell im DSV-Lager haben, wir dem einen oder anderen aber auch zu schaffen machen.
Mit welchen Folgen?
Schmitt: Man geht ganz anders mit Topplatzierungen um. Wenn ich Sechster werde und damit drittbester Deutscher bin, ist das nichts Besonderes mehr in dem Moment. Dann richtet sich der Blick nach oben. Das ist eine ganz andere Perspektive, als wenn du auf Platz sechs landest und damit der Beste im Team bist. Diese Konstellation, wie wir sie aktuell im DSV-Lager haben, wir dem einen oder anderen aber auch zu schaffen machen.
Bedeutet konkret?
Schmitt: Der Druck ist sehr hoch. Vergessen wir nicht: In der B-Mannschaft, also der Continental-Cup-Auswahl, hat Deutschland noch einen Markus Eisenbichler, einen Constantin Schmid. Den Markus habe ich zum Beispiel erst vergangenen Woche gesehen und ich war sehr angetan von seinen Sprüngen. Ich traue ihm definitiv den Weltcup und ein Top-Ten-Niveau zu. Der Weltcup-Kader bekommt damit Druck von unten und allzu viele Fehler kann sich deshalb keiner leisten.
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Martin Schmitt (li.) und Sven Hannawald (re.) im Jahr 2002

Fotocredit: Imago

Die größte Enttäuschung beim Saisonstart war das Auftreten der polnischen Mannschaft, da funktionierte fast nichts. Wie lässt sich der kollektive Leistungsabfall eines absoluten Spitzenteams erklären?
Schmitt: Grundsätzlich bin ich der Auffassung, dass sich die Polen unter Wert verkauft haben. Allerdings hatte sich schon in der Vorbereitung angedeutet, dass sich keiner in der Mannschaft in Topform befindet. Dazu kommen individuelle Probleme. Kamil Stoch scheint mit der Umstellung auf die neuen Regeln gewisse Schwierigkeiten zu haben. Dawid Kubacki war in der Schneevorbereitung krank, konnte nur zwei Einheiten absolvieren. Zuvor konnte er im Heimtraining aufgrund der Bedingungen auch nicht planmäßig springen. Dawid kam bislang nicht in den Rhythmus, ihm fehlen sicher Sprünge und er ist auch körperlich noch nicht bei 100 Prozent. Zumindest bewies Piotr Zyla mit Platz fünf am Sonntag in der Qualifikation, dass man nicht so weit weg ist, wie es scheint. Die zweite Reihe schwächelt, also sind es bei den Polen wieder die alten Hasen, die den Takt vorgeben und die Wende einläuten müssen.
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Polnisches Debakel in Ruka: "Werden Einzelgespräche führen"

Gerade um Stoch, der im zweiten Springen schon in der Qualifikation scheiterte, muss man sich Sorgen machen. Der 36-Jährige gehört unbestritten zu den besten Skispringern der Geschichte, aber setzt er seinen Legenden-Status aufs Spiel, wenn er den berühmten Absprung verpasst und die Karriere zu sehr in die Länge zieht?
Schmitt: Es wird Kamil ja kein Tourneesieg gestrichen, wenn er weiterspringt. Niemand setzt den Rotstift an. Natürlich sähe der perfekte Abschluss so aus, dass er noch einmal die Tournee gewinnt und dann zurücktritt. Kamil hat aber weiterhin die Leidenschaft und den Willen für den Sport, was ihn freilich nicht davor bewahrt, Schwierigkeiten in den Griff bekommen zu müssen. Aktuell hat er ein Problem mit der Anfahrtsposition, ist nicht richtig balanciert. Da zeigt sich ein altes Fehlerbild. Kamil rollt den Sprung gewissermaßen an, damit fehlt ihm Höhe und Energie im Flug. Wenn er das in den Griff bekommt, wird er sich wieder ganz anders präsentieren als in Ruka. Das geht mitunter extrem schnell im Skispringen. Wer hätte denn erwartet, dass der Pius in diesem Winter aufs Podium kommt?
Nachdem sich auf den ersten sechs Plätzen der Weltcupwertung nur Athleten aus Deutschland und Österreich finden, könnte man auf die Idee kommen, dass die Vierschanzentournee von der alten Rivalität zwischen diesen beiden Teams geprägt wird. Hätte doch was, oder?
Schmitt: Es wäre eine schöne Geschichte - vor allem dann, wenn nach 22 Jahren wieder mal ein deutscher Athlet ganz oben stehen würde bei der Tournee (lacht). Diese sportliche Rivalität zwischen Österreich und Deutschland ist natürlich toll für das Skispringen. Stefan Kraft sagt das auch immer wieder und ich bin sicher, dass ihm das Spaß bereitet. Ich glaube aber nicht an einen echten Team-Zweikampf zwischen den beiden Nationen, sondern daran, dass sich bis dahin zwei, drei Springer als Favoriten etabliert haben und den Sieg dann unter sich ausmachen. Durchaus möglich, dass da dann auch wieder ein Norweger mitmischt ...
Ich bedanke mich für das Gespräch, Herr Schmitt.
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"Wo der hinspringt!": Kraft segelt in Führung

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