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Bischofshofen: Gerupfte deutsche Skispringer um Geiger - die Lehren der 71. Vierschanzentournee

Florian Bogner

Update 07/01/2023 um 09:08 GMT+1 Uhr

Halvor Egner Granerud als strahlender Sieger, die DSV-Springer zu Statisten degradiert: Die 71. Vierschanzentournee ist passé und wirft einige Fragen auf: Warum schaffen es die deutschen Springer bei der Tournee nie, ihren Erwartungen gerecht zu werden? Was machen die Top drei besser als alle anderen? Und springt Granerud bei der WM in Planica jetzt allen davon? Die Lehren der Tournee.

Schmitt-Analyse: Darum hat Granerud die Tournee verdient gewonnen

Sie sind schon Füchse bei der Vierschanzentournee. Just als Halvor Egner Granerud als Letzter über den Schanzentisch der Paul-Außerleitner-Schanze glitt, spielte die Stadionregie die bombastischsten Takte der Puccini-Oper Turandot an.
So setzte der Norweger gerade bei 143,5 Metern auf, als "Nessun dorma" seinen Höhepunkt erreichte. "Vincerò! Vincerò!", lautet die berühmte Zeile des Prinzen Kalaf: "Ich werde siegen! Ich werde siegen!" Und Granerud siegte.
Mit aufgerissenem Mund fuhr der 26-Jährige aus und ließ sich nach der Sturzlinie einfach in den Auslauf plumpsen. Seine Teamkollegen eilten herbei und herzten ihn, ein Jubelknäuel im Kunstschnee. Kurz darauf setzten ihn Johann André Forfang und Daniel-André Tande auf ihre Schultern. Und König Halvor I. machte seine Runde.
"Ich habe so viele langweilige Stunden im Bett verbracht und nichts gemacht, weil ich weiß, wie hart die Vierschanzentournee ist", sagte der Norweger, am Ziel seiner Träume: "Dann das so abzuschließen - der letzte Sprung war wahrscheinlich einer meiner besten. Es hat sich so gut angefühlt. Fantastisch."
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143,5 Meter mit Telemark! Brillanter Granerud fliegt zum Tournee-Sieg

Das Podium von Bischofshofen mit Anze Lanisek (2.) und Dawid Kubacki (3.) war auch das Tournee-Podium, nur in leicht veränderter Reihenfolge - Kubacki kam insgesamt als Zweiter ins Ziel.
Plätze, von denen sie beim DSV 2022/23 nur träumen konnten. Erstmals seit 2016/17 gab es bei den vier Tournee-Springen keinen Deutschen unter den ersten Drei, erstmals seit 2010/11 verfehlten alle DSV-Adler in der Gesamtwertung die Top Ten. Andreas Wellinger wurde nur Elfter.
"Mannschaftlich waren wir selten so weit weg wie derzeit", stellte Sportdirektor Horst Hüttel ernüchtert fest.
Die Lehren aus der Vierschanzentournee.

1.) Gerupfte DSV-Adler

Alle Jahre wieder reisen deutsche Skispringer zur Vierschanzentournee und erfüllen dort dann nicht die (hohen) Erwartungen. 2022/23 schafften es Karl Geiger und Co. die ohnehin schon zurückgefahrene Erwartungshaltung nochmal zu unterbieten.
Nimmt man die vor Oberstdorf ohnehin schon nicht berauschenden Gesamtweltcupplatzierungen der sieben deutschen Springer als Messlatte, unterboten die deutsche Mannschaft diese bei der Tournee im Schnitt nochmal um knapp drei Plätze.
Einzig Philipp Raimund machte positiv auf sich aufmerksam (13.); Andreas Wellinger (11.) machte in Oberstdorf als Sechster zwei Schritte vor und dann auch schnell wieder zwei zurück. Karl Geiger (23.) zeigte zum Auftakt mit Rang vier die beste DSV-Platzierung, stürzte dann aber in Innsbruck ab.
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Vierschanzentournee 2022/23: Karl Geiger wird in Bischofshofen nur enttäuschender 23.

Fotocredit: Getty Images

"Andi Wellinger hat noch nicht die Stabilität", meinte Eurosport-Experte Martin Schmitt: "Ihm hätte es sicherlich gutgetan, wenn Karl noch vorne drin gewesen wäre und er hätte dürfen, aber nicht hätte müssen."
Constantin Schmid (17.) und Stephan Leyhe (26.) hielten in etwa ihr Niveau, Pius Paschke (30.) sackte deutlich ab, Markus Eisenbichler (32.) kam nur in Innsbruck in den zweiten Durchgang und war damit ebenfalls eine große Enttäuschung.
Für Eurosport-Experte Werner Schuster liegt der Grund auf der Hand. Nach einem schwachen Saisonstart ohne Top-Ten-Platzierung in Wisla Anfang November habe man im deutschen Lager mit hohem Aufwand nachjustieren müssen.
"Danach gab es immer wieder Pausen. Andere Nationen konnten sich dort erholen. Aber die Deutschen haben trainiert, weil sie ja aufholen mussten", erklärte Schuster: "Dann ging es zum Wettkampf, dann haben sie trainiert, dann wieder Wettkampf. Sie haben sich rangekämpft, aber es kostet alles Kraft, alles Körner. Und irgendwie hat man das Gefühl, dass ihnen diese Kraft während der Tournee ausgegangen ist."
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Enttäuschung in Bischofshofen: Geiger verpatzt Tournee-Finale

