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Die Lehren der Vierschanzentournee: Kobayashi verliert nur kurz den Überblick - Wellinger kommt der Flow abhanden

Florian Bogner

Update 07/01/2024 um 09:08 GMT+1 Uhr

Andreas Wellinger muss seinen Traum vom Triumph bei der Vierschanzentournee für mindestens ein Jahr begraben - zu dominant tritt Ryoyu Kobayashi auf der letzten Station 2023/24 in Bischofshofen auf. Der Japaner schnappt sich beim Tagessieg von Stefan Kraft zum dritten Mal den goldenen Adler und sorgt damit für einen bemerkenswerten Eintrag ins Geschichtsbuch. Die Lehren der Tournee.

Schmitt-Analyse: Darum ist Kobayashi der verdiente Sieger

So richtig ins Schwitzen kam Ryoyu Kobayashi bei der 72. Vierschanzentournee gefühlt nie - höchstens vor dem vorletzten Sprung in Bischofshofen.
Als der erste Durchgang vor 14.300 Zuschauern an der Paul-Außerleitner-Schanze am Dreikönigstag bereits lief, sah man den Japaner hektisch durchs Springerdorf laufen; der 27-Jährige hatte zunächst offenbar versehentlich seine Ersatzski geschultert und musste noch einmal zurück, als ihm sein Malheur aufgefallen war.
Dann aber besann sich Kobayashi seiner Stärken: Mit Sprüngen auf 137 und 139 Meter ließ der Japaner keine Zweifel mehr an seinem insgesamt dritten Tourneesieg aufkommen - Andreas Wellinger, in Bischofshofen "nur" Fünfer, zählte zu den Geschlagenen.
"Andi ist eine tolle Tournee gesprungen, aber einer war am Ende einfach stärker", meinte Eurosport-Experte Martin Schmitt. "Er war der bessere Mann. Man hatte das Gefühl: Er ist fast nicht zu stoppen."
Wellinger, nach drei Springen fast mit Kobayashi gleichauf, fehlten am Ende dann doch 13,6 Weitenmeter zum Sieg. "Ich habe nicht viele Fehler gemacht", sagte er, "aber das reicht, wenn ein anderer besser ist."
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Wellinger bei Eurosport: "Glücklich und enttäuscht zugleich"

Die Lehren der Vierschanzentournee.

1.) Kobayashi ist ein Tournee-Monster

Ryoyu Kobayashi war in Bischofshofen an beiden Wettkampftagen der dominierende Mann und darf sich deshalb zu Recht Sieger der 72. Vierschanzentournee nennen. "Man muss neidlos anerkennen, dass Ryoyu extrem gut gesprungen ist und verdient gewonnen hat", sagte auch Wellinger.
Dass der Japaner auf der Paul-Außerleiter-Schanze am Ende um 1,3 Punkte von Stefan Kraft geschlagen wurde, konnte er verschmerzen: Ohne Tagessieg trotzdem mit 24,5 Punkten Vorsprung die Tournee zu gewinnen, ist viel eher einen netten Eintrag ins Geschichtsbuch wert.
"Er hat fantastische Sprünge gezeigt, ohne das Letzte zu riskieren", analysierte Martin Schmitt für Eurosport. "Ich habe genau das umgesetzt, was ich mir vorgenommen habe", meinte Kobayashi.
Der Japaner bestätigte damit einmal mehr die alte Tourneeweisheit, dass man nicht zwingend herausragend, aber eben konstant auf hohem Niveau springen muss. Auch wenn der letzte Sieger ohne Einzelsieg Janne Ahonen vor 25 Jahren war, so kam es insgesamt schon neunmal vor.
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Tolle Geste: Granerud übergibt goldenen Adler an Kobayashi

