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Tour de France | Jens Voigt: Bernal muss ums Podium kämpfen

Jens Voigt

Update 08/09/2020 um 09:56 GMT+2 Uhr

Eurosport-Experte Jens Voigt blickt in seiner Kolumne zurück auf die erste Woche der Tour de France. Der ehemalige "König der Ausreißer" vermisst einen "Supersprinter" im Peloton und analysiert die Leistung von Team Ineos, das sich bisher unter Wert verkauft hat. Des Weiteren stellt sich Voigt die Frage, ob Team Jumbo-Visma mit Kapitän Primoz Roglic nicht zu viel im Wind gefahren ist.

Tour de France | Primoz Roglic - Jumbo-Visma

Fotocredit: Eurosport

Die Jens Voigt - Kolumne auf Eurosport.de
Jetzt sitzen wir hier am ersten Ruhetag der diesjährigen Tour de France mit Radsport-Entzugserscheinungen und warten sehnsüchtig darauf, dass es am Dienstag weitergeht. Es bleibt uns Zeit zu reflektieren, was wir bisher bei der Frankreich-Rundfahrt gesehen haben und was nicht.
Zwei Dinge sind mir besonders aufgefallen: Die Schwäche von Team Ineos Grenadiers um Titelverteidiger Egan Bernal und das Nichtvorhandensein eines dominanten Sprinters mit einem eingespielten Zug. Wenn wir uns an den ersten Tour-Tag mit Alexander Kristoff (UAE Team Emirates) als Sieger erinnern und Revue passieren lassen, wie er gewonnen hat, kommt man schnell drauf, dass auch der Norweger von keinem Sprintzug im klassischen Sinne profitieren konnte. Ebenso Caleb Ewan (Lotto Soudal), der von weit hinten kam und das nötige Glück auf seiner Seite hatte, als sich plötzlich passende Lücken vor ihm auftaten.

Tour de France 2020: Bester Sprinter gesucht

Am ehesten könnte man noch Wout van Aert als den besten Sprinter dieser bisherigen Tour bezeichnen. Jedoch wird der Klassiker-Spezialist sicher nicht immer die Freiheit bekommen, auf eigene Kappe zu fahren. Van Aert versammelt zwar die stärkste Mannschaft um sich, aber ohne typische Anfahrer, wie wir sie bei Deceuninck-Quick-Step sehen. Die Equipe von Patrick Lefevere stellt sicher den besten und erfahrensten Sprintzug, aber offensichtlich nicht den schnellsten Mann im Peloton.
Elia Viviani wiederum gehört zu den schnellsten im Feld und dennoch findet der 31-Jährige bei Cofidis nur wenig Unterstützung, da sich die Franzosen jetzt mehr auf die neue Klassementhoffnung Guillaume Martin konzentrieren. Der Topsprinter Viviani und der Zug von Quick-Step - eine perfekte Kombination, richtig?! Ooops, das hatten wir ja vergangenes Jahr, und zwar sehr erfolgreich, bevor man sich entschied, getrennte Wege zu gehen. Sicher schütteln derzeit beide Teams ratlos den Kopf und stellen sich die Frage: "Wie konnte das passieren?" Lasst uns mal hoffen, dass Elia bei Cofidis gut bezahlt wird - sozusagen als Schmerzensgeld, schließlich wird sich seine Situation in dieser Saison nicht mehr verbessern.
Sam Bennett hat bei Quick-Step ein schweres Erbe angetreten, denn in den vergangenen Jahren haben Sprinter wie Marcel Kittel, Mark Cavendish und Viviani, die zu Quick-Step gewechselt sind, sofort eingeschlagen und zahlreiche Tour-Etappen für sich entschieden. Zweite und dritte Plätze sind da schon eher als Niederlage zu verstehen. Entsprechend hoch wird der Druck auf Bennett sein.
Allerdings hat der wie immer zuverlässig und spektakulär fahrende Julian Alaphilippe schon die Tour für Deceuninck-Quick-Step gerettet. Die Sprint-Etappen bleiben also spannend und die Sieger schwer vorhersagbar.
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Julian Alaphilippe, hier im Gelben Trikot auf der 3. Etappe, begeistert die Franzosen auch in diesem Jahr mit seiner offensiven Fahrweise

