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Vierschanzentournee: Andreas Wellinger als Lichtgestalt an der Schattenbergschanze - Die Lehren aus Oberstdorf

Florian Bogner

Update 30/12/2023 um 09:04 GMT+1 Uhr

Andreas Wellinger feiert an der Schattenbergschanze seinen emotionalsten Sieg. Einen besseren Auftakt in die Vierschanzentournee hätte sich der 28-Jährige nach einem langen Weg zurück an die Weltspitze wahrlich nicht wünschen können. Karl Geiger bekam dagegen die Flügel gestutzt. In der Tourneewertung kristallisiert sich derweil ein Dreikampf heraus. Die Lehren aus Oberstdorf.

Wellinger strahlt nach Auftaktsieg: "Unfassbar!"

Andi Wellinger grinste wie ein Honigkuchenpferd. "Ich bin sprachlos", sagte der sichtlich überraschte Sieger des Auftaktspringens der Vierschanzentournee in Oberstdorf und nannte seinen Erfolg schlicht "fucking amazing".
Nach Sprüngen auf 128 und 139,5 Meter leuchtete bei Wellinger nach dem Quali-Sieg am Donnerstag auch im Wettkampf am Freitag zweimal die Eins auf.
"Es ist unfassbar, diese Stimmung - es macht so viel Laune, da oben zu sitzen, die Leute zu sehen und vor allem die Stimmung zu hören", sagte die Lichtgestalt von der Schattenbergschanze im Jubeltrubel der 25.500 größtenteils deutschen Zuschauer: "Es ist einfach alles geil."
Wellingers Triumph war zwar bereits der 23. deutsche Sieg in der Oberstdorfer Tournee-Geschichte - mit Sicherheit aber einer der emotionalsten. "Fulminant" fand es Ex-Bundestrainer Werner Schuster. "Fantastisch", urteilte Olympiasieger Martin Schmitt bei Eurosport. "Er ist Weltklasse gesprungen", schwärmte DSV-Coach Stefan Horngacher.

Genugtuung für Andreas Wellinger

Auch Teamkollege Pius Paschke gratulierte dem nun dritten deutschen Weltcupsieger des Winters artig.
"Ihm gönne ich es richtig", sagte der 33-Jährige bei Eurosport: "Er war der Konstanteste von uns über die Saison. Karl Geiger hat gewonnen, ich habe gewonnen - und er wollte unbedingt auch. Dass er jetzt hier vor dem heimischen Publikum feiern darf, ist für ihn eine Genugtuung."
Vor dem zweiten Springen in Garmisch-Partenkirchen ist die Stimmung im deutschen Team also top - zumindest auf den ersten Blick. Die Lehren aus Oberstdorf.
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Wellinger kontert Kobayashi und Kraft - die Entscheidung

1.) Wellinger kann Oberstdorf

2018 nur 39., 2020 auf Rang 46, 2021 als 51. sogar den Wettkampf verpasst - für Andreas Wellinger war Oberstdorf bis zum Freitag kein besonders gutes Pflaster.
Doch angespornt durch die gute Frühform im Weltcup 2023/24 mit Platz zwei im Gesamtweltcup und die Siege seiner Teamkollegen Geiger (Klingenthal) und Paschke (Engelberg) zeigte der Ruhpoldinger zum Auftakt der 72. Vierschanzentournee einen makellosen Wettkampf und holte sich nach dem Fingerzeig in der Quali auch den ersehnten Tagessieg.
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Oberstdorf wird zum Tollhaus! Wellinger holt Auftaktsieg

"Es ist unfassbar, ich bin megaglücklich. Es war eine irre Leichtigkeit da. Vor diesem Publikum zu gewinnen, ist unglaublich", sagte der 28-Jährige, dem mit seinem sechsten Weltcupsieg im Einzel ein bemerkenswertes Kunststück gelungen war: Nie zuvor hat ein Springer nach einem Kreuzbandriss (2019) einen Tournee-Wettkampf gewonnen.
"Der Weg hierhin war brutal schwer, das macht mich extrem stolz. Es ist mit Abstand mein schönster Sieg", sagte Wellinger, der immerhin schon zweifacher Olympiasieger ist. Doch Oberstdorf packte ihn emotional: "Die Fahnen, die Stimmung, die Kulisse, das ist alles einfach geil."
Vom norwegischen Kampfrichter bekam Wellinger für seinen Traumsprung auf die Tagesbestweite von 139,5 Meter im ersten Durchgang sogar die Note 20,0. "Ich schaffe es gerade ganz gut, die Balance zwischen Anspannung und Entspannung zu finden", meinte der Sieger: "Im ersten Durchgang habe ich die Bedingungen ausgenutzt und den Grundstein gelegt, im zweiten habe ich mich super konzentrieren können. Dann kommt dieses Resultat raus und das macht echt Spaß."
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"Eine Ansage!" Wellinger überflügelt im ersten Durchgang alle