Apropos Ahonen: Die Bestmarke des Finnen mit fünf Tourneesiegen ist für Kobayashi nicht mehr allzu weit entfernt und auch nicht mehr völlig utopisch für den 27-Jährigen, dem das Springen auf den vier Stationen in Deutschland und Österreich besonders zu liegen scheint.
"Kobayashi hat eine sehr unanfällige Technik, die wirklich an allen Radien und allen Schanzen funktioniert", erklärte Eurosport-Experte Werner Schuster die Konstanz des Japaners.
Kobayashi konnte im Vergleich zu den mehr im Fokus stehenden Deutschen und Österreichern außerdem "Energie sparen bei der Medienarbeit, beim Drumherum. Man hat das Gefühl: Er schwebt irgendwie durch diese Tournee."
Mit seinem dritten Gesamtsieg zog der Japaner schon mit Kamil Stoch (Polen), Helmut Recknagel (Deutschland) sowie Björn Wirkola (Norwegen) gleich - und ließ die Skisprunggrößen Matti Nykänen (Finnland), Andreas Goldberger und Gregor Schlierenzauer (beide Österreich/alle zwei Siege) hinter sich. Jens Weißflog steht als erfolgreichster Deutscher bei vier Tourneesiegen.
"Die Tournee dreimal zu gewinnen, ist herausragend, großer Respekt. Ich mag ihn, er ist ein netter, cooler Typ - und verdammt stark", meinte Stefan Kraft anerkennend.
Kobayashi selbst nahm's wie immer gelassen zur Kenntnis. "Ich bin sehr glücklich, habe keine Worte", sagte er bei Eurosport und kündigte zumindest an, sich einen Energie-Drink seines Sponsors zu gönnen. Möglicherweise sogar mit einem Schlückchen Wodka drin.
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Dritter Tourneesieg: Kobayashi feiert mit einem Red Bull

2.) Wellinger kommt der Flow abhanden

Die Formel der diesjährigen Tournee war einfach: 2+2+2+2 ist besser als 1+3+5+5. So nämlich lauteten die Einzelergebnisse von Kobayashi und Wellinger. Die DSV-Träume zerplatzten nach verheißungsvollem Start auf den deutschen Schanzen also wieder mal in Österreich.
Paradox daran: Wellinger hatte sich im Vorfeld vor allem für Innsbruck und Bischofshofen etwas ausgerechnet. "Ich kann grundsätzlich stolz sein auf diese Tournee, auch wenn ich auf den beiden Schanzen, auf denen ich es eigentlich besser kann, es nicht ganz abrufen konnte", meinte der 28-Jährige und verabschiedete sich mit gemischten Gefühlen: "Ich bin glücklich und ein bisschen enttäuscht zugleich."
In Bischofshofen waren Wellingers Chancen schon nach dem ersten Durchgang auf ein Minimum zusammengeschmolzen. "Ein bisschen Pech" mit dem einsetzenden Schneeregen habe er gehabt, meinte der 28-Jährige zu seinem Sprung auf 132 Meter, "weil ich irgendwie 0,5 km/h im Anlauf verloren habe und so nicht das beste Gefühl beim Absprung hatte".
Um den Sieg hätte er aber auch mit einer schnelleren Anfahrt nicht mitspringen können. "Ryoyu war unglaublich gut, den hätte ich heute so oder so nicht gebogen", sagte er ehrlich; es hätte wohl "noch zwei, drei Sprünge gebraucht, bis es mit der richtigen Lockerheit ganz runter geht".
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Tolle Geste: Granerud übergibt goldenen Adler an Kobayashi

Diese war Wellinger allerdings schon nach Oberstdorf abhandengekommen. "Interessant ist, dass er in Garmisch so gut angefangen hat: Dort hat er das erste Training dominiert, aber am Wettkampftag war es schon ein bisschen Gewürge", meinte Schuster im Rückblick.
Beim Neujahrsspringen habe sich Wellinger "zwar noch auf den dritten Platz gerettet, aber dann ist irgendwie Sand ins Getriebe gekommen". Kobayashi sei dagegen "am Ende in einen richtigen Lauf reingekommen", fügte Schmitt an: "Das musst du haben, diesen Flow. Es ist dem Andi leider nicht gelungen, das über die deutschen Stationen hinaus aufrecht zu halten."
So blieb Wellinger nichts anderes übrig, als auf einen besseren Ausgang in den nächsten Jahren zu hoffen: "Es war heute nicht mein Tag, aber ich bin sicher, dass der Tag noch kommen wird."
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Versöhnlicher Abschluss: Wellinger sichert Gesamtrang zwei