Fotocredit: Getty Images

Tour: Team Ineos ein Schatten seiner selbst

Kommen wir zu den Favoriten in der Gesamtwertung und deren Teams. Am offensichtlichsten ist das Hinterherfahren von Team Ineos Grenadiers. Die Briten sind im Vergleich zu den vergangenen Jahren nur noch ein Schatten ihrer selbst. Einzige Ausnahme: Egan Bernal. Der Kolumbianer fährt eine solide Tour und schien zuletzt auch etwas stärker zu werden. Okay, die Ineos-Attacke im Kantenwind war sehr gut geplant, umgesetzt und großartig anzusehen.
Aber ansonsten macht es mir den Anschein: Wenn wir Ineos vorne sehen, dann aus Selbstschutz und um Stärke vorzutäuschen. Auf der 6. Etappe sind sie einmal vorne gefahren und der spätere Etappensieger Alexey Lutsenko vom Team Astana hielt den Abstand, obwohl er den ganzen Tag in der Fluchtgruppe war. Da haben sich Michal Kwiatkowski und Co. mit einer angetäuschten Attacke clever gerettet. Als die anderen bemerkt haben, dass dieses Tempo alles ist, was Ineos zu bieten hat, war das Ziel am Mont Aigoual bereits erreicht.

Tour de France: Jumbo-Visma die Mannschaft der Stunde

Die stärkste Mannschaft ist zweifelsohne Jumbo-Visma. Ich hoffe, die Niederländer sind nicht schon in der ersten Woche zu viel und unnötigerweise im Wind gefahren und verfügen noch über genug Reserven für die kommenden 14 Tage. Die Strategie ist glasklar: Tom Dumoulin wurde als Helfer eingeteilt, Primoz Roglic soll beim Finale in Paris in Gelb erstrahlen. Schließlich ist der ehemalige Skispringer der stärkste Fahrer der diesjährigen Tour.
Trotzdem wird er nicht unglücklich sein, dass sein 21-jähriger Landsmann und Hauptkonkurrent mehr als eine Minute verloren hat, als Team Ineos das Peloton im Kantenwind geteilt hat. Tadej Pogacar (UAE Team Emirates) ist einer der jungen Wilden im Peloton, hungrig und voller Tatendrang. Der Slowene ist verdammt zu attackieren, wenn er das Podium in Paris erreichen möchte.
Guillaume Martin ist bisher das Überraschungspaket der Frankreich-Rundfahrt. Der Franzose rangiert im Gesamtklassement auf Rang drei und war einer der wenigen, die im Finale von schweren Etappen mitattackiert haben. Er scheint mir stärker zu sein als Romain Bardet (AG2R La Mondiale).
Thibaut Pinot hingegen, der bei acht Tour-Teilnahmen vier Mal ausgestiegen ist und stets für jede Menge Glory und Drama gesorgt hat, spielt im Kreis der Favoriten keine Rolle mehr.
Am Col de Peyresourde nicht weiter zu forcieren, war ein großer taktischer Fehler von Nairo Quintana (Arkéa-Samsic). Der kolumbianische Kletterspezialist hatte bis auf Roglic und Pogacar bereits alle Mitbewerber um einen Podiumsplatz abgehängt. Ich wäre "All in" gegangen und hätte mir gesagt: "Heute zerstöre ich erst mal alle von Platz vier bis Platz zehn, und morgen greife ich mir das Gelbe." Quintana hatte ganz sicher die Beine - in meinen Augen eine verpasste Chance. Aber ich schreibe ihn sicher nicht ab.
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Nairo Quintana (Arkéa-Samsic) fährt bisher eine starke Tour de France

Fotocredit: Getty Images

Tour: Sagan nicht mehr der Dominator in grün

Nach der ersten Tour-Woche sage ich folgendes Podium voraus: Roglic auf Platz eins, gefolgt von Pogacar auf Rang zwei. Bernal wird Dritter. Guillaume Martin, Rigoberto Urán (EF) und Quintana sehe ich als gleichstarke Mitbewerber. Bernal wird diese Tour nicht gewinnen. Im Gegenteil: Der Vorjahressieger muss sich Gedanken machen, wie er das Rennen auf dem Podium beenden will.
Apropos Podium: Auch der Kampf um die Sprintwertung und das Bergtrikot ist noch völlig offen. In diesem Jahr wird es kein Selbstläufer für Peter Sagan (Bora-hansgrohe), das Grüne auf seinen Schultern auf die Champs-Élysées zu tragen. Dazu kam das Pech auf der 7. Etappe, als ihm die Kette ausgerechnet an dem Tag heruntersprang, an dem seine Mannschaft eine so spektakuläre Leistung vollbrachte. Dabei dachten wir alle, Peter gewinnt die Etappe und nimmt 50 Punkte für das Grüne Trikot mit.
Mein persönliches Fazit der ersten Woche: Eine Tour ohne Supersprinter, Team Ineos Grenadiers hängt in den Seilen, Jumbo-Visma hat eventuell schon zu viel Pulver verschossen, die Top-Sieben der Gesamtwertung liegen alle innerhalb einer Minute und noch kein Wertungstrikot ist entschieden. Es bleibt also spannend - in allen Belangen.
Euer Jens Voigt
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