So wirkten auch alle DSV-Adler in Bischofshofen. "Ein zähes Ende einer zähen Tournee", fasste Geiger die Leistungen zusammen: "Es fehlt einfach die Leichtigkeit. Jetzt erstmal ein bisschen Luft ranlassen - das tut gut", sagte er über die Wunde, die die Tournee bei ihm aufgerissen hat.
Es fehlt aber auch an Lösungsansätzen. Zu viele Details liefen falsch, zu viele Fehler schlichen sich in Absprung- und Flugabläufe ein. "Es ist einfach noch nicht stabil genug und dann zerbröselt es einen irgendwann auf der langen Tour", meinte Geiger ehrlich.
Alle Plätze zwischen zwei und zehn hatten DSV-Springer seit 2011/12 belegt, einige davon mehrfach. 22 Top-Ten-Platzierungen waren es insgesamt. Severin Freund (2015/16), Wellinger (2017/18), Eisenbichler (2018/19) und Geiger (2020/21) wurden Zweiter, ein Gesamtsieg wollte jedoch seit Sven Hannawald 2001/02 nicht mehr gelingen.
2023 gab es nun den großen Rückschritt, beinahe eine Zäsur. "Ohne Top-Ten-Platzierung wirkt es nochmal schlechter als es war", meinte Schmitt, hofft aber auf einen Lerneffekt: "Das Trainerteam ist erfahren genug, die richtigen Weichen Richtung Weltmeisterschaft zu stellen."
Sechseineinhalb Wochen sind es nun bis zur WM 2023 in Planica. Dass sie nach einer enttäuschenden Tournee noch die Kurve kriegen können, haben sie 2020/21 bewiesen, als es anschließend bei der Heim-WM in Oberstdorf Medaillen hagelte.
Wie der Plan bis zum nächsten Weltcup im polnischen Zakopane am 14. Januar aussieht, konnte Bundestrainer Stefan Horngacher aber noch nicht sagen. "Jetzt müssen wir erstmal die Emotionen sacken lassen, dann können wir wieder gerade denken", meinte er.
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Geiger zieht Tournee-Fazit: "Zu viel schiefgelaufen"

2.) Raimund kann (noch) nicht der Heilsbringer sein

Philipp Raimund war im insgesamt schwachen DSV-Team der Einzige, der wie ein Honigkuchenpferd strahlte. Im Dezember noch im Continental Cup auf den Schanzen von Vikersund und Ruka unterwegs, legte der mit 22 Jahren Jüngste im deutschen Kader bei der Tournee einen klasse Auftritt hin:
Viermal platzierte sich Raimund in den Top 15, bei den beiden Springen in Österreich sogar als bester Deutscher. "Hätte mir das jemand vor der Tournee gesagt, hätte ich ihm nicht geglaubt", sagte er. Gesamtrang 13 war am Ende deutlich mehr, als sich der Oberstdorfer erträumt hatte.
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Toller Tournee-Abschluss: Raimund auch in Bischofshofen in den Top 15

"Ich bin einfach brutal stolz auf mich", sagte er im Interview mit Eurosport. "Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal in der Tournee, zudem bei meiner ersten, so stark sein werde", fügte er an. Im vergangenen Jahr habe er einfach "eine Wahnsinnsentwicklung gemacht".
Das machte Raimund vor allem daran fest, dass er bei der Tournee längst nicht mit allen Sprüngen zufrieden war und dennoch gut performte. "Ich hatte immer wieder das Gefühl, dass ein Sprung nicht ganz so lief und da noch Luft nach oben ist. Und dann in Bischofshofen auf einer Schanze, die ich mit am wenigsten leiden kann, das beste Weltcupergebnis zu machen, macht mich sehr zufrieden", sagte er.
Gerade in der Flugphase habe er noch Defizite, meinte er selbstkritisch. "Aber beim Absprung bin ich gefühlt in derselben Liga wie die ganz oben", fügte er nicht minder selbstbewusst an.
Lob gab es von allen Seiten. "Philipp Raimund hat ein tolles Ergebnis erzielt", sagte der Bundestrainer. Sein 13. und der 17. Platz von Constantin Schmid zeigen laut Horngacher, "dass der Weg des deutschen Skisprungs der richtige ist. Allerdings haben wir immer noch große Probleme mit unseren Top-Springern Geiger, Wellinger und Eisenbichler. Sie konnten den Trend nicht fortsetzen. Wir müssen schauen, dass wir schön langsam - oder schnell - nach vorne kommen."
Für Raimund gelte es dagegen, nicht zu schnell zu viel zu wollen. "Wir müssen ihn behutsam aufbauen für die Zukunft", sagte Horngacher. "Der nächste Weltcup kommt sehr schnell. Da müssen wir schauen, dass wir unsere Spitzenspringer nach vorne bringen."
Raimund sei ohne Zweifel "auf einem guten Weg", pflichtete Eurosport-Experte Martin Schmitt bei. Aber: "Man kann von ihm nicht erwarten, dass es in dem Tempo weitergeht. Der letzte Schritt ist oft der schwerste." Ab Zakopane sind also auch wieder Geiger, Wellinger und Eisenbichler gefordert, Top-15-Ergebnisse einzufahren.