3.) Ein Sieger, viele Verlierer

Halvor Egner Granerud, Dawid Kubacki, Gregor Deschwanden, Peter Prevc, Manuel Fettner, Pius Paschke, Johann André Forfang, Stephan Leyhe - die Liste der namhaften Springer, die während der Tournee mindestens einmal den zweiten Durchgang verpassten, ist lang.
Sie gehörten letztlich ebenso zu den Verlierern wie Karl Geiger auf Gesamtrang 14 und in gewisser Weise auch die vier Tagessieger Andreas Wellinger (Oberstdorf), Anze Lanisek (Garmisch-Partenkirchen), Jan Hörl (Innsbruck) und Stefan Kraft (Österreich).
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Nächster Heimsieg für ÖSV-Adler! Kraft fängt Kobayashi noch ab

Gerade im DSV und ÖSV waren die Hoffnungen vor der Tournee immens groß. Zur Erinnerung: Kraft hatte zuvor fünf von acht Springen gewonnen, die Deutschen in Person von Geiger und Pius Paschke die anderen drei. Dazu lag Wellinger im Gesamtweltcup auf Rang zwei. Am Ende drehte Kobayashi ihnen allen eine lange Nase.
"Leider haben wir das Mannschaftsziel nicht erreicht", gab Geiger unumwunden zu. "Wir sind nicht geknickt, aber ein Stück weit enttäuscht, weil wir auch endlich mal ganz oben stehen wollten", sagte auch DSV-Sportdirektor Horst Hüttel. Das Problem: "Andi hat acht gute Sprünge gemacht, aber es hätte fünf, sechs sehr gute gebraucht."
Unterm Strich fehlte Wellinger aber auch der Aufwind aus dem eigenen Lager. Schon nach Oberstdorf war klar, dass nur er 22 Jahre nach Hannawald den Tourneesieg wieder nach Deutschland holen kann. Derart exponiert zu sein, kostete in der Folge aber auch wertvolle Körner.
"Es ist eine große Bürde, die man zu tragen hat. Leider musste er sie schon ziemlich früh alleine tragen. Das macht dann schon was mit einem über die vielen Tage", sagte Geiger bei Eurosport. Wellinger könne dennoch "sehr stolz auf sich sein. Er hat es saugut gemacht."
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Geiger, Leyhe, Paschke und Raimund ziehen Tournee-Fazit

So sah es auch der Bundestrainer. "Es war eine fantastische Vierschanzentournee. Andi Wellinger hat eine gute Show geliefert und kann stolz sein auf das, was er geleistet hat", sagte Stefan Horngacher, der in Bischofshofen zumindest auch mit Paschke (8.), Philipp Raimund (14.) und Geiger (15.) zufrieden sein konnte: "Der Rest der Mannschaft hat sich deutlich verbessert. Wir gehen mit einem guten Gefühl aus der Vierschanzentournee."
Auch Eurosport-Experte Schmitt fand, dass man "nicht zu viel nörgeln" sollte - das deutsche Team zeige schließlich mit schon vier Einzelsiegen "insgesamt eine fantastische Saison. Man sieht es an den anderen Nationen: Das Pendel schlägt ziemlich schnell in die eine oder die andere Richtung aus. Die Jungs werden uns noch viel Freude machen, davon bin ich überzeugt."
Und auch wenn es am Ende nur ein schwacher Trost ist: Nationen wie Norwegen mit Marius Lindvik als Besten auf Gesamtrang neun oder Polen mit Kamil Stoch auf Platz 15 hätten gerne die deutschen (Luxus-)Probleme.
Für die DSV-Adler gilt es jetzt, die Tournee-Strapazen schnell abzuschütteln. Zeit zum Reflektieren bleibt eh wenig; ab 13. Januar steht bereits die neue PolSKI-Tour mit fünf Springen in neun Tagen in Polen an, eine weitere Woche drauf steigt schon die Skiflug-WM am Kulm in Bad Mitterndorf (26. bis 28. Januar).
Nach knapp einem Drittel der Weltcupsaison hat Wellinger außerdem als Gesamtzweiter hinter Kraft noch Chancen aufs Gelbe Trikot; 212 Punkte fehlen ihm dort momentan. "Die Form ist da, Skispringen passt, es macht Spaß und geht mir im Normalfall relativ leicht von der Hand. Das muss ich beibehalten", sagte er mit Blick voraus: "Die Saison ist noch lang. Irgendwann kommt der Tag, an dem ich wieder ganz oben stehe."
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Kraft gelöst: "Einer meiner schönsten Siege"

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