Auch habe er in den letzten Jahren dazugelernt. "Ich bin zum Beispiel mal in Bischofshofen als Quali-Sieger im Wettkampf ausgeschieden (2017, Anm. d. Red.), weil ich es eben genau nicht hingekriegt habe", erinnerte er sich: "Heute ist es mir gelungen, es von der Quali zu übersetzen."
Für Eurosport-Experte Werner Schuster war der Sieg für Wellinger "der Lohn für zehn Jahre harte Arbeit". Der Deutsche sei "super in Form. Der ist so stark, das hast du ihm im Gesicht angesehen. Der weiß genau, was er tut."
Es scheint fast so, als könnte diesen Winter mal alles zusammenpassen für Wellinger, der bei der Tournee schon mal Zweiter war, 2017/18 hinter Kamil Stoch. "Oberstdorf liegt mir eigentlich am wenigsten - das Hindernis habe ich überwunden. Das heißt aber noch lange nicht, dass es ein Selbstläufer ist", sagte er.
Bei den vergangenen 25 Auflagen des Klassikers lag weniger als die Hälfte der Auftaktgewinner auch im Endklassement vorne (12). Noch schlimmer lief es für die DSV-Adler: Zehnmal gewannen sie seit 1992 am Schattenberg, nur Hannawald brachte 2001/02 den Vorsprung ins Ziel.
Noch ist Wellingers Polster klein. Nach Garmisch-Partenkirchen nimmt er umgerechnet "nur" 1,66 Meter Vorsprung auf den wieder erstarkten zweifachen Tourneesieger Ryoyu Kobayashi aus Japan mit. Der drittplatzierte Stefan Kraft aus Österreich liegt weniger als sechs Meter zurück.
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Gänsehaut-Moment: Ganzes Stadion singt mit Wellinger die Hymne

2.) Aus Zweieinhalb mach Eins

25.500 Zuschauer machten das Springen in Oberstdorf zur Party. Das deutsche Ergebnis konnte sich im Grunde auch hinter Wellinger sehen lassen: Mit Philipp Raimund (6./beste Tourneeplatzierung) und Karl Geiger (7.) landeten zwei weitere DSV-Adler in den Top Ten, Pius Paschke nur knapp dahinter (11.).
Lediglich Stephan Leyhe fiel ergebnistechnisch ab (24.). Zur Wahrheit gehört bei all dem Jubel über Wellingers Sieg aber auch: Außer dem Sieger bestätigte keiner der Deutschen die Platzierung aus der Qualifikation. Und von zweieinhalb heißen deutschen Eisen im Kampf um den Tourneesieg kühlten in Oberstdorf eineinhalb schon deutlich ab.
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Windpech beim Heimspiel: Geiger vergibt Podestchance im Finale

Vor allem Geiger, der in Klingenthal doppelt gejubelt hatte und im Gesamtweltcup aussichtsreich auf Rang vier liegt, hatte sich nach Quali-Rang zwei mehr ausgerechnet. Mit Weiten von 133,5 und 122,5 Meter verlor der 30 Jahre alte Oberstdorfer in der Tourneewertung schon 23,9 Punkte auf seinen Teamkollegen - eine massive Hypothek.
"In Extremsituationen ist Karls Sprung noch nicht stabil genug", analysierte Eurosport-Experte Martin Schmitt Geigers Malheur im zweiten Durchgang, als der Wind plötzlich von hinten kam und der 30-Jährige die viertschlechtesten Bedingungen hatte: "Dann ist es schwer, das System zu hundert Prozent zusammenzuhalten."
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Schmitt analysiert Wellinger-Sieg: "Fantastisch, zum Genießen!"