3.) Granerud greift nach dem Triple

Halvor Egner Granerud dachte in Bischofshofen bestimmt auch an 2017 und Daniel-André Tandes Missgeschick zurück, als dem Norweger beim letzten Sprung die Bindung brach und sich der Traum vom Tournee-Sieg in Luft auflöste.
Wahrscheinlich dachte er auch an 2021, als er selbst nach Garmisch-Partenkirchen noch in Führung lag, am Dreikönigstag dann aber anderen auf dem Tournee-Podium gratulieren musste. Ganz sicher dachte er an 2007 zurück, als Anders Jacobsen als bis dato letzter Norweger die Tournee gewinnen konnte. 16 Jahre später ist dieser Fluch besiegt.
"Mit jedem Jahr das vorübergeht, liegt der letzte Sieg immer weiter zurück. Das erhöht den Druck auf uns Athleten. Das aufzubrechen, ist fantastisch", sagte der 26-Jährige am Freitag überglücklich. Lukrativ war's auch: Allein durch seine drei Tagessiege plus die zwei Qualisiege und den Gesamtsieg strich er über 136.400 Schweizer Franken (137.826 Euro) Siegprämie ein.
Der Tournee-Sieg fühle sich nicht nur deshalb deutlich besser an als sein Gesamtweltcuptriumph 2020/21, "weil ich da mit Covid im Bett lag. Beide zählen zu den am schwierigsten zu erreichenden Titeln. Dass ich beide nun gewonnen habe, macht mich sehr glücklich", fügte der Norweger an.
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Granerud überglücklich: "Dass ich das erleben darf, ist unglaublich"

In welcher Manier Granerud das aber auch bewerkstelligte, war beeindruckend. In sieben der acht Wertungsdurchgänge der vier Tournee-Stationen leuchtete bei ihm die eins auf; und hätte er vor seiner Angstschanze in Innsbruck nicht Riesenbammel gehabt und im ersten Durchgang nur einen Sicherheitssprung gezeigt (123 Meter, Platz 6), wäre sogar der Grand Slam drin gewesen.
Mit 1191,2 Gesamtpunkten stellte der Norweger aber auch so einen neuen Vierschanzentournee-Rekord auf. "Das war sehr beeindruckend", meinte Eurosport-Experte Schmitt: "Er hat das fantastisch gemacht und hoch-, hoch-, hochverdient gewonnen. Das muss man einfach neidlos anerkennen."
"Insbesondere der letzte Sprung war fantastisch", lobte auch Norwegens Trainer Alexander Stöckl. "Unter diesem Druck mit einer Luke weniger den weitesten Sprung des Tages zu zeigen, ist fantastisch und sehr beeindruckend. Ich bin wirklich überrascht."
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Stöckl von Granerud beeindruckt: "Der letzte Sprung war fantastisch"

Im deutschen Team staunten sie nicht weniger. "Das ist unglaublich. Der ist im ersten Sprung einen Meter zu früh weggesprungen, hat einen Schleppski ohne Ende gehabt und auf einmal zieht es ihn drei Meter hoch in die Luft", sagte Philipp Raimund ungläubig: "Der macht grad ganz schön viel richtig. Das sieht einfach nur schön aus."
Laut Bundestrainer Horngacher können sich auch seine Athleten sich von Granerud derzeit "sehr viel abschauen". Der Norweger springe mit einem unglaublichen Selbstvertrauen. "Wenn alles passt, kann er so richtig aufs Pedal gehen. Gratulation an die Kollegen und speziell an Granerud - tolle Vierschanzentournee!", zollte Horngacher dem Sieger Tribut.
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Verdienter Lohn: Granerud erhält in Bischofshofen den goldenen Adler

Vieles spricht dafür, dass Granerud in diesem Winter das Maß aller Dinge bleibt. Mit Ausnahme des ersten Springens von Kuusamo (30.) platzierte sich der Norweger stets in den Top fünf. Kubackis Vorsprung im Gesamtweltcup auf Granerud schmolz in nur vier Tourneespringen schon von 234 auf 134 zusammen. Und auch mit der WM hat er noch eine Rechnung offen: 2021 kam er in Oberstdorf erkrankt nicht richtig zum Zug, holte nur im Mixed eine Silbermedaille.
Es wäre also nicht verwunderlich, würde Granerud nach der Tournee auch noch einen WM-Titel holen und den Gesamtweltcup ein zweites Mal gewinnen. Dann hätte er ein schönes Triple zusammen - und könnte sich nochmal genüsslich "Nessun dorma" anhören.
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Kubacki nach emotionalem Tag: "Gibt Wichtigeres als Skispringen"

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