Leise Hoffnungen auf eine gute Tourneeplatzierung hatte sich auch Engelberg-Sieger Paschke, Dritter im Gesamtweltcup, gemacht. Der Oldie aus Kiefersfelden konnte seine starke Form in Oberstdorf jedoch nicht bestätigen und setzte seine Tourneeflaute aus den Vorjahren fort.
"Mir fehlt ein bisschen der Hub oben, die Höhe. Dann reicht es nicht, dass man ganz vorne mitspringt", sagte der 33-Jährige, der nach Sprüngen auf 127 und 130,5 Metern schon 28,4 Punkte Rückstand auf Wellinger hat.
Weil auch der Tournee-Dritte von 2018/19, Leyhe, von einer "großen Enttäuschung" sprach, fährt das DSV-Team mit gemischten Gefühlen nach Garmisch-Partenkirchen weiter. Dort steht an Silvester die Qualifikation (13:45 Uhr im Liveticker) und einen Tag später das traditionelle Neujahrsspringen (14:00 Uhr im Liveticker) an - ein deutscher Springer hat seit Hannawald 2002 nicht mehr in "GAP" gewonnen.
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Geiger hadert mit verpatztem Finale: "Bitterer Tag für mich"

3.) Es wird kein Zweikampf der Nationen

Nach den ersten Springen des Weltcup-Winters hätte man durchaus meinen können, die Saison verkomme zu einem deutsch-österreichischen Zweikampf mit internationaler Beteiligung, so dominant traten die zwei Teams auf.
Das Tableau von Oberstdorf sah da schon ganz anders aus: In den Top Five platzierten sich Athleten aus fünf verschiedenen Nationen; hinter Wellinger, Kobayashi und Kraft reihten sich der Slowene Lovro Kos und der Norweger Marius Lindvik ein.
Andere zeigten Nerven: Neben Geiger und Paschke holte sich auch der höher eingestufte Österreicher Jan Hörl (8.) eine Schramme ab, die in dieser Saison schon mit Podestplatzierungen ausgestatteten Gregor Deschwanden (16./Schweiz) und Daniel Tschofenig (20./Österreich) landeten noch weiter hinten.
Richtig übel lief's für den Titelverteidiger und amtierenden Gesamtweltcupsieger Halvor Egner Granerud aus Norwegen, der im ersten Durchgang mit 105,5 Metern abschmierte und ausschied.
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Sensationelles Aus: Titelverteidiger Granerud scheitert früh

Normalschanzen-Weltmeister Piotr Zyla (Polen) machte es als 28. nicht viel besser, seine Teamkollegen Kamil Stoch (17.) und Dawid Kubacki (27.) - beides Ex-Tourneesieger - hatten auch keinen großen Grund zum Feiern.
So dünnte sich das Favoritenfeld bereits erheblich aus. "Die Gesamtwertung wird über die Drei vorne laufen: Kraft, Kobayashi und natürlich Wellinger", legte sich Eurosport-Experte Schmitt bereits fest. "Man muss ehrlicherweise sagen, dass Kraft von diesen dreien die schlechtesten Verhältnisse hatte", ergänzte Schuster.
Für den im Gesamtweltcup führenden Österreicher, der mit Platz drei "super happy" war, sind 10,4 Punkte Rückstand auf Wellinger allemal aufholbar - allerdings nur, wenn er seinen Garmisch-Fluch besiegt. In den vergangenen sechs Jahren gingen Kraft nämlich an der Großen Olympiaschanze nach teils katastrophalen Ergebnissen alle Tourneehoffnungen flöten.
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Kraft lobt Jury nach Auftaktspringen: "Sehr gut gemacht"

Da wirkt Kobayashi mit seiner ansteigenden Formkurve schon unbeschwerter. Der Japaner weiß als Gesamtsieger von 2019 und 2022 freilich, wie man auf den "Four Hills" springt, schließlich hat er acht seiner 30 Weltcupsiege im Rahmen der Vierschanzentournee gefeiert - eine beachtliche Quote. Dazu kommt der Umstand, dass der Japaner eben nicht den Erwartungsdruck des Heimpublikums als Hemmschuh trägt.
Er sei zwar "sehr nervös" gewesen, meinte der sonst so wortkarge 27-Jährige in Oberstdorf auf Englisch zu Eurosport: "Aber die Sprünge waren gut. Mit Platz zwei bin ich sehr zufrieden. Ich freue mich auf die nächsten Wettkämpfe." In Garmisch-Partenkirchen (1.1.), Innsbruck (3.1.) und Bischofshofen (6.1.) könnte Kobayashi die deutsch-österreichischen Festspiele durchaus zu Trauerspielen machen. "Ihn muss man auf der Rechnung haben", so Schuster.
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Granerud fassungslos: "Das ist hart zu schlucken